Florian Brigg

Das Drama vom Gauligletscher

DAS DRAMA VOM GAULIGLETSCHER
 
Die Schweizer sind nicht nur für Schokolade berühmt
 
 
 
 
 
 
 
17. Januar 1946
Es ist kurz nach 23 Uhr als in der Villa an der Wiener Weimarer Straße das Telefon läutet. Der Hausherr, General Mark W. Clark, US Hochkommissar der Besatzungsmächte im Alliierten Rat der Kommission für Österreich und Oberbefehlshaber der Amerikanische Besatzungstruppen in Österreich, bereits im Pyjama und auf dem Weg ins Schlafzimmer, nimmt den Hörer ab. Am  anderen Ende der Leitung ist der Chef des Intelligence, Lt. Henry M. Murphy.
Dieser berichtet von einem Sowjetrussischen Überläufer, der mit Dokumenten und Fotos die nukleare Ausrüstung sowjetischer Flugzeuge am Flughafen Schwechat, nahe der Stadtgrenze zu Wien, unmissverständlich belegen kann. Nun ist den höheren US Militärs der Verrat der Rezeptur der A-Bombenerzeugung bekannt. In welchem Stadium sich der Bau einer einsatzfähigen Waffe in der Sowjetunion befindet, ist vorerst ungewiss.
 
18. Januar 1946
General Mark Clark verfasst einen Report an das Weiße Haus und belegt den Text mit den Fotografien der unter dem Rumpf eines sowjetischen Flugzeuges deutlich sichtbar befestigten Einzelbombe. Der Umriss und die Dimension weisen eindeutig auf eine A-Bombe mittlerer Explosionsstärke. Der General ersucht um Anweisung zur Vorgangsweise beim eventuellen Start von derart ausgerüsteten russischen Flugzeugen.
 
Die Überbringung dieser Nachricht an die Oberste US Militärverwaltung mit Sitz in Westdeutschland und die Weiterleitung an das Weiße Haus hat höchste Priorität und Eile. Das Dossier wird PVC Walther Meyers in einer versiegelten Aktentasche mit dem Auftrag übergeben, diese am folgenden Tag  zum Tulln Airbase zur Maschine nach München zu bringen. Die Tasche sei dem Piloten, Captain Ralph Tate persönlich auszufolgen und der Empfang zu quittieren.
 
19. Januar 1946
PVC Meyers übernimmt einen Dienst-Jeep in der Stiftskaserne und macht sich auf den 30 km langen Weg nach Tulln entlang der Bundesstraße 1, der damals wichtigsten Ost-West Verbindung Österreichs. Der Straßenabschnitt von der Wiener Stadtgrenze bis nach Tulln bildet einen von der Niederösterreich regierenden sowjetischen Besatzungsmacht eingerichteten Korridor für den freien Verkehr von US amerikanischen Personal. Das Wetter lässt zu wünschen übrig und als PVC Meyers den Riederberg erreicht, bedeckt bereits eine cm-dicke Schneedecke die Fahrbahn. Der Soldat stammt aus Miami und hat nach seiner Einberufung und Stationierung in Österreich das erste Mal in seinem 21jährigen Leben Schnee auf Straßen erlebt. Dem entsprechend ist seine Erfahrung mit Autofahren auf einer slippery dangerous road, wie es auf einem Warnschild auf der Riederberg Höhe zu lesen ist. 
 
Und so kommt eines zum anderen: der Jeep von PVC Meyers gerät ins Rutschen und prallt gegen einen entgegenkommenden US Lastwagen. Die Insassen, Floyd Sullins und Harald Green finden den Fahrer des Jeeps bewusstlos, verladen ihn auf den Lastwagen und fahren im Eiltempo nach Wien in das 110th US Army Hospital, wo an Meyers eine Schädelverletzung unbekannten Grades als Ursache der Bewusstlosigkeit diagnostiziert wird. Er verbleibt vorerst im stationären Bereich. Der behandelnde Arzt verschließt vorsorglich die versiegelte Tasche aus dem Besitz des Patienten in seinem Spind, wo er sie infolge mehrerer auf einander folgenden  Unfallbehandlungen am selben Tag auf seiner Station vergisst. 
Zeitgleich wirft Captain Ralph Tate die Motoren der Douglas C-53 Dakota am Tulln Airbase an. Er hat die vom tatsächlichen Geschehen abweichende Instruktion erhalten, einen Passagier mit höchster Sicherheitsstufe nach München zu fliegen. Namen kennt er keinen. Aber es sind neben den vier Besatzungsmitgliedern noch weitere acht Passagiere an Bord, darunter Colonel V. McMahon mit Frau und 11-jähriger Tochter Alice, sowie George Harvey, Fallschirmspringer und Angehöriger des amerikanischen Nachrichtendienstes.
 
