Florian Brigg

Oberflächlich integriert

Oberflächlich integriert

Die Kurzgeschichte mit befreiendem Ende, jedoch unbefreiendem Inhalt
 
Die Verhandlung fand im Saal 20A im Gebäude des Jugendgerichtes statt. Der Richter, ein etwa 45-jähriger Jurist mit dunklem, sich lichtendem Haar war von gedrungener Gestalt. Man hätte von seinem unspektakulären Äußeren kaum auf seine Achtung gebietende Stimme und seine eindeutige, klare Prozessführung schließen können.
 
Angeklagt war der 15-jährige Ahmed Dogan. Ihm wurde schwere Körperverletzung, be­gangen an Frau Hannelore Löffler, vorge­worfen. Neben dem Angeklagten war auch dessen Vater anwesend. Er hatte einen ‚Beistand’ mitgebracht, der quasi die Rollen von Dolmetsch und zusätzlichem Verteidiger übernommen hatte. Auf der gegenüber­liegenden Bank saßen das Opfer, eine 35-jährige, unauffällige Bürokauffrau, unver­heiratet, und deren Rechtsbeistand. Ferner befanden sich noch Mitglieder der Familie des Angeklagten und die Be­wäh­rungshelferin im Verhandlungssaal.
 
Ahmed Dogan war der Sohn eines einfachen Arbeiters, der bereits in zweiter Generation im Lande lebte. Als der Richter sich an dessen Vater wandte, musste er feststellen, dass dieser, der seit seiner Jugend als Hilfsarbeiter im Lande lebte, der deutschen Sprache nicht mächtig war. Deshalb wandte der Richter sich an den so genannten ‚Dolmetsch’. Dieser erwies sich als Freund der Familie und konnte die Fragen in gutem Deutsch beantworten.
 
Es ging dem Richter darum, ein Bild von Erziehung und Lebensgewohnheiten von Ahmed entwerfen zu lassen. Der Dolmetsch berichtete über die Familie, in der die Mutter bloß eine Nebenrolle in der Erziehung des jungen Mannes spielte. Er erklärte, dass in muslimischen Familien der ‚kleine Sohn’ in bereits frühem Alter als ‚kleiner Mann’ angesehen wird, dem so mancher Lausbubenstreich gerne verziehen wird. Bedauerlicherweise wurde im gegenständlichen Fall auch das Fernbleiben von der Grundschule nicht geahndet. Ahmeds beide Schwestern unter­standen allerdings einer energischen, rigorosen Erziehung seitens des Elternpaares.
 
Nun wandte sich der Richter an den jugendlichen Angeklagten. Er würde gerne erfahren, was dieser so mit seiner Freizeit, die sich ja zumeist über den ganzen Tag erstreckt, anfängt.
 
Ahmed berichtete in nicht ganz fehlerfreiem Deutsch vom Umgang mit seiner ‚Gang’. Dies wäre ein Zusammenschluss von gleichaltrigen Migranten Kindern. Nein, zu so genannten ‚Einheimischen’ hätten sie alle keinen Kontakt. Ahmed gab zu, schon in frühen Jahren kleine Ladendiebstähle begangen zu haben.
 
Der Richter fragte, ob sich Ahmed an jenen Tag erinnere, als er einem Ladeninhaber nach Entdeckung eines Diebstahls bei der Ver­folgung einen Messerstich in den Schenkel versetzt habe? Ahmed antwortete, dass nicht nur er, sondern auch seine Freunde ähnliche ‚Kleinscheiße’ verübt hätte.
 
Der Richter erteilte dem jungen Mann einen Verweis wegen der abfälligen Bezeichnung einer Straftat. In der Folge wollte er nun Einzel­heiten über den Werdegang nach Be­endigung der Volksschule erfahren.
 
Daraufhin ersuchte der Vater um das Wort. Dieses wurde erteilt, infolge der geringen Sprachkenntnisse allerdings vom ‚Dolmetsch’ übersetzt.
 
Ahmed sei sein einziger Sohn, dem der Tradition folgend eine wichtige Rolle in der Familie zukomme. Er müsse eines Tages das Oberhaupt werden. In dieser Rolle müsse er auf das Einhalten von Tradition, Riten und Gebräuchen achten. Dies erscheine wichtiger als Erfahrungen im Umgang mit der ein­hei­mischen Bevölkerung zu sammeln.
 
