Andreas Vierk

Standortbestimmung


 
 
 
Als ich im Jahr 2014 in der Porzellanstadt Meißen einen Trilobiten erstand, musste ich mir einmal mehr die Frage stellen, ob wir wirklich der Gipfelpunkt der Schöpfung sind. Spirituell mag das sein. Physisch sind wir kaum in der Lage, uns ohne Kleidung und Unterkunft gegen das Wetter zur Wehr zu setzen, für dessen fortgesetzte Wärmeperiode wir möglicherweise unbeabsichtigt verantwortlich sind, da unsere Kühe uns das Klima dankenswerterweise erträglich pupen. Genetisch sind wir mit den Obstfliegen näher verwandt als mit irgend einem anderen Lebewesen, und ein Genom mehr würde uns flugs in eine Art Monsterkartoffelpflanze verwandeln.
Um unsere zeitliche Standortbestimmung auszumachen, muss ich etwas weiter ausholen: Die Erde ist circa 4,6 Milliarden Jahre alt, eine Zeit, von der wir uns auch bei größter Denkanstrengung keine Vorstellung machen können. Dieser Planet war ungefähr die Hälfte seines bisherigen Daseins eine glühende Kugel. (Also, liebe Kinder, Finger weg!) Paläontologen konnten Leben schon vor 2,9 Milliarden Jahren ausmachen. Der Satz bedeutet natürlich, dass es zu dieser Zeit vermutlich Leben gegeben hat, nicht, dass damals schon Paläontologen gelebt hätten. Allerdings wurde der Gründer der „Hare-Krishna-Gemeinschaft“ nicht müde zu behaupten, in der Vorzeit wäre der einzelne Mensch über einhundert  tausend Jahre alt geworden…
Zu dieser Zeit gab es noch kein Land, sondern der ganze Planet war ein einziger Ozean aus Süßwasser. Auch dies klingt paradiesisch, ist aber real. Der heutige Salzgehalt der Meere ist vermutlich das Resultat mehrerer katastrophaler Komenteneinschläge, die jedesmal fast alles Leben bis auf einen geringen Rest ausgelöscht haben. Auch die Atmosphäre war damals eine andere als heute, da die jetzige das Ergebnis der Sauerstoffumwandlung auf Grund des Atems der Landpflanzen ist. Um sich die Atmosphäre vor etwa zwei Milliarden Jahren vorstellen zu können, verlängere man durch einen Schlauch das Auspuffrohr eines Autos ohne Katalysator, leite den Schlauch während der Fahrt ins Innere und fahre etwa fünf Kilometer. Das kommt der damaligen Atmosphäre im Wesentlichen gleich. Um das Ergebnis noch plastischer werden zu lassen, versuche man, ein Feuerzeug zu bedienen, so man noch lebt. (Liebe Kinder, bitte nicht nachmachen!)
Der Mensch der Gattung Homo Sapiens hat bislang keine 50.000 Jahre auf Erden gelebt. Gegenüber zwei Milliarden ist das weniger als ein Vierzigtausendstel der Geschichte des Planeten, also nicht das Siebtel, als das die Bibel den Menschen gern sehen möchte.
Unser nächstes Eckdatum ist eine Zeit, die vor etwa 543 Millionen Jahren anbricht. Man nennt diese Zeit üblicherweise die „Kambrische Explosion“. Frühere Paläontologen fanden vor dieser Zeit kein Leben mehr. Es scheint in den Vorformen all seiner späteren Arten auf einmal entstanden zu sein. Jetzt erst tauchen vor dem Auge des Forschers eindeutige Fossilien auf. Das liegt daran, dass sehr viele Arten praktisch auf einmal (also innerhalb weniger Millionen Jahre) die einzigen beiden Grundstoffe aus sich selbst entwickeln, die letztendlich fossilierbar sind: Kalzium und Fluor, also die Stoffe, die für Panzer, Exoskelette, Endoskelette, Mandibeln, Klauen, Zähne und ähnliches verantwortlich zeichnen. Es ist als pflanze ein Gärtner Blumen verschiedenster Art, weil er weiß, dass diese in einer bestimmten Jahreszeit gleichzeitig blühen werden. Nüchterner könnte man die Kambrische Explosion mit dem Wort „Metamutation“ ausdrücken.
