Hans Fritz

Unternehmen Dragocup

Jaltsouria

Etwa 140° westlicher Länge und 55° südlicher Breite liegt das geografische Zentrum der kartografisch nicht erfassten Insel Jaltsouria, die in ihrer Grösse etwa Sizilien gleichkommt. Ein Kranz scharfer Klippen umgibt die Insel, was das Anlegen grosser Überseeschiffe unmöglich macht. Ein Wegsprengen der Klippen wurde schon vor Urzeiten erwogen, der Plan dazu aber immer wieder verworfen, aus Mangel an den nötigen Geldmitteln, heisst es. Ausländische Gesellschaften möchten da nicht investieren. Frachtschiffe aus Südamerika und anderen halben oder ganzen Kontinenten legen fünf Seemeilen vor dem Nord- bzw. Südteil der Insel an, jeweils an einem schwimmenden Kai. Dort werden Waren aus den Frachtern auf wendige Kähne umgeladen, die unter kundiger Lotsenhand die Klippen umfahren und in stillen Buchten anlegen.

Ein bis zu 3700 Meter aufsteigendes Gebirgsmassiv, das sich von Südost nach Nordwest erstreckt, teilt Jaltsouria nicht nur geografisch in zwei Teile. Das Südostreich, Densouria, ist ein üppiges Land mit glücklichen Menschen, denen es an nichts mangelt ausser an Geld und dem Wissen über das düstere, von einem urtümlichen und angeblich kaum zivilisierten Menschenschlag bewohnte Nordwestreich Prasouria.

Die Ureinwohner Jaltsourias stammen vermutlich von den Phöniziern ab, die immerhin bis Südamerika vorgestossen sein sollen. Eindeutige Belege hierfür gibt es nicht. Überhaupt haben nur wenige historische Ereignisse ihren Niederschlag in meist sehr lückenhaften Dokumenten gefunden. Philologen unterstellen der neueren jaltsourischen Sprache einen 'iberischen Einschlag', der über das Spanisch Argentiniens herübergekommen sein soll. In den letzten fünf Jahrzehnten sind anglo-amerikanische, französische, polynesische und 'bengalische', sogar einige deutsche Sprachelemente eingeflossen. Wie das Spektrum der Ethnien von Vielfalt zeugt, ist die Bandbreite der Religionen beachtlich. In Densouria überwiegt das Christentum, in Prasouria eine Naturreligion einschliesslich dem unerschüttlerlichen Glauben an ein alles bestimmendes und alles lenkendes Monster.

Schon bald nach der Erstbesiedlung der Insel haben sich die beiden Volksgruppen, Densourier und Prasourier, herausgebildet, wobei die Prasourier sich im unwirtlichen Nordwesten einrichteten, die Densourier über das Gebirge in den paradiesähnlichen Südosten abwanderten und das Urjaltsourische zu ihrem eigenständigen Idiom abwandelten. Zunächst bestand noch zwischen beiden Volksgruppen eine Verbindung in der Form eines Tunnels durch das Gebirgsmassiv, dessen Zugang später auf prasourischer Seite zunächst durch eine Barriere gesperrt, dann zugeschüttet wurde.

Bis weit ins neunzehnte Jahrhundert kursierte in Densouria das Gerücht, erst gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts, das heisst zur Zeit der Französischen Revolution, hätte der damalige Herrscher über Prasouria, König Utipulki der Vierte, seinen Untertanen den aufrechten Gang beigebracht, wenigstens für ausserhalb des Palastbereichs. Das scheint nicht gerade masslos, aber doch zum guten Teil übertrieben. Immerhin übt sich noch heute ein Teil der prasourischen Männerwelt bei vermeintlich oder wirklich drohendem Ärger, bei nach vorne gebeugter Haltung in schnellem Gang, vorwärts oder, allerdings seltener, rückwärts. Über die Ursache des kuriosen Phänomens äussern sich Psychologen nicht öffentlich und hüllen sich in Schweigen, sobald sie von wissbegierigen Bürgern oder gar von Journalisten darauf angesprochen werden. Fachleute der besonderen Art wollen bei Prasouriern der nordöstlichen Dörfer eine deutlich ausgeprägte 'fliehende Stirn' entdeckt, folglich den homo sapiens forma depressifrons kreiert und sich somit in die dunkelgraue Zone zwischen Ethnologie und Rassismus manövriert haben.

