Patrick Rabe

Ecce Homo

 
Oft habe ich darüber nachgedacht, was im Johannesevangelium mit Pilatus`Ausspruch „Ecce Homo“ (Siehe: der Mensch) gemeint sein könnte. Da ich große Teile des Johannesevangeliums bild- und gleichnishaft auffasse, scheint mir auch dieser Satz gleichnishaft. Pilatus führt Jesus der Volksmenge vor, im Purpurmantel, mit Dornenkrone und blutiggepeitscht und sagt: „Siehe: der Mensch!“ Ist Jesus in diesem Moment Abbild des Menschen schlechthin? Erhöht durch seine Erniedrigung und/oder erniedrigt durch seine Erhöhung? Ein König zwar, aber ein König der blutigen Schmach und des Leides? Mag sein, dass der Mensch die Krone der Schöpfung ist. Aber vielleicht ist dieser Titel ja gar keine Auszeichnung, sondern ein Fluch und eine Bürde?
 
Das Geheimnis des Schicksals des Menschen wird durch drei mythologische Gestalten gezeigt, die mehr oder weniger in negativem Licht dastehen. Dem hebräischen Luzifer, dem griechischen Prometheus und dem germanischen Loki. Allen drei ist gemeinsam, dass sie zunächst bei Gott/den Göttern waren, sich dann aber gegen diese aufgelehnt haben. Luzifer wurde dafür aus dem Himmel geworfen, Prometheus und Loki an Felsen geschmiedet. Man sollte auch nicht vergessen, dass Luzifer „Lichtbringer“ heißt, und das Prometheus den Menschen das (von den Göttern gestohlene ) Feuer gebracht hat. Das ist zunächst ein positiver Aspekt, der für Fortschritt steht, und bringt diesen Gestalten zumindest eine ambivalente Betrachtungsweise ein. So stehen diese drei Aufrührer für den Aspekt der Selbsterhöhung, des Widerspruches gegen die göttliche Ordnung. Das Geheimnis des Beginnes und der Aufgabe des Menschengeschlechtes liegt für mich in diesem Faktum. In irgend einer Urzeit muss es so einen Widerstand in der göttlichen Welt gegeben haben, der zum Abfall eines Teils der göttlichen Energie führte. Vielleicht hat dieser Teil – wie Prometheus – freiwillig den Himmel verlassen (den Zustand der Einheit und der Harmonie), um etwas eigenes auf die Beine zu stellen, oder den Menschen das Feuer (das Licht der Erkenntnis) zu bringen. Als Konsequenz davon wird er in die Hölle verbannt, bzw. an den Fels (der Materie) geschmiedet. Ja, der Mensch ist an die Materie und ihre Gesetze gefesselt, und mit dieser Materie muss er auch sterben. So scheint die Abspaltung vom Göttlichen die Voraussetzung für die Menschwerdung zu sein. Die Menschwerdung ist eine Chance der Selbstverwirklichung aber auch eine Versklavung an die Materie und ihre Gesetze. Die Bibel nennt das Sünde. So ist der Mensch Krone der Schöpfung. Er hat die Möglichkeit, dank seiner Begrenzung in der materiellen Welt ein individuelles Potenzial zu entfalten, ist in gewisser Weise durch genau diese Beschränkung aber auch ein Gefangener. Ist es nicht merkwürdig, wie Erhöhung zu Erniedrigung und Expansionswille zur Beschränkung führt? Aber nur in der Beschränkung ist Bewegung, ist Entwicklung möglich! Dem Menschen, der sich frei entfalten kann, wird wohl kaum die Zwiespältigkeit seiner Lage zum Bewusstsein kommen. Erst der Mensch, der über seiner Situation scheitert und ins Wanken gerät, wird beginnen, sich nach Erlösung zu sehnen, nach wieder-eins- werden mit dem Göttlichen, von dem er getrennt ist.
 
