Sven Eisenberger

Winter Adé...

Unter großer Mühe hatte Rudy erstmals seit Wochen wieder einige Zeilen zu Papier gebracht, für seine Dissertation, die er in diesem Leben wohl nicht mehr zu einem glücklichen Abschluss würde bringen können, wie er glaubte. In der Vergangenheit hatte er mit seinen pessimistischen Prognosen meistens richtig gelegen, zuweilen sogar Gefallen am Geschäft des fröhlichen Scheiterns gefunden, das erstaunlicherweise stets eine beachtliche Optimende abgeworfen hatte: je stärker das Empfinden des eigenen Versagens in ihm aufstieg, um so mehr wurde er in dem Glauben an seine Fähigkeiten und in seinem Optimismus, „es doch noch zu schaffen“, bestärkt. Aber wie sah das eigentlich genau aus, es „geschafft“ zu haben? Für den Abschluss des Tages genügten drei gelungen formulierte Seiten als Antwort auf diese Frage. Er war sehr bescheiden geworden nach all diesen Jahren verpasster Aufstiegschancen, zweiter oder dritter Plätze bei Bewerbungen für Museumsstellen und des ungewollten Sammelns von Rettungsringen aller Art. „Scheidungskinder scheitern schöner!“ Gelegentlich hatte er sich in geselliger Runde diese Schalliteration als irritierenden Scherz erlaubt und süffisant behauptet, er habe keine Angst zu scheitern, sei er doch zeitlebens - ex ante und ex post - dadurch entschuldigt, das Produkt einer ´Scheidungsfamilie´ zu sein. Prosit!
Natürlich nahm er sein Geschwätz ebenso wenig ernst wie alle Umstehenden, denn erstens war die Zahl vermeintlicher ´Scheidungsopfer´ längst viel zu groß und zweitens fanden sich unter diesen ja genügend Gegenbeispiele, trotzdem noch etwas aus seinem Leben machen zu können. Ohnehin nahm er nur dann Zuflucht zu solcherlei billigen Späßen, wenn er das Gejammere von Freunden und Freundinnen nicht mehr ertragen konnte, die Ursache all ihrer Probleme läge in einer unglücklichen Kindheit, jahrelanger Haftzeit im FAMILIENGULAG und überhaupt ihrer Herkunft. Das stets wiederkehrende Unbehagen im Bürgertum!

Niemandem aber war jemals aufgefallen, dass im ironischen Kern des „Scheidungswitzes“ eine perspektivische Hoffnungsblase eingelagert war. Gemeinhin wird die Scheidung der Eltern ja als ein Vorgang verstanden, durch den Kinder jäh ihr gewohntes Bindungsgefüge verlieren. Man kann es jedoch auch anders betrachten, denn tatsächlich tritt genau das Gegenteil ein, nämlich eine räumliche und emotionale Vervielfältigung von Familie, welche aus Sicht der Betroffenen bedauerlicherweise keinen Gewinn darstellt, selbst wenn sie auf diesem Wege Gelegenheit erhalten sollten, wenigstens ihre Großeltern im Rahmen einer letzten Zuflucht viel näher und besser kennenzulernen. Kinder denken praktisch: sie haben gerne alles an einem Ort. Die eigentliche Dramatik einer solchen Situation wird schnell erkennbar, wenn man weiß, dass für die meisten schon eine Familie eine Überforderung darstellte. Aeußerst Prekäres Orientierungsproblem: Aus einem Vietnam werden plötzlich zwei oder drei!
Zwar war Rudys Situation Mitte der 1970er Jahre bedeutend besser als die des ehedem ebenfalls ehelichen Scheidungszwängen geopferten Kindes in den späten 1940er Jahren, welches sein Vater werden sollte – offenbar eine Familientradition der etwas anderen Art! Dieser trug damals noch das soziale Stigma eines „Scheidungsbalgs“ mit sich herum, obwohl er das Generationsschicksal der Vaterlosigkeit doch faktisch mit den vielen Kriegswaisen in seiner Volksschulklasse teilte. Wie komfortabel erschien ein solches Los da 30 Jahre später, waren die rauschhaften 70er doch mit dem hoffnungsvollen Signum der sexuellen Befreiung versehen: „Mehr Promiskuität wagen!“ Zehntausende von Elternpaaren entdeckten plötzlich, dass sie zu früh geheiratet hatten und das Leben doch noch mehr zu bieten hatte... und machten sich in Scharen auf zum nächsten Scheidungsrichter. Rückblickend betrachtend, konnte Rudy sich jedoch des Eindrucks nicht erwehren, dass politische und geschlechtliche Emanzipation, Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen und Selbstbestimmung damals nur in vulgarisierter Form als massenhaft einsetzende Trendwellen mit Panikcharakter angekommen waren. Die Zeit des großen Sterbens der Lemminge setzte ein – welch ein „Naturschauspiel“ inmitten einer sich reformierenden Gesellschaft! Aufbruchstimmung, die neue Zeit beginnt mit uns. Gab es in Jonestown eigentlich Überlebende? Ja, einige wenige Kinder!