Der wichtigste Wirtschaftszweig beider jaltsourischer Staaten ist die Fischerei. Während es in Prasouria nur dürftiges Weideland für Schafe und Ziegen gibt, breiten sich in Densouria saftige Wiesen aus, auf denen kräftig gebaute, scheinbar glückliche Rinder saftiges Gras rupfen. Ganz im Süden des Landes gestattet ein fruchtbares Ackerland den Anbau von Kartoffeln. Streuobstwiesen liefern rotbackige Äpfel, die zwar kleiner als ihre kontinentalen Artgenossen sind, aber umso herzhafter schmecken.

Dem Fremden, sollte sich jemals einer nach Jaltsouria verirren, werden zunächst einmal die monströsen Windmühlen auf dem Hochplateau im Westteil des Gebirges auffallen. Die 18 Mühlen, die sämtlich auf densourischem Gebiet stehen, mahlen jedoch kein Getreide. Entgegen ihrem ursprünglich vorgesehenen Verwendungszweck, nämlich der Versorgung Densourias mit Mehl, erzeugen sie Strom. Im 1928 nach monatelangem zähen Ringen ausgehandelten Vertrag zwischen Densouria und Prasouria ist festgelegt, dass Strom in beide Staaten fliesst. Die Wasserversorgung ist glücklicherweise auf sozusagen natürliche Art geregelt, da sich sehr wasserreiche Gebirgsbäche in beide Staaten ergiessen.

Der profunden densourischen Unkenntnis der Verhältnisse im Nachbarstaat Prasouria soll ein Ende bereitet werden. Jedenfalls soll jener Staat sorgfältig ausgekundschaftet werden, soweit das unter den vorhersehbar schwierigen Bedingungen möglich sein wird. Die Hauptstadt Salipor mit ihren architektonisch unausgereiften Gebäuden, altertümlichen Verkehrswegen sowie urtümlich anmutenden Bewohnern soll mit grösster Sorgfalt, aber gebotener Diskretion unter die Lupe genommen werden.

Viele Densourier stehen einer solchen Erkundungsreise skeptisch gegenüber. Was kümmern uns die Prasourier. Sollen doch machen was sie wollen, solange sie uns in Ruhe lassen. Es gibt aber auch Densourier, die die Erkundung befürworten und nach Möglichkeit unterstützen, allerdings mehr ideell als substanziell, das heisst mit Geld wird gegeizt. Die Staatsbibliothek wird Tag und Nacht von Wissbegierigen belagert, die sich mit Literatur über Prasouria eindecken möchten. Der begehrte Lesestoff besteht allerdings, dank nur spärlich vorhandener Sach- und Fachliteratur, fast nur aus Sciencefiction.

Die bekannteste und vielleicht mit einem Körnchen Wahrheit gewürzte Legende über Prasouria ist folgende. Einst tauchte bei den grossen Felsen, nahe beim ehemaligen Hafen Saliporuga, ein fürchterliches Ungeheuer von gigantischen Abmessungen aus dem Meer auf und versetzte die Menschen in Angst und Schrecken. Wobei allerdings über die Art des Monsters nichts gesagt ist. Es handelt sich um einen Wal, oder einen Riesenkraken, glauben auch heute noch die Fischer. Die moderne Sensationspresse vermutet eine Kolossalkreatur als lebendes, 150 Millionen Jahre altes Fossil, das Liopleurodon, ein marines Reptil von 15 Metern Länge. 'Nessie von Prasouria'. Als eine Arche, wohl gemerkt nicht Noahs 'biblische', ins Gespräch gebracht wrd, meint ein Glossenschreiber, es könne sich um einen Teil der schwimmenden Stadt über Atlantis handeln, die eiligst errichtet wurde als das Inselreich in den Fluten des Atlantiks zu versinken drohte, was dann ja auch geschehen sein könnte. Schliesslich wird das Monster sogar mit dem Schiff des Fliegenden Holländer in Verbindung gebracht. Jedenfalls soll es periodisch an jedem 13. Kavlob, das entspräche dem 24. Juni unseres Gregorianischen Kalenders, erscheinen und erst nach dem Verschlingen von Menschenopfern wieder wegtauchen. Allerdings hat das niemals jemand gesehen. Jahr für Jahr sollen, pünktlich zu diesem Datum, opferbereite Menschen ins Meer tauchen, nach kurzer Zeit aber wieder an Land steigen, weil sich das Ungeheuer partout nicht zeigen will. Nun macht die Prophezeiung die Runde, am 24. Juni 1962 soll das Monster noch einmal, und zwar zum letzen Mal auftauchen.

