Klaus D. Andreß

Ich habe mich verliebt

ICH HABE MICH VERLIEBT Vierzigtausend Jahre, oder länger, gibt es die Sprache, doch es gibt kein Wort, das meine Hinwendung, meine gefühlsmäßige Einstellung, treffend beschreiben kann. Auf eine irrwitzige und in jeder Hinsicht unvorhersehbare Weise habe ich mich verliebt. Es ist nicht die Art von Verlieben, die mir Herzklopfen bereitet. Es ist nicht die Art von Verlieben, die mir das Blut in den Adern prickeln lässt. Es ist nicht die Art von Verlieben, die mir Schmetterlinge im Bauch flattern lässt. Es ist eine besondere Art von Verlieben, eine Art, die mir ein stilles Lächeln ins Gesicht zaubert und mich an die wohltuenden Augenblicke meiner Jugend erinnert. Sie ist gewiss nicht die Frau, bei der ich damit rechnen konnte, mich Hals über Kopf in sie zu verlieben, schon gar nicht, als ich ihr zuhörte, sie erlebte. Es war kein Verlieben auf den ersten Blick. Ich war nicht augenblicklich berührt, bewegt oder ergriffen. Im Gegenteil. Ich war abgestoßen, ich war nervös, ich fühlte mich fehl am Platz in ihrer Nähe. Mir war unwohl, körperlich und emotional. Es war ein Gefühl wie aus meiner Jugendzeit. Dumpfe Erinnerungen an den strengen Vater und die anspruchsvollen Lehrer. Jeden Augenblick darauf bedacht, nicht unachtsam Bestimmungen und Vorschriften zu verletzen und auf¬zufallen. Freudlose Jugend. Und so bin ich heute noch: zurückhaltend, abwartend, zaudernd und unschlüssig. Das ist wohl der Grund, warum ich sie auf diese Art liebe. Ich glaube, über meine Frau weiß ich (fast) alles. Sie ist, seit dem Tag, als ich ihr zum ersten Mal begegnete, der Mittelpunkt meines Lebens. Tagsüber schleicht sie sich in ruhigen Minuten in meine Gedanken und lässt mich still lächeln. In schlaflosen Nächten lausche ich ihrem Atem oder wende mich ihr zu, um ihren Duft in der Nase zu fühlen. Jetzt teilt sie meine Gedanken mit einer Verrückten, die mich einerseits abschreckt und andererseits erstaunt und neugierig macht, die mir nicht mehr aus dem Kopf geht. Wenn ich nachts wach liege, haue ich meinen Schädel heftig in das Kissen, um sie aus meinen Gedanken zu schlagen. Vergeblich. Ich finde sie ausgesprochen attraktiv. Sie wirkt beinahe mädchenhaft. Sie ist ansehnlich, trotz ihrer Tätowierungen, die, für sich betrachtet, ansehnlich sind, kleine Kunstwerke. Sie ist weder aufreizend noch auffällig gekleidet, ihre Haltung, wie sie sich bewegt, wie sie spricht, wie sie lacht, ihre Locker¬heit, ihr unbekümmertes Selbstvertrauen, verwirren und beeindrucken mich gleichermaßen. Sie hat Augen und Lippen, für die ein Mann Frau und Kinder verlässt, um ihr sein Leben lang über die Kontinente zu folgen. Den Leuten gegenüber, die sie nicht leiden kann, wird sie sich kalt, abweisend und gleichgültig zeigen und unempfänglich sein für Schmeicheleien. Ich male mir ihre Einstellung zu Klamotten aus: Sie scheißt, wie sie es markig ausdrücken würde, würde man sie fragen, auf Markenprodukte. Diese Mutmaßung weckt meine Sympathie. Ich finde, sie hat überteuerte Fummel nicht nötig. Sie beeindruckt mit ihrer Eigen¬art, ihrem Auftreten, ihrem, zugegeben nicht durchgehend gesittetes und zivilisiertes, Benehmen. Sie gehört sicher nicht zu den Frauen, deren Horizont am Lidstrich endet oder deren Kopf noch dran ist, das Gehirn aber schon draußen, und die klaffende Leere dauerhaft beschäf¬tigt ist mit shoppen und partymachen. Wenn sie gemessenen Schrittes an den Männern vorbeischreitet, zieht sie deren Blicke auf sich, aber sie scheint sich der damit verbundenen Macht nicht vollständig bewusst zu sein. Sie ist eine junge Frau. Sie ist eine schöne Frau. Und sie ist eine dramatische Frau. Sie zeigt weder Befangenheit noch Zurückhaltung