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn drängt sich auf: Noch ein Bildnis für das Schicksal der Menschheit. Vom Vater weggegangen, sein eigenes Leben gelebt, das Erbe verprasst und als Schweinehirt geendet. Daran wird deutlich: Der Weg der Individualisierung, der Menschwerdung, wird irgendwann an diesen Punkt des Scheiterns führen. Das ergibt sich wiederum aus der Beschränktheit, sie weist uns irgendwann in unsere Schranken, führt uns an Grenzen. Und das ist der Moment der Umkehr, der Bitte: „Vater, reich mir deine Hand:“ An diesem Punkt steht der gegeißelte Christus. Ecce Homo! Durch die Selbsterhöhung ist der Mensch erniedrigt worden. Jetzt muss er diese Niedrigkeit, sein Kreuz, und letztendlich auch seinen (metaphysischen) Tod bewusst auf sich nehmen, um zur Erlösung zu gelangen, zur erneuten Erhöhung. Dass Erniedrigung und Erhöhung zwei Seiten einer Münze sind, dass beide voneinander abhängen, ist das zugrunde liegende Geheimnis.
 
Wer mit seinem Erleiden der Gottesferne zum äußersten Punkt gelangt ist, wird rufen können: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Dann muss er ganz sich ergeben. Der Tod muss erlitten werden, der „tote Punkt“ muss überwunden werden, dann wird es besser. Man kennt das aus vielerlei Erfahrung. Wer das Dienen gelernt hat, wer wieder unter dem Gesetz steht, wird merken: das ist das Beste für ihn. Aber durch die Erfahrung des Aufstandes, des Weggehens, ist der verlorene Sohn reifer geworden und wird vom Vater um so freudiger willkommen geheißen und gegenüber dem zu Hause gebliebenen Sohn erhöht.
 
Dieses ist – so glaube ich – das Geheimnis des Ausspruchs „Ecce Homo“.
 
Patrick Rabe, in den ersten Märztagen 2004 im Krankenhaus Eilbek.



Liebe Freunde, man lernt ja nie aus. Dass die Luther-Übersetzung, die Pilatus sagen lässt: "Seht, welch ein Mensch!" falsch ist, wusste ich 2004 schon. Jedoch, dass gar nicht Pilatus, sondern Jesus das "Ecce Homo!" sagt, war mir damals noch nicht klar. Man kennt es halt aus unzähligen Jesus-Filmen, dass Pilatus diese Worte spricht. Ich möchte euch kurz den Wortlaut dieser Bibelstelle nach der sehr genauen Elberfelder Übersetzung zukommen lassen:

"Und Pilatus ging wieder hinaus und spricht zu ihnen: "Siehe, ich führe ihn zu euch heraus, damit ihr wisst, dass ich keinerlei Schuld an ihm finde." Jesus nun ging hinaus und trug die Dornenkrone und das Purpurgewand. Und er spricht zu ihnen: "Siehe, der Mensch!""

Ja, genau! Siehe! Die vielen millionen Bibelgewohnheitstiere, die so sehr in der Tradition der traditionellen Überlieferung stehen, dass sie gar nicht mehr genau hinlesen, ich natürlich inklusive! Wer dieses Zitat aufmerksam liest, wird zweifelsfrei feststellen können, dass Jesus und nicht Pilatus "Siehe, der Mensch!" sagt. Was meine mystische Deutung des Johannesevangeliums eher noch unterstreicht...

Ein paar Worte noch zum letzten Absatz meines Aufsatzes: Ich war damals von echter Demut noch ein Stück entfernt und im Schreiben dieses Textes sehr stark inspiriert von dem esoterischen Psychologen Thorwald Dethlefsen. Der Gedanke, dass man durch die Rückkehr zu Gott sich wieder dem Gesetz unterstellt und "dient" ist zwar von einem gewissen Standpunkt her richtig, aber nur dann, wenn man das Gesetz der Liebe damit meint. Die Opfertat Christi befreit uns ja gerade vom Befolgen komplizierter, von außen kommender Gesetze und weist uns den Weg zu unserem ur-innersten Gesetz, der Liebe. Bei Jeremia lesen wir eine Beschreibung dieses "neuen Bundes":

"Siehe, die Tage kommen(...)da schließe ich einen neuen Bund mit dem Haus Israel und dem Haus Juda. (...) Den alten Bund haben sie gebrochen (...) Ich werde mein Gesetz in ihr Inneres legen und werde es auf ihr Herz schreiben. Und ich werde ihr Gott sein, und sie werden mein Volk sein. (...) Denn ich werde ihre Schuld vergeben, und an ihre Sünde nicht mehr denken."

Lieben Dank für eure Aufmerksamkeit,

Patrick Rabe


 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.02.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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