 

Das Gesuch

Die Zeit läuft und läuft, auch in Jaltsouria. Bald wird der Kalender jenen ominösen 24. Juni ankündigen und in Densouria gewinnt der kühne Plan die Erkundungsreise unter dem Decknamen Unternehmen Dragocup zu organisieren, dabei besonders der Sache mit dem Monster auf den Grund zu gehen, mehr und mehr an Gestalt. Das wäre alles nicht grosser Rede wert, wenn da nicht das strenge Einreiseverbot für densourische Staatsangehörige nach Prasouria bestünde.

Um sich in Sachen Dragocup nach allen Seiten abzusichern, ordnet die Regierung eine Volksabstimmung an. Das ist immer die einfachste Lösung, wenn schwerwiegende politische Entscheidungen anstehen, mit denen sich die Regierung überfordert wähnt. Immerhin geben fast 80 Prozent der Stimmberechtigten ihr Votum ab. Im Schnitt stimmen 67 Prozent für das Projekt, in der Hauptstadt Glincherpa mit dem Regierungssitz sogar 71 Prozent.

Nun stellt der Regent Densourias, Bernardo III, einen Antrag bei der prasourischen Regierung, genauer gesagt, beim König Utipulki dem Achten. Es wird dabei um die Einreiseerlaubnis für eine sechsköpfige Delegation nachgesucht.

Ein Schnellboot befördert den wasserdicht verschlossenen Brief zu einem kleinen prasourischen Fischereihafen hart an der Staatsgrenze. Eine andere Möglichkeit der Kommunikation gibt es nicht. Ein Exemplar der stets auf Hochglanz herausgeputzten densourischen Helikopterflotte darf die stets scharf bewachte Grenze nicht überfliegen. Eine Bergsteigergruppe wäre zu lange zum Kontrollpunkt auf dem Kolumbanerpass unterwegs. Denn kein Densourier hat Erfahrung im Erklimmen schroffer Bergkämme.

Nach wenigen Tagen schon kommt die Antwort von drüben, abgefasst vom Adjutanten des Königs, unterzeichnet vom König selbst. Im Prinzip sei eine Einreise wie gewünscht möglich, steht da zu lesen, von Seiten der prasourischen Regierung könne aber, ausser dem Zurverfügungstellen einer Begleiterin, keinerlei Unterstützung erwartet werden. Für alles weitere Drum und Dran sei die densourische Seite voll verantwortlich. Allerdings - dieser Passus ist kursiv in roter Farbe gedruckt - müsse das prasourische Auswärtige Amt zur weiteren Abwicklung der 'endgültigen Erteilung der Einreiseerlaubnis' einen Betrag von Denso-Dollar 86'000 in Rechnung stellen. Viel Geld für den stets über alle Massen strapazierten densourischen Staatssäckel. Doch der Kämmerer bewilligt, der Regent segnet ab. Das Boot befördert eine Kassette aus rostfreiem Edelstahl mit dem geforderten Geld nach drüben. Postwendend kommt die Zusage mit der Auflage, die Delegation müsse sich zunächst einmal zum Kolumbanerpass begeben und dort von der Grenzwache weitere Anweisungen entgegennehmen. Weiss das Monster wie das zu verstehen ist! In einem schwach schattierten Passus wird ausdrücklich vor wilden Ziegen gewarnt, die sich dicht hinter der Grenze auf prasourischem Gebiet herumtreiben und Densouriern gegenüber feindlich gesinnt sind. Kräftige Stöcke würden den Tieren zwar Respekt einflössen, vom Praktizieren solcher archaischer Drohgebärden würde aber dennoch abgeraten. Die regelrechte Jagd auf die Tiere mit Waffen jedwelcher Art ist strikt untersagt. Füttern mit Echtem Löffelkraut, einem aus Europa zu Würzzwecken von Kräuterfrauen nach Densouria importierten Kreuzblütler, ist im Prinzip erlaubt, dessen Einfuhr nach Prasouria aber verboten.

