Christa Astl

Der "wilde Mann"

 

 
Es waren einmal zwei Kinder, die hatten keine Eltern mehr und wohnten allein in einem kleinen Haus. Da sagten sie: „Wir wollen uns die Welt ansehen“. Sie sperrten die Türe zu, nahmen den Schlüssel mit und gingen hinaus auf die große Landstraße.
Sie wanderten  durch Dörfer und Städte. Am Abend kamen sie in einen großen, dichten Wald. Da sahen sie ein Licht durch die Bäume scheinen. Weil sie müde waren, beschlossen sie, zu diesem Haus, dessen Fenster sie sahen, zu gehen. Sie klopften, und eine alte Frau öffnet ihnen. „Können wir über Nacht bei dir bleiben, hast du vielleicht ein Bett für uns?“, fragten die Kinder. „Ja“, sagte die Frau, „ich habe zwölf Zimmer, ihr könnt zwölf mal hier schlafen“. Und sie führte die Kinder die Treppe hinauf, wo viele Türen in viele Zimmer führten. Die Kinder waren müde und legten sich in das erste Zimmer, wo zwei weiche Betten standen. Am nächsten Tag führte die Frau sie in das zweite Zimmer, am dritten Tage in das dritte und so weiter, bis die zwölf Tage um waren. Da fragten die Kinder: „Warum müssen wir nun fort, du hast ja doch noch ein Zimmer?“ -  „Das dreizehnte Zimmer dürft ihr nicht betreten, das gehört meinem Mann. Wenn ihr da hinein geht, wird es euch schlecht ergehen“.
Aber die Kinder waren so neugierig, dass ihnen das dreizehnte Zimmer keine Ruhe mehr ließ. Und als die Frau in den Wald gegangen war um Pilze zu sammeln, öffneten sie die verbotene Tür. Und was glaubst du, was da drinnen war? Eine goldene Kutsche mit zwei schwarzen Pferden davor! „Mit der wollen wir ein wenig spazieren fahren!“ riefen die Kinder. Sie kletterten in die Kutsche, der Bub ergriff die Zügel, und die schwarzen Pferde rasten los; aus dem Haus, aus dem Wald, durch fernes, weites Land. Den Kindern gefiel es, wie der Wind durch ihre Haare fuhr, wie Häuser und Bäume an ihnen vorbei flogen, so schnell waren sie unterwegs.
Plötzlich hörten sie hinter sich lautes Schreien und Fluchen. Und als sie zurückblickten, sahen sie einen wilden Mann auf einem feuerroten Pferd hinter ihnen her reiten. Immer näher kam er und die Kinder hatten große Angst. Denn das war der Mann, dem die goldene Kutsche und die schwarzen Pferde gehörten. Da fiel den Kindern ein alter Zauberspruch ein, den sie von ihrer Mutter gelernt hatten und sie riefen: „Federleicht und eisenschwer, jetzt siehst du mich nicht und dann nicht mehr“. Da waren die Kutsche, die Pferde und die Kinder verschwunden, und am Wegesrand wuchs ein Hollerbusch mit weißen Blüten und zwei kleine Vöglein saßen darauf und sangen nach Herzenslust. Der wilde Mann jagte an ihnen vorbei.
Als er weit genug entfernt war, sagten die Kinder ein anderes Zaubersprüchlein: „Schweres Eisen, leichte Feder, und nun sieht uns wieder jeder“. Da sah man sie wieder, wie sie in der Kutsche saßen und fröhlich durchs Land weiter fuhren.
Bald aber kehrte der wilde Mann zurück und sie hörten ihn wieder von weitem schimpfen und fluchen. Wieder sagten sie ihren Zauberspruch: „Federleicht und eisenschwer, jetzt siehst du mich und dann nicht mehr.“ Dieses Mal stand ein Haselnussstrauch mit vielen Nüssen am Wege, unter dem zwei Mäuschen saßen und der wilde Mann ritt daran vorbei. Die Kinder zauberten sich wieder zurück, indem sie das Sprüchlein sagten: „Schweres Eisen, leichte Feder, und nun sieht uns wieder jeder“. Und sie freuten sich, dass sie dem wilden Mann wieder entkommen waren.
Doch der wilde Mann gab seine Verfolgung nicht auf. Bald nahte er wieder in riesigen Sprüngen. Voller Angst riefen die Kinder: „Federleicht und eisenschwer, jetzt siehst du mich und dann nicht mehr!“ Und wieder waren die Kinder verschwunden und statt ihrer war da ein Fluss, an dessen Ufer zwei Enten schwammen und über den eine Brücke führte. Der wilde Mann sprengte in vollem Galopp über die Brücke.
Aber die Brücke zerbrach unter seinem Gewicht und ließ ihn in den tiefen Fluss fallen. Das reißende Wasser nahm ihn mit sich fort, so dass er nie mehr gesehen wurde.
Die Kinder warteten einige Zeit und riefen wieder ihr Zaubersprüchlein. „Schweres Eisen, leichte Feder, und nun sieht uns wieder jeder!“ Da erschienen die Kinder wieder und die beiden schwarzen Pferde, aber die goldene Kutsche war kaputt. So stiegen die Kinder auf die Pferde und ritten weiter, und es dauerte nicht mehr lange, bis sie heim zu ihrem Haus kamen. Die schwarzen Pferde verkauften sie und lebten von dem Geld glücklich und zufrieden. Und wenn sie nicht gestorben sich, so leben sie noch heute.
 
 
ChA 11.02.2011 (Nach einem russischen Märchen)

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