Irene Beddies

Geschmeide



Berta saß mit ihren Geschwistern Paolo und Mira in der U-Bahn. Sie waren allein ins Schwimmbad gefahren, ihre Eltern konnten sie diesmal nicht bringen. Paolo maulte, dass sie sich einer solchen Fahrt unterziehen mussten, aber Berta fand U-Bahn-Fahren eine spannende Angelegenheit. Viel zu selten geschah es, dass sie dieses Vergnügen auskosten konnte.
Sie beobachtete die Leute im Abteil genau und machte sich so ihre Gedanken dazu. Leute spielten mit dem Handy, zwei Frauen lasen in einem Buch, ein größerer Junge hatte Kopfhörer auf und wippte im Takt zur Musik mit dem rechten Bein. Mira sah gelangweilt aus dem Fenster, wenn sie an einer Station ankamen.
Plötzlich, als die Bahn wieder einmal einen Bahnhof verließ, stieß Mira ihre Schwester sachte an, legte den Finger auf den Mund und machte ein Zeichen, dass Berta stillhalten und sich nicht bewegen sollte. Sofort erstarrte Berta und hob nur fragend die Augenbraue. Wortlos deutete Mira auf Bertas weißes T-shirt.
 
Was wollte Mira? Vorsichtig schaute Berta an sich herunter. Sie erstarrte noch weiter, wenn das überhaupt möglich war. Auf ihrem T-shirt saß ein bunter Schmetterling.
„Huch, du hast ein Pfauenauge auf deinem Hemd“, staunte Paolo, „wie kommt der denn in die U-Bahn?“
Auf dem Sitz gegenüber saß eine junge Frau. „Der fährt hier als blinder Passagier“, lachte sie freundlich, „beweg dich nicht und lass ihn sitzen, bis du aussteigst. Er will sicherlich wieder an die frische Luft.“
„Er sieht aus wie eine kostbare Brosche“, mischte sich jetzt eine andere Frau ein, „solch einen Schmuck hätte ich am liebsten.“
In Bertas Umgebung entspann sich nun eine kleine Diskussion über die Frage, wie der Schmetterling in den Bahnhof und dann in den Zug gekommen sein könnte.
Berta hörte nicht genau zu, sie war damit beschäftigt, ganz still zu sitzen, um den Schmetterling zu retten.
Endlich kamen sie an ihrer Station an. Die Kinder ließen erst andere Passagiere aus- und einsteigen, dann huschten sie im letzten Moment selbst aus dem Abteil. Und tatsächlich, der Schmetterling saß noch immer auf dem T-shirt. Berta konnte ihn sogar die Treppe hinauf an sich behalten. Erst als die Sonne auf sie schien, löste sich der Falter, umkreiste sie einmal auf der Suche nach dem nächsten Baum und flatterte davon.
 
Zu Hause stürzte Berta auf ihre Mutter zu und rief schon von weitem: „Mama, ich habe einen blinden Passagier gerettet!“ Ihre Geschwister  nickten mit dem Kopf.
 
 
© I. Beddies

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 17.05.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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