noch Fingerspitzengefühl. Ich erlebte sie unromantisch, ruppig und ungestüm. Den Vergleich mit einem Spaziergang durch die verträumt-romantische Gartenanlage Giardini e Rovine di Ninfa1 im Frühling oder der Himmelsschau in einer sternenklaren, lauen Frühlingsnacht oder einem blutroten Sonnenuntergang am Strand von Heiligendamm hält sie, glaube ich, nicht stand. Nein, sie ist ungestüm wie die Barre bei Étel in der Bretagne und noch ruppiger als die Barre vor Nazare2 in Portugal. Und dennoch habe ich mich, auf meine Art, in sie verliebt. Sie ist, wie sie sich gibt: Einnehmend in ihrer kessen, ungenierten Art und, oberflächlich betrachtet, abstoßend zugleich. Fühlt man hinter ihre schrille Fassade und durchquert den Wassergraben, den sie schüt¬zend um sich ausgehoben hat, vermittelt sie den Eindruck von Selbstachtung, Selbstbewusstsein, Stolz und Verletzlichkeit. Ich denke, sie weiß, was sie will. Wenn ihre Wertmaßstäbe auch nicht mit meinen und den gängigen Einstellungen anderer im Einklang stehen. Sie strahlt, trotz ihres hemdsärmeligen Umgangs, eine Wärme aus, die im völligen Gegensatz zu der Art steht, wie sie sich gibt, wie sie wahrgenommen wird. Eine Wärme, die ich spüre, wenn ich das potem¬kinsche Dorf durchschreite, das sie um sich errichtet hat und in dem sie sich verbirgt. Eine Wärme, die meinen Gedanken erlaubt, zu schweben, sich zu erheben, zu fragen und sich herausfordern zu lassen. Ein Zustand, der dem Verliebtsein verblüffend ähnelt. Berauschendem Verliebtsein. Und ich bin verliebt. Und das ohne klopfendes Herz, ohne prickelndes Blut und ohne das Geflirre von Schmetterlingen im Bauch, nur mit einem stillen Lächeln. Ich war ihr nie näher, als eine Armlänge. Ich weiß, wie ihre Stimme klingt und wie ihr Lachen in meinen Ohren widerhallt. Aber ich weiß nicht, welcher Geruch sie umhüllt. Das ist eigentlich alles. Darüber hinaus weiß ich nichts über sie. Ich weiß nur, dass sie, landläufig aus¬gedrückt, verrückt ist, zumindest eigenartig, sonderbar, überdreht, ungewöhnlich, schräg, exzentrisch, eigensinnig, unkonventionell und ausgefallen. Von allem etwas, denke ich. Als ich hörte, dass sie sich leicht hergibt, wurde mein Interesse nicht geringer. Nicht, das ich mit ihr das Bett teilen will, nein, aber ich möchte sie wiedersehen. Es ist schön, sie zu sehen. Mir fehlt der Blick in ihr Gesicht. Der Kontakt zu ihr hat mein Leben bereichert. Sie hat meine Sicht auf verschiedene Dinge der Lebensgestaltung verändert, zum Teil ins Wanken, zum Teil zum Einsturz gebracht, und mir gezeigt, wie Men¬schen verbunden sein können trotz unterschiedlicher Auffassungen. Sie ist wie Champagner im Kopf: Sprudelnd und prickelnd wie die Luftbläschen, die über die Zunge perlen, erfrischend wie ein Regenguss nach einem heißen Sommertag und aufregend wie ein Lippenspiel, pure Gänsehaut. Sie ist wie Parfüm auf der Haut: Ein flüchtiger, betörender Duft, der neugierig macht und zu Träumen anregt; ein vorsichtiges Schnuppern, das muss genügen, sonst verwirrt er die Sinne. In manchen schlaflosen Nächten, in denen ich die Zimmerdecke anstarre, stielt sie sich in meine Gedanken. Vielleicht treffe ich sie irgendwann des Nachts in meinen Träumen wieder. Ich bin von ihr begeistert, weil sie mich anregt, mir den Kopf zu zerbrechen über ihr Tun und Lassen und mir meine Gedanken über ihre Gedanken zu machen und diese zu Papier zu bringen. Vielleicht gelingt es mir eines Tages, auf die drängenden Fragen Antworten zu bekommen. -------------------------- 1 http://www.italia.it/de/media/video/ninfa-der-verzauberte-garten.html 2 http://surfersmag.mpora.de/video/der-fertige-clip-zur-nazare-session-xxl.html

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