 

Der Regent erteilt Order

Der grosse Sitzungssaal im Regierungspalais ist bis auf den letzten Platz besetzt, eine Seltenheit. Der Regent erscheint im roten Talar und bittet, unter kraftvollem Läuten einer Glocke aus dem Schifffahrtmuseum, mehrfach um Gehör, als das allgemeine Geraune kein Ende nehmen will. "Hochverehrte Volksvertreter. Ich möchte Sie kurz mit dem von unserer Regierung geplanten, vom Volk gutgeheissenen und von drüben bewilligten Erkundungsgang nach Prasouria unterrichten. Wir bilden eine Gruppe aus sechs Personen. Über die genaue Zusammensetzung unseres kleinen Trupps wird morgen entschieden. Jedenfalls werde ich selbst mit von der Partie sein. Während meiner Abwesenheit wird der Parlamentspräsident die Amtsgeschäfte leiten." Auf eine Minute ungläubigen Kopschüttelns folgt frenetischer Beifall. Ob wegen der Mission an sich, oder der zu erwartenden Abwesenheit des gestrengen Regenten, sei dahingestellt.

Drei Männer und zwei Frauen werden von den dreiundzwanzig Räten aus ihrer Mitte per Akklamation gewählt, soweit das bei so viel Unschlüssigkeit und Ratlosigkeit eben machbar ist. Der Regent hat sich ja schon selbst 'still' gewählt. Zum Schluss sind alle glücklich und zufrieden, bei einer Mischung aus Enthusiasmus und Skepsis. Da es nach Abschluss der Kür draussen bereits dunkelt, kommt der von Studierenden der Fachhochschule für prasourische Angelegenheiten organisierte Fackelzug sehr schön zur Geltung. Ein paar Männer tragen Schilde mit der Aufschrift der Namen der Erkunder: Der Regent Bernardo III, Petronio, Alberto, Hildago, Ligura, Monica. Petronio, der Chronist, wird die Aktion protokollarisch festhalten. Die feierliche Vereidigung der Gruppe unter dem Segen des Bischofs findet in der neugotischen Kathedrale statt.

Ein Militärhubschrauber der Supergrösse setzt die Gruppe im Vorgebirge auf einem Plateau ab, das eigens als Landeplatz hergerichtet, das heisst vor allem von Geröll und Unrat befreit worden ist. Von da ab geht es auf rauen, aber immerhin begehbaren Pfaden weiter zum Pass. "Knapp vor der Grenze stosst ihr auf eine gut dreissig Meter hohe Araukarie. Bei diesem Baum der Entscheidung müsst ihr euch endgültig entschliessen. Ihr geht über den Pass nach drüben, das wäre die Option. Wer sich nicht entschliessen kann und unsicher ist, wandert wieder zurück zum Plateau, das wäre die Alternative. Eure Reise wird nicht einfach sein, eine echte Herausforderung." Das hat die steinalte Bombina, die oberste Augurin des Bürgerforums, dem Erkundungstrupp mit auf den Weg gegeben.

 

Aus Petronios, des Chronisten Tagebuch

20. Juni (Gregorianischer Kalender) Die Einreise.

Dem Helikopter entstiegen, empfangen wir unsere Ausrüstung aus der Gepäckwanne. Esswaren und Getränke, Taschenlampe, Feldstecher, ein paar Werkzeuge, Zündhölzer. Ich selbst schleppe dazu noch Schreibmaterial, Alberto wird mit einer Spezialkamera ausgerüstet.

Wir folgen einem Pfad, der mässig ansteigt und von dichtem Buschwerk gesäumt, stellenweise fast überwuchert ist. Nach gut zweistündigem, anstrengendem Marsch stossen wir auf eine Lichtung. Da steht die Araukarie, gigantisch, ein hölzerner Riese, dem aufkommenden starken Wind stolz trotzend. Die Grenzstation ist nur noch gute hundert Meter entfernt. Ein tristes Gebäude, mit winzigen Fenstern wie Schiessscharten, ein grossteils zerfallenes Dach. Hinter einer Schranke bauen sich drei Grenzer auf, auf deren eventuelle Flachstirnigkeit wir wegen der zu erwartenden angespannten Situation nicht achten.

