Helga Sievert

Wenn Eiszapfen weinen

 

Eines bitterkalten Winters, im hohen, hohen Norden, hing ein Eiszapfen an einer schönen Tanne. Der Eiszapfen hing so vor sich hin,
schaute die kalte, schneebedeckte, eintönige Landschaft an und klirrte bei jedem Windhauch leise.

„Ach, ist mir langweilig,“ seufzte er nach einigen kurzen, grauen Tagen und langen kalten Nächten. „Mir ist ja soooo langweilig, wenn
doch nur mal etwas passieren würde...“

Da kam ein kleines Wunschzettelengelchen, mit wunderschönen, in allen Farben glitzernden, Flügeln, auf dem Weg zu den Menschen,
vorbei, hörte sein Seufzen und setzte sich auf einen schneebedeckten Ast neben ihn.

„Wieso ist dir langweilig?“ fragte es „Mir ist so kalt und alles ist so trübe um mich herum, nur Schnee und Eis, keine Farben. Ach, könnte
ich doch wenigstens so strahlen und glitzern wie deine Flügelchen, dann wäre die Welt viel schöner,“ antwortete er gefrostet.

Das Wunschzettelengelchen überlegte eine Weile und erzählte dem Eiszapfen, dass er auf den Frühling warten solle, dann würde sein
Wunsch in Erfüllung gehen. Es flog davon, glitzerte von Weitem noch ein wenig und war verschwunden.

Der Eiszapfen aber überlegte und überlegte, denn er wusste nicht was Frühling war und schaute sich eisig um ob denn da wohl gleich
einer käme, der Frühling sei. Doch er wartete und wartete, schaute jeden Tag fröstelnd die Gegend ab, doch keiner kam, der ihm seinen
Wunsch erfüllte. Die Tage wurden langsam länger und die Nächte kürzer und noch immer hing der Eiszapfen klirrend kalt am Ast und
langweilte sich weiter.

Dann, eines Tages, erschien am Himmel die Sonne, schickte ihre Strahlen zur Erde und traf dabei auch auf den Eiszapfen. Sofort fing er
an zu strahlen, zu glitzern und zu funkeln - fast so schön wie die Flügel des kleinen Engels. Er freute sich sehr und fing an, sich selber zu
bewundern und am liebsten hätte er laut gerufen: „Schaut her, wie schön ich bin! Bin ich nicht der schönste Eiszapfen, den ihr je gesehen
habt?“ Aber es war keiner da, der ihm zugehört hätte, und so genoss er still vor sich hin.

Die Sonne kam nun jeden Tag und schickte ihre Strahlen zu ihm. Da wurde ihm ganz seltsam zumute und eine kleine Angst überkam ihn.
So ein wärmendes Gefühl hatte er noch nie in seinem langen Eiszapfenleben erlebt und er merkte, wie sich in ihm etwas änderte und löste.
Die Sonne schien und schien, da fing der Eiszapfen an zu weinen und jede Träne, die sich löste, fiel glitzernd und funkelnd zu Boden, so
dass es eine wahre Freude gewesen wäre, wenn der Eiszapfen dabei nicht klein und kleiner geworden wäre. Als er das bemerkte, weinte
er noch mehr und schnell und schneller flossen die Tränen wie Diamanten funkelnd auf den Boden. Und plötzlich war er nicht mehr da und
der Frühling hatte seinen Einzug in das Land im hohen, hohen Norden gehalten, was wunderschön war und alle Wesen in diesem Land
glücklich machte.

Wenn du also einen Wunsch hast, überlege sehr gut, ob er auch zu dir passt, denn er könnte in Erfüllung gehen.

C Helga Sievert-Rathjens

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.02.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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