Ahmed habe bis zu seinem 14. Lebensjahr die Hauptschule besucht, jedoch keinen Ab­schluss vorzuweisen.
 
Bei dieser Gelegenheit bat die Bewährungs­helferin um das Wort. Ahmed sei kein guter Schüler gewesen. Häufig war er unent­schuldigt dem Unterricht ferngeblieben und habe in keinem Gegenstand das Lernziel erreicht. Er war im Alter zwischen 12 und 13 Jahren Mitglied einer Jugendgang, die sich auf Autoeinbrüche spezialisiert und die örtlichen Behörden monatelang in Trab gehalten hatte. Ziel des Knackens war überwiegend der Diebstahl von Handys und Navigations­geräten, die dann in Bahnhofsnähe an Hehler zu Spottpreisen verscherbelt wurden. Bei einem dieser Diebeszüge wurde er dingfest gemacht und der Jugendbehörde überstellt. Bei dieser Gelegenheit sei sie als Sozial­helferin ins Spiel gekommen und hätte Ahmed seither in sozialer Hinsicht begleitet.
 
Ahmeds Vater war bei diesen Ausführungen aufgesprungen und versuchte, der Be­währungs­helferin ins Wort zu fallen. Der Dolmetsch übersetzte: das mit dem unent­schuldigten Schulbesuch ließe der Vater nicht gelten. Es läge nur an dem System, das nicht auf die Bedürfnisse der Reifeprozesse der Jugendlichen abgestimmt sei. Deshalb habe sein Sohn auch häufig die Schule gewechselt und konnte dadurch keine Freundschaften zu Einheimischen aufbauen. Das wäre das eine! Und die Autoeinbrüche? Ja, warum ließen denn die Besitzer allerlei Gerät in den Autos liegen, so wie in einem Schaufenster zur Be­gut­achtung? Da kann schon einmal ein junger Mann auf Ideen kommen!
 
Nach diesen Ausführungen wandte sich der Richter völlig gelassen an Ahmeds Vater. Ob dieser eventuell von mitteleuropäischen Er­ziehungsmethoden gehört hätte? Ob ihm als Erziehungsverantwortlichem eigentlich klar ist, dass sein Sohn ohne Schulabschluss oder sonstiger Fachausbildung ein vor­pro­gram­mierter Sozial- oder Kriminalfall sei?
 
Nun wandte sich der Richter dem eigentlich zu verhandelnden Delikt zu. Wie kam es zu der Verletzung einer zufällig vorbeigehenden Passantin?
 
Ahmed berichtete, dass er und vier seiner Freunde in der kleinen Parkanlage herum­gelungert wären. Es wurden ein paar Stunden Basketball gespielt und jede Menge Dosen Bier getrunken. Dann kam die Frau heran­getrippelt und schaute sie alle ‚so komisch’ an. Sie, die jungen Männer, hätten sich beleidigt gefühlt und gemeint, die Deutschen müsse man vergasen. Nun hatte die Frau geschrien, ob die jungen Männer wohl nicht ganz dicht seien? Einer aus der ‚Gang’ hatte dann gekontert: ‚Die deutschen Frauen müsse man ficken!’ Nun begann die Frau nach Hilfe zu rufen. Er, Ahmed, habe dann noch hinzugefügt: ‚Drecksweib, ich ficke deine Mutter und mach dich fertig!’ Daraufhin hatte er von der Frau eine Ohrfeige erhalten, sein Springmesser gezückt und der Frau zwei Stichwunden im Bauchbereich zugefügt. Dann wären bereits die Bullen erschienen.
 
Den Richter verwunderte die Gelassenheit, mit der Ahmed seine wüsten Beschimpfungen – vermutlich wortgetreu – und auch die Messerattacke zugegeben hatte. Wo war da bloß das geringste Zeichen einer Reue? Er stützte den Kopf in die Hände und verweilte eine Zeit lang wortlos auf dem Richterstuhl. Danach wandte er sich wieder an den Angeklagten.
 