Das Flugwetter könnte schlechter nicht sein. Captain Tate kämpft beim Abheben seiner Maschine gegen Sturm und prasselnden Regen, unter den sich ab einer gewissen Höhe Schnee mischt. Infolge der Wetterkapriolen entschließt sich Captain Tate, den Kurs zu ändern und wählt eine etwas südlichere Route, um über Norditalien und die Schweiz Süddeutschland ruhiger anfliegen zu können. Ein riskanter Entscheid, muss er nun, wenn auch bei windstillem Wetter, jedoch stetem, sichtbehinderndem  Schneefall die Alpen durchsteuern. Sein Instrument zeigt eine Flughöhe von 9000 ft. Das liegt um die 3000 m, aber das ist auch die Höhe der umgebenden Berggipfel.
 
Ein gewaltiger Stoß lässt die Kabine der Dakota erzittern. Passagiere und Crew werden durcheinander gewirbelt. Angst macht sich an Bord breit. Und das nicht ohne Grund. Nach eineinhalb Stunden Flug ist plötzlich kein Motorengeräusch mehr zu vernehmen. Fatale Stille. Stürzt die Maschine ab? Wieso verbleibt der Rumpf in horizontaler Lage? Der Passagier Harvey klinkt seiner Nachbarin geistesgegenwärtig den Fallschirm ein und schiebt sie durch den Notausgang. Doch statt in die Tiefe fällt die Frau bloß wenige Zentimeter  in den die Maschine umgebenden Tiefschnee. Captain Tate hat im sichtbehindernden Schneegestöber unwissentlich eine Bruchlandung in einem Gletschergebiet ausgeführt. Es ist 15.46 Uhr auf dem Chronometer des Piloten.
Nach dem ersten Überblick über den Schaden an der Maschine und den Verletzungen der Crew und der Passagiere, die sich glücklicherweise als gering erwiesen, setzt Captain Tate das Notsignal ab. Dieses wird von den Flugplätzen Paris-Orly und Marseille-Istres empfangen und quittiert.
 
20. Januar 1946
Die Insassen der verunglückten Dakota haben eine unruhige Nacht verbracht. Nach dem neuerlichen Versorgen der Verletzungen macht sich der Captain Gedanken über die Position der bruchgelandeten Maschine. Nach dem Erhalt der Bestätigung des Empfanges seines Notrufes durch zwei französische Funkstationen wähnt er sich im Bereich der französischen Alpen. Dies gibt er während weiterer Notrufe an und löst dadurch eine Suchaktion von zwei Boeing B-17 und Boeing B-29 aus, die naturgemäß erfolglos bleibt.
 
Bei minus 14 Grad C müssen sich Crew und Passagiere der verunglückten Dakota auf eine weitere Nacht des Wartens einrichten. Besorgt blickt der Pilot auf die Anzeige des Ladegrades der Batterien, die sein Funkgerät speisen.
 
Hauptmann Victor Hug, Chef des schweizerischen Militärflugplatzes Meiringen-Unterbach im Berner Oberland verfolgt ebenfalls die Signale. Ihm fällt deren Klarheit auf, was für ihn einen Unfall in der Nähe bedeutet
 
21. Januar 1946
Hauptmann Hugs Vermutung sollte sich bestätigen. Der triangulären Standortbestimmung zufolge müsste das Wrack im Dreieck Airolo-Sion-Jungfrau liegen. Bestätigt werden diese Angaben durch eine das Gebiet zufällig überfliegende B-29 aus 5000 m Höhe und später durch Hug selbst, der trotz schlechten Wetters mit einer wendigen C-35, einem 2-sitzigen Mehrzweckflugzeug in Doppeldeckerausführung, ins Urbachtal gelangt und die Dakota schräg oberhalb des auslaufenden Gletschers orten kann. 
 
22. Januar 1946
Nachdem der Unfallort nun bekannt ist, wird die bislang größte Rettungsaktion in den Alpen ausgelöst. Diese nimmt zeitweise bizarre Formen an. Die US Army schickt zwei komplett ausgerüstete Rettungszüge in die Schweiz, die aber wegen der Schmalspurstrecken der Bahn in Interlaken nicht weiter können. Das US Einsatzkommando hat eine unklare Vorstellung einer Rettungsaktion im winterlichen Hochgebirge. Man denkt, mit Jeeps, Raupenfahrzeugen oder Lastenseglern das Wrack erreichen zu können. Vom Vorschlag der Schweizer Alpinisten, die abgestürzte Maschine in Fußmärschen zu erreichen, halten die fahrzeuggewohnten Amerikaner wenig.
Aber es werden Flugzeuge organisiert, die an der unmittelbaren Absturzstelle Hilfspakete abwerfen. Viele davon landen in Gletscherspalten oder rutschen in dem steilen, eisigen Gelände talabwärts. Als ein abgeworfener Sack mit 60 kg Kohle das Wrack an einer Tragfläche trifft, stampft Pilot Tate das Wort  F I N I  in den Schnee, um weiteres Abwerfen von schweren Lasten, die möglicherweise die rettende Kabine treffen könnte, zu verhindern.
 