Sorgfältig prüft ein Beamter unser Dokument, die Berechtigung zur Einreise. Streng mustert er den Regenten. "Ich habe Sie doch schon einmal gesehen. Ich glaube, ihr Konterfei schmückte die Titelseite einer Zeitschrift. Da waren Sie aber der densourische Regent. Aber das können Sie ja nicht sein. Doch diese Ähnlichkeit -" "Soll es ja hin und wieder geben. Ich wurde schon einmal mit dem Regenten verwechselt, bei einem Volksfest. War sehr peinlich", versucht Bernardo III abzulenken und jeden Verdacht zu zerstreuen. "Nun will ich Sie mal gehen lassen, Herrschaften", spricht der Grenzer mit ironischem Unterton und mit einem Blick, der an seiner Autorität nicht den geringsten Zweifel aufkommen lassen soll. Dann, unter einem scharfen Seitenblick auf unser Schuhwerk und eine etwas gebeugte Körperhaltung einnehmend: "Gehen Sie den Serpentinenpfad dort links, von da aus ist der Abstieg am bequemsten. Die letzten Densourier wurden hier vor 34 Jahren abgefertigt und nahmen denselben Weg." Zunächst vermuten wir eine Falle, doch dann beschliessen wir dem Rat des Grenzers zu folgen. Hildago weiss von der Einreise dreier Densourier damals. Doch niemand weiss, ob sie jemals zurückkehrten, jedenfalls ist in Densouria über ihr Schicksal nichts bekannt.

Alberto entdeckt den Pfad auf unserer Routenkarte und zeichnet ihn mit einem blauen Marker nach. Von den wilden Ziegen übrigens keine Spur.

Nach einer angenehmen, problem- weil wildziegenfreien Pirsch über Stock und Stein durch einen lichten Wald mit hohen schlanken Bäumen gelangen wir zu einem grauen, brach liegenden Acker. Weit und breit keine Menschenseele. Ab jetzt sind es drei Stunden Marsch auf zerfurchtem Fahrweg bis zur ersten Siedlung. Pralle Sonne, kein Schatten. Zum Glück haben wir unsere Sonnenhüte dabei. Im Halbschatten eines dornigen Gebüschs machen wir unsere erste Rast. Von einem vorbeibretternden Van mit mutmasslichem Vorkriegsmotor werden wir gehörig eingestaubt. Dann geht es weiter auf einer ausgetrockneten rissigen Strasse ohne jede Spur von Asphalt.

Gegen Abend erreichen wir die Siedlung, die aus windschiefen Bauernhäusern mit angebauten Scheunen zu bestehen scheint. Eine Meute streunender Hunde aller möglichen Rassen nähert sich uns mit eigenartigem Gebell, dass mehr einem Möwenschrei als vertrautem Hundelaut gleicht. Als aus einem dachlosen Schuppen ein schriller Pfiff ertönt, ziehen sich die Hunde fürchterlich aufjaulend zurück. Eine menschenähnliche Gestalt tritt aus dem Schuppen und deutet mit einer kuriosen, armschwingenden Geste an wir sollen ruhig näher kommen. Die Gestalt jodelt unsere Sprache, von einem artikulierten Sprechen kann da kaum die Rede sein. "Leute, ihr seid angekündigt. Könnt euch drüben im verlassenen Bauernhaus einrichten. Wasser sprudelt aus dem Brunnen hinter der Scheune, wenn es nicht sprudelt, gibt es da eine Pumpe." "Also sind wir schon einmal richtig, zumal wir angekündigt sind", meint Monica. "Soweit wir den Grenzern trauen können", bemerkt Albert. "Doch ohne ein Vertrauen wären wir verloren, gänzlich aufgeschmissen", sinniert der Regent. Über die dürre Wiese galoppieren schwarze Pferde. Ihrem schrecklichen Wiehern dichtet Ligura etwas Apokalyptisches an. Als der Jodelbauer keine Anstalten macht sich zurückzuziehen, wendet sich der Regent an ihn: "Haben Sie vielen Dank, mein Herr, wir finden ab jetzt alleine zurecht. Aber sagen Sie, wo sind die Dorfbewohner abgeblieben?" "Sind weg, in die Stadt zum Monsterfest", ist die knappe Antwort. Wie die Karte vermuten lässt ist die Stadt, die da gemeint sein könnte, gut zwanzig Kilometer von hier entfernt. Es kann aber nicht die Hauptstadt Salipor sein, sondern eine kleine Stadt namens Crampenbourg.