„Für Menschen, die nicht mehr Kind, aber doch noch nicht Erwachsene sind, hat der Gesetzgeber ein besonderes Strafrecht geschaffen. Es soll den wissenschaftlichen Erkenntnissen über die besondere Situation des jungen Menschen und der daraus resultierenden kriminalpolitischen Forderung nach Erziehung, Besserung und Eingliederung in die Gesellschaft Rechnung tragen. Dies ist das Jugendgerichtsgesetz vom 11. Dezember 1974. Demnach sind Kinder bis zum 14. Lebensjahr strafrechtlich überhaupt nicht verantwortlich. Für Sie, Ahmed Dogan, kommt nun die Bestimmung des Jugend­ge­richts­gesetzes in Anwendung.
Vor Ergehen eines Urteils habe ich als Richter jedoch die Auflage, die Persönlichkeit, den Charakter, die geistige Reife und die sittliche Entwicklung des Angeklagten zu prüfen.“
 
Ahmed hatte sich inzwischen in unge­bührlicher Haltung auf die Anklagebank hinge­lümmelt. Kurz blickte er auf den Richter und schrie ein paar Sätze auf Türkisch. Der Richter ermahnte ihn zu ordentlichem Sitzen und fragte nach dem Inhalt des Geschreis.
 
Da antwortete der Dolmetsch, Ahmed fühlte sich durch die Worte des Richters ‚verarscht’, weil sein Charakter bloß seine Familie, nicht aber den Richter etwas anginge. ‚Geistige Reife’ müsste man bei Idioten untersuchen, und die ‚sittliche Reife’ sei nicht Sache des deutschen Rechtes, sondern seiner Religion!
 
Der Richter schüttelte den Kopf. Wie wenig hatten doch diese Leute in den vielen Jahren ihres Aufenthaltes im Gastland gelernt! Wie ist die Reaktion des jungen Mannes, der sich mit keinem Wort  gegen die Anklage zur Wehr gesetzt hatte, zu verstehen? Wie bei allen jugendlichen Straftätern belasten soziale Probleme und Gewalt in der Familie die Ent­wicklung. Gerade in zugewanderten Familien kommt dies überwiegend vor. Hier aber spielen auch noch Vorstellungen von Männ­lich­keit und Ehre eine Rolle, die zu weiteren Konflikten führen. Experten sehen auch immer wieder in einem unsicheren Aufenthaltsstatus einen belastenden Faktor. Was sollte er nun beim Strafausmaß berücksichtigen? Nach Ansicht von Experten schrecken schärfere Strafen Jugendliche nicht von späteren weiteren Verbrechen ab. Die Rückfallquote von jungen Migranten, die eine Haftstrafe antreten, ist hoch. Schwere strafrechtliche Sanktionen verschlechtern in vielen Fällen eher die Prognose. Auch Kurzzeitarrest oder andere ‚Schockmaßnahmen‘ helfen offenbar herzlich wenig. Die Formel ‚härtere Strafen gleich höhere Abschreckung’ hat sich als falsch erwiesen.
 
Aber es waren nicht diese Überlegungen allein, die den Richter zögern ließen, sich mit dem Strafausmaß zu beschäftigen. Es war die Wortmeldung von Ahmeds Vater, die der Dolmetsch simultan übersetzt.
 
„Herr Richter, wir können diese Angelegenheit als beendet betrachten. Wir wollen der deutschen Justiz keine weiteren Probleme bereiten. Alles ist geregelt. Ahmeds Familie hat gemäß den Gebräuchen des Herkunfts­landes dem Opfer bereits eine finanzielle Abgeltung für die erlittenen Verwundungen vorgeschlagen. Die Antwort steht noch aus. Und zur Regelung aller sonstigen Aspekte hat der Imam seine Mediatorrolle bereits zuge­sagt. Sie sehen, Herr Richter, wir regeln diese Dinge unter uns auf äußerst unbürokratischem Weg.“
 
Für den Richter hörte die Welt auf zu kreisen. Eine schwere Körperverletzung sei ein ‚Ding’? Man will mit einem Geldgeschenk ein Delikt ungeschehen machen? Und der Imam als Mediator stehe über der Justiz dieses Landes? Haben denn diese Menschen nach so vielen Aufenthaltsjahren noch immer nicht die Werte des Gastlandes erkannt, oder wollen sie diese nicht anerkennen?
 
Er vertagte die Verhandlung auf den nächsten Tag und verlließ den Verhandlungssaal. Er strebte seinem Büro am selben Stockwerk zu und öffnete die Tür mit der Aufschrift
 
Dr. Ekim Dalyan
Richter

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 19.04.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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