 
23. Januar 1946
Bei einem weiteren Erkundungsflug wird festgestellt, dass sich die Unglücksmaschine nicht nordwestlich, sondern südlich des Rosenhorns auf dem oberen Teil des Gauligletschers befindet. Dies bedeutet für die bereits auf dem Weg befindliche schweizerische Rettungskolonne eine mehrstündige Verlängerung des kräfteraubenden Anmarsches. Nach einem mühsamen Aufstieg von über 13 Stunden in Eis und Schnee erreicht der Trupp die Abgestürzten. Für eine Bergung der Unfallopfer am selben Tag ist es zu spät und die Kräfte der Retter nicht mehr ausreichend. Sie müssen die Nacht bei minus 15°C in Biwak-gerechten Schlafsäcken zubringen.
 
24. Januar 1946
Der Abstieg Richtung Gaulihütte kann beginnen, erschwert durch eine nicht funktionierende Funkverbindung zum Tal.
 
Um 10.20 Uhr gelingt es zwei Piloten der Schweizer Luftwaffe mit zwei Maschinen vom Typ Fieseler Storch, die in Eigeninitiative mit Schneekufen ausgerüstet wurden, neben den Rettungsmannschatten auf dem Gauligletscher zu landen. Mit neun Flügen können die Verunglückten nun ins Tal geflogen werden.
 
Die bravuröse Rettungsaktion wird schnell bekannt. Reporter und Vertreter namhafter Zeitungen, ausgerüstet mit Mikrofonen und Fotoapparaten erwarten im Tal bereits die Geretteten zu ersten Interviews.
 
Einer der Schweizer Piloten übergibt vor dem Talflug Captain Tate einen Funkspruch vom Hauptquartier der USFA, dem zu Folge das Flugzeugwrack zu sprengen wäre. Vermutlich wurde dieser Funkspruch aus Sorge über den Verbleib der versiegelten Tasche und deren brisanten Inhalt abgesetzt, die sich jedoch in einem Spind im US Armeespital in Wien befindet. Aus Unverständnis des Piloten, aber auch mangels Sprengmaterial unterbleibt diese Handlung. Was war geschehen?
 
PVC Meyers, der Unglückschauffeur des Jeeps am Wege zur Tulln Airbase ist aus seiner Ohnmacht erwacht und fragt nach dem Dossier. Dieses gelangt nun fünf Tage später zurück zu Oberbefehlshaber General Mark Clark, der seinen Bericht über die nuklear-ausgerüsteten russischen Flugzeuge längst im Weißen Haus wähnt.
Was dieser hochverdiente General nicht weiß: auf diplomatischem Weg haben sich die Vereinigten Staaten und Sowjetrussland über den Abzug der vom Intelligence bereits identifizierten bedrohlichen Flugzeuge vom Flugplatz Schwechat längst geeinigt.
 
Danach
Die Rettungsaktion am Gauligletscher ist eine aus der Not geborene Pionierleistung und markiert den Beginn der Luftrettung. Diese Entwicklung führt 1952 zur Gründung der Schweizerischen Rettungsflugwacht, einer Einrichtung, die von vielen alpinen Staaten im Lauf der Zeit übernommen wird.
 
Gegen Ralph Tate wurde eine Untersuchung eingeleitet. Ihm wurden Navigationsfehler vorgeworfen. Er konnte jedoch seinen Pilotenschein behalten. Allerdings erhielt er eine milde Strafe wegen Verletzung der Flugdienstvorschriften. Er wurde zwar nicht General, aber es reichte noch zum Major des Military Air Transport Staff.
 
Die US Amerikanische Regierung vergütete großzügig sämtliche, mit der Rettung auf dem Gauligletscher angefallenen Kosten der Schweiz.
 
General Mark W. Clark kehrte nach Ende der Besatzung Österreichs 1955 in die Staaten zurück. Die letzten Jahre seines Lebens widmete er der Präsidentschaft der American Battle Monuments Commission. Er verstarb 1984 und wurde in The Citadel in Charleston beigesetzt.     
 
Und PVC Meyers, der Unglücksfahrer vom Riederberg? Er lernte während der Besatzungszeit ein österreichisches Mädel kennen, heiratete und zog mit ihr nach Tirol. Dort eröffnete das Paar die „American Ski Training School“. Er selbst stand nie auf Skiern. „Snow gives me the creeps“  pflegte er zu sagen.  (Schnee macht mir Angst)
 
Man kann es verstehen! 
 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.01.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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