21. Juni. Zwischenstation Crampenbourg.

Nachdem wir durch triste Strassen mit halbzerfallenen Gebäuden, aber auch scheinbar intakten und hübsch beschilderten Werkstätten geschlendert sind, überqueren wir ein düsteres Fabrikgelände. Da steht eine Diesellok mit einem angekoppelten Niederbordwagen. "Sie interessieren sich für diese alte Lok?" fragt ein Mann im blauen Overall. Ohne eine Antwort abzuwarten erklärt er: "Ein gebrauchtes Stück aus Neuseeland, fährt aber noch wie geschmiert." Er trat, von uns zunächst nicht bemerkt, aus einem Geräteschuppen. "Wir befinden uns auf einer Wanderung -", sage ich. "Eine Wanderung hier? Etwa nach unserer Metropole Salipor, zum Monster? Mann oh Mann!" "Wir möchten heute noch vor Einbruch der Dunkelheit in Salipor eintreffen", sagt der Regent. "Das schafft ihr nie, Leute. Das Monster lässt sich sowieso erst in drei Tagen blicken - wenn überhaupt. Doch ich kann euch bis vier Kilometer vor Salipor mit dem Kurzzug hier mitnehmen, falls es euch auf dem Wagen nicht zu unbequem sein sollte. Ich muss in einem Werk bei Susalipor Paletten aufladen. In zehn Minuten geht die Fahrt los." Es wird hin und her beratschlagt. Schliesslich einigen wir uns auf die Bahnfahrt.

In für prasourische Verhältnisse rasender Fahrt kreuzt die Lok eine Chaussee. Ein mit bemoosten Wackersteinen beladener Lastwagen nähert sich dem Bahngleis und kann unter fürchterlichem Bremsgequietsche gerade noch rechtzeitig anhalten. Es fehlen Zentimeter. Vielleicht ist es ein Glücksfall, als nach weiteren hundert Metern Fahrt das Dieselöl zu Ende geht, bevor der nächste Zwischenfall fällig wird, denke ich. Doch der wackere Lokführer hat vorgesorgt. Er füllt den Tank mit Treibstoff aus einem Reservekanister.

Die Fahrt endet auf einem riesigen, kaum überschaubaren Platz mit leicht gewellter Betonauflage. An der Ostseite des Platzes steht ein flaches Gebäude mit algengrüner, unaufhaltsam abblätternder Tünche. Ein paar Personen treten aus dem Gebäude und schlurfen zu einer Bankreihe unter kümmerlichen Rotbuchen. "Viel Arbeit und wenig Geld", spricht ein Mann im grauen Arbeitskittel und leicht nach vorne gebeugter Haltung. "Das ist bei uns nicht anders. Man muss sich damit abfinden, wie schwer es auch fällt", versucht Alberto den Mann zu beruhigen und erntet den strafenden Blick des Regenten.

Da ruft uns der Lokführer zu: "Eine Frau Samanta hat nach Ihnen gefragt, ich glaube, es ist Ihre Begleiterin in Salipor." Eine Dame in blauem, goldbesticktem Mantel eilt in seltsam aufgebogenen, mit Messingspangen verzierten Schnabelschuhen auf uns zu. Die rote Brunottimütze, das Geschenk eines Kapitäns, wie sie mir später anvertrauen wird, bedeckt die ebenschwarze Haarfülle. "Hallo, ich bin Samanta, eure Begleiterin in Salipor. Habe euch vom mittleren Fenster des Bürogebäudes hier unten einsam und verlassen herumstehen sehen. Das ist gut so, hätte sonst gar nicht gewusst wie und wo ich euch treffen sollte." Wir stellen uns mit unseren Namen vor und die Begrüssung verläuft sehr herzlich. "Ich schlage vor, dass ich euch per Bus zu eurem Quartier nach Salipor bringe." "Eine ausgezeichnete Idee", lobt der Regent. Kaum bin ich dieser Frau begegnet, ist sie mir auf eine unbestimmte Art äusserst sympathisch, nicht nur ihrer grossen dunklen Augen wegen. Ich glaube die anderen Männer empfinden ähnlich und die beiden Frauen müssen sich damit abfinden. "Wahrscheinlich ist sie indischer Herkunft", meint Hildago. "Ja und"? sage ich. Auf Liguras Frage, ob jeder sein eigenes Zimmer im Quartier bekäme, antwortet Samanta: "Drei Zimmer könnte jeder haben, ohne Monstertag sogar zehn. Das Fahrzeug, das gerade über den Platz auf uns zu rumpelt hat die entfernte Ähnlichkeit mit einem Bus. Wir klettern in das Vehikel, hangeln uns zu den zerschlissenen Sitzen vor und lassen uns in Richtung City schaukeln. Zum Glück dauert die Fahrt nur gut zwanzig Minuten.