Wie gesagt, Kinder denken praktisch und finden oft erstaunlich gute Lösungen, mit Verlust umzugehen. Was ihnen fehlt, versuchen sie zu ersetzen. Rudy suchte sich eine Zeit lang Freunde, die er zu älteren Brüdern erkor, und seine Schwester tröstete sich mit Haustieren aller Art, die sich ihrer Überliebe jedoch regelmäßig durch vorzeitiges Ableben entzogen. Die armen Geschöpfe wurden regelrecht zu Tode geliebt. Anlässe, die übrigens Rudys Hang zum Zynismus frühzeitig zur Blüte gelangen ließen, indem er die rätselhafte Todesserie in den Kausalzusammenhang „erzwungenen Freitods“ einordnete. Seine Handlungsstrategie war gleichfalls nur mäßig erfolgreich, weil von begrenzter Erfolgsdauer: ältere Brüder, die er sich wahlweise im Freundeskreis suchte, hatten verständlicherweise sehr bald keine Lust mehr, solche zu sein. Über alle Differenzen hinweg war beiden aber eine große Empathiefähigkeit und eine auffällige Aversion gegen jede Form von Selbstmitleid als gemeinsames Wesensmerkmal geblieben. Wo es darum ging, anderen zu helfen, waren sie zur Stelle, ohne selbst irgendjemandes Hilfe annehmen zu können. Für einen der vielen sozialen Berufe konnten sie sich dennoch nicht entscheiden, denn das bedeutete in ihren Augen nicht mehr, als durch Helfen vor allem sich selbst zu helfen. Nein, Heuchelei hatten sie in ihren Splitterfamilien bereits im Übermaß erlebt!
Bei aller Nähe, die sie im Umgang mit ihren Mitmenschen suchten, war ihnen ein grundsätzliches Unvertrauen eigen, das etwas vollkommen anderes war als Distanz, denn beiden war natürlicher Weise die Kraft eines sozialen Magnetismus gegeben. Die Jahrzehnte vergingen, doch das Grundmuster blieb dasselbe: jedes Mal, wenn sie ihr Misstrauen überwinden zu können glaubten und sich jemandem so weit anvertrauten, dass sich von einer wirklichen Öffnung sprechen ließ, geschah etwas, das sie wieder an jenen Ausgangspunkt all ihrer Brucherfahrungen zurückführte.


Vielleicht ist gar nicht erstaunlich, dass sie auch miteinander zu keiner Gelegenheit über das sprachen, was lange zurücklag und doch nie hinter ihnen liegen würde. Rudy konnte wider Erwarten doch noch seine Dissertation fertigstellen und absolvierte erfolgreiche zwanzig Berufsjahre, nicht etwa als Scheidungstherapeut, sondern als Reiseschriftsteller. Er fand seine große Liebe in Laos und überlebte seine Schwester um drei Jahre. Ob er auf seinen nachmittäglichen Spaziergängen am Mekong wohl manchmal daran dachte, wie sie vom Leben geschieden worden war? An einem trüben Wintertag ertrank sie im Rhein bei dem Versuch, ihren flussabwärts treibenden Foxterrier zu retten.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.03.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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