Ich komme nun zu dem Erwerb meines Trilobiten zurück, der wohl vor circa 358 Millionen Jahren versteinert wurde. Er ist ungefähr so groß wie eine Biene und sieht einer Assel entfernt ähnlich. Trilobiten starben mit all ihren Arten und Unterarten vor etwa 300 Millionen Jahren aus, nachdem sie den Wasserplaneten Erde etwa ebenso lang bevölkert hatten, also etwa 6000 Mal länger als der Homo Sapiens (von dessen Daseinszeit etwa 40.000 Jahre auf die Steinzeit fallen und 5000 auf das Zeitalter der Zivilisation).
Übrigens geht man davon aus, dass es ebenso Trilobiten mit langen Stacheln gegeben haben muss, wie vielleicht farbige Exemplare oder sogar phosphoreszierend leuchtende. Früher stellte man sich die sehr lange nach ihnen lebenden Dinosaurierarten plump und etwas dämlich vor, während man heutzutage „Reportagen“ zu sehen bekommt, die nicht nur tricktechnisch sensationell sind, sondern auch viele Saurier wie übergroße Laufvögel aussehen lassen, die ihre Weibchen in Explosionen grellster Farben anbalzen. Die Wahrheit mag wie so oft in der Mitte liegen, trotzdem kann man nicht nur behaupten, Gott würfle nicht, sondern auch, dass er es nicht nötig hatte, jemals zu experimentieren. Aber von den vergleichsweise modernen Sauriern zurück zu ihrem fernen Urahnen, den Trilobiten.
Die Versteinerung eines Trilobiten muss nicht zwangsläufig von einer Katastrophe wie dem Tod des einzelnen Lebewesens künden – es kann auch ein Häutungsrest sein. Mein Trilobit mag vielleicht sogar gewusst haben, dass ich seinen Panzer eines fernen Tages in einem Geschäft in Meißen erstehen würde. Er ist also sozusagen ein prophetischer Trilobit. Das ist natürlich ein Scherz. Vielleicht war ich auch selber dieser Trilobitenprophet und wusste zudem um meine spätere Reinkarnation als Mensch. Welch kapriziöses Vermächtnis, sich die eigene Haut zu hinterlassen! Falls ich Sie in dieser Zeit gebissen oder angeknabbert haben sollte, bitte ich um Verzeihung.
Warum wird eigentlich in allen Religionen, die von Reinkarnation wissen, behauptet, Wiederverkörperungen verliefen linear in der Zeit? Jedes zwischen den Epochen springende Wesen hätte das Potential die Zeitlinie zu verändern, so dass es letztendlich ein Gewirr aus Zeitlinien geben würde.
Es wird von ernstzunehmenden Physikern behauptet, das Universum hätte kein Außen. Ein Universum von der Größe einer Walnuss wäre somit genauso unendlich, wie das All, das wir letztendlich bewohnen. Auch mag es nicht nur ein Universum geben, sondern in letzter Zeit denkt man über „Multiversen“ nach, die sich wohl gegenseitig durchdringen. Damit ist unsere Standortsuche wieder im Chaos angelangt. Laut der offiziellen hinduistischen Religionsphilosophie ist dieses Chaos eine Art Schleier, hinter dem sich das wahre Sein, das Transzendente verbirgt. Diese Erkenntnis ist im menschlichen Geist gewachsen. Spirituell gesehen ist er die Krone der Schöpfung. Zumindest auf diesem Planeten.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 08.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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Andreas Vierk schreibt seit seinem zehnten Lebensjahr Prosa und Lyrik. Er verfasste die meisten der Gedichte des „Septemberstrands“ in den Jahren 2013 und 2014.

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