 

22. Juni. Salipor.

Als wir uns durch die endlos scheinenden, kerzengeraden Strassen bewegen, scheint die Stadt auf den ersten Blick der Handwerkerstadt Crampenbourg aufs Haar zu gleichen, aber wesentlich grösser zu sein. Schmucklose Fassaden, abbröckelnder Verputz, an den Gebäuden winzige Fenster mit Butzenscheiben.

An jeder Strassenecke erhebt sich ein etwa sechs Meter hoher Obelisk mit aufmontierter 'Bahnhofsuhr'. Das Uhrwerk wird von einer Stahlfeder angetrieben, die jeden Morgen vor Sonnenaufgang mit einem Schlüssel aus rostfreiem Stahl gespannt werden muss. Der Beruf des Uhraufziehers ist einer der angesehensten, wenn auch nicht bestbezahlten in Prasouria. Da der private Besitz von Uhren zumindest in Salipor nicht üblich, ja sogar verpönt ist, zeigen diese seltsamen Türmchen dem Bürger 'rund um die Uhr' an was die Stunde geschlagen hat.

Auf einem grob gepflasterten Platz sind Teppichstangen aufgestellt. Darüber hängen aber keine Teppiche, sondern menschengrosse, aber wenig menschenähnliche und offenbar geschlechtslose Stoffpuppen. "Sind wohl für ein besonderes Spektakel vorgesehen?" fragt Alberto. "Sie werden dem Monster anstelle von lebenden Menschen vorgeworfen", erklärt Samanta. "Werden nach ein paar Stunden aus dem Meer gefischt und zwecks Wiederverwendung getrocknet. Einige Puppen sollen in der Tat regelmässig vom Monster verschlungen werden. In Wirklichkeit sind sie wahrscheinlich so vom Wasser durchtränkt, dass sie nach unten gezogen werden und nicht mehr auftauchen."

An der Hotelrezeption überreicht uns der Portier eine goldgerahmte Einladung zu einem informellen Gespräch mit einem Regierungsbeamten im Kleinen Saal des Saliporpalais.

 

23. Juni. Ein Gespräch mit Herrn Zenturio.

Das Saliporpalais erweist sich als langgestreckter Flachbau mit weit heruntergezogenem Schieferdach und ist sozusagen das Hinterhaus des Königspalasts, dabei mindestens einen halben Kilometer von dem Prachtbau entfernt. Der Palast selbst gleicht einem Schloss aus dem Märchenbuch, ist für uns jedoch unerreichbar und nur aus respektvoller Entfernung zu bestaunen.

Wir werden von einer Hostess in einen Warteraum komplimentiert. Um einen kleinen runden Tisch scharen sich braune Ledersessel. Wir fühlen uns so frei Platz zu nehmen. Wir warten wohl eine gute halbe Stunde, als sich eine Flügeltür öffnet und ein kleiner dicker Herr mit Hornbrille uns begrüsst. "Hallo, liebe Gäste, ich bin Zenturio, der Minister für Touristik. Ich hoffe, Sie hatten bis jetzt einen angenehmen Aufenthalt?" Wir nicken ein 'ja'. "Wir sind tief beeindruckt von der Stadt", sagt der Regent. "Das freut mich ungemein, meine Herrschaften", spricht der Minister mit einer seltsam gehobenen Stimme, gefährlich nahe am 'hohen c'. Er bittet uns in sein grosszügig, mit viel Plüsch ausgestattetes Büro mit stickiger Atmosphäre. Die Hostess bewirtet uns mit Kräutertee und Apfelkuchen. Der Tee hat eine seltsame taubenblaue Farbe, dafür aber einen faszinierenden Geschmack nach duftenden Blüten einer Sommerwiese. Der Kuchen ist mit Schokoladeflocken bestreut und mundet ausgezeichnet. Von Samanta erfahren wir später, dass prasourischer Kuchen mit Rindertalg gebacken wird. Auch die Schokolade stamme aus Argentinien.

Ein paar Floskeln werden ausgetauscht und die Tatsache bedauert, dass es so wenige Kontakte zwischen beiden Staaten gibt. Im Weiteren will kein richtiges Gespräch aufkommen, zumal unser Gastgeber unkonzentriert, ja streckenweise sogar zerfahren wirkt. Kein Wunder beim Gedanken ans Monster! Auf Letzteres angesprochen, gibt sich Zenturio bedeckt. Man müsse eben abwarten und dürfe die Geduld nicht verlieren, meint er. Sprachlich kommen wir übrigens erstaunlich gut zurecht. Wir sind heilfroh, als das im Ganzen so kühl verlaufene Gespräch nach einer knappen Stunde zu Ende ist. Auf ein lautes Klingelzeichen erscheint die Hostess und begleitet uns wortlos zum Ausgang.

 

24. Juni. Lässt sich das Monster blicken?

Heute ist es soweit. Heute ist der Tag der Wahrheit - oder Enttäuschung. Auch wir fiebern dem angekündigten Grossereignis mit höchster Anspannung entgegen, so wie es die Tagespresse von den Bürgern Salipors und den Zugereisten erwartet.

Ein paar hundert Menschen versammeln sich vorm Felsentor. Sie stellen sich in mehreren Reihen auf. Das leicht abfallende Gelände gestattet eine Platzierung wie vor einer echten Freilichtbühne. Vorne, im Proszenium sozusagen, sind Klappstühle aufgestellt. Uns, 'den Gästen von drüben', wird als noble Geste die Gunst des Sitzens in der ersten Klappstuhlreihe zuteil.

Die Dämmerung ist hereingebrochen, als am Horizont ein milchiger Streif aufzieht. "Ein eigenartiges, aber nicht mal so seltenes Wetterphänomen", raunt mir Samanta zu, "ich kann Ihnen nur nicht erklären wie es zustande kommt." Jedem, der in der ersten Reihe sitzt, wird von Hostessen eine Stoffpuppe gereicht, die anstelle eines Menschen dem Monster symbolisch geopfert, das heisst zugeworfen werden soll. Doch dazu soll es erst gar nicht kommen.

Es regt sich kein Wind, was für Jaltsouria und dazu für diese Jahreszeit zum Winterbeginn ungewöhnlich ist, jedenfalls noch ungewöhnlicher als der Milchstreif am Horizont. Das Thermometer an der Ufermauer zeigt 14 Grad Celsius an. Alles ist wie die berühmte Ruhe vor dem Sturm. "Bei dieser Wetterlage muss etwas Aussergewöhnliches passieren", prophezeit Samanta. Noch heisst es warten und warten. Minuten werden zur Ewigkeit. Ungeduld macht sich breit und das Volk beginnt zu murren. Der König fürchtet murrendes Volk und beauftragt seinen Minister für öffentliche Ordnung unverzüglich etwas zur Beruhigung der Untertanen zu unternehmen. Anläufe zu einer Appeasement-Politik waren schon öfter vonnöten. Doch noch nie schien die Lage so ernst wie augenblicklich und der Minister wird schon deshalb alles schier Menschenunmögliche versuchen um seinen Kopf zu retten. Denn selbst in Prasouria ist ein im wahrsten Sinne kopfloser Volksvertreter nicht lebensfähig. Rasch ist eine Besprechung mit dem obersten Militärkader anberaumt, mit dem Ergebnis, dass sich das Monster oder etwas Entsprechendes unter allen Umständen zeigen muss, koste es was es wolle.

Die Besatzung eines Hubschraubers, vier Männer im roten Overall, wirft Quadersteine über der Stelle ab, wo das Monster auftauchen soll, um es so auf brutalstmögliche Art zu reizen, damit es sich endlich zeigt.

Kaum hat der Helikopter abgedreht, kein Mensch mag es fassen, steigt aus der aufgewühlten Flut das Monster empor. Da ist es! Schwarz, turmhoch, knarrend, mächtig triefend von abfliessenden Wassermassen, mit Tang behangen. Weithin hörbares Uih! und Oih! löst die unheimliche Stille ab. Was ist nun das Monster? Die Überraschung ist so gross, dass kaum Raum bleibt darüber nachzudenken. Ist es in der Tat ein Meeresriese? Wir sind uns sofort einig, dass es sich um ein Schiffswrack handelt. Doch Samanta hat ihre Zweifel. "Welches Schiff soll das sein? Die Titanic?" meint sie. "Nein, die Titanic kann es nicht sein, die ist nachweislich anderswo gesunken", erklärt Alberto. Das Wrack bäumt sich auf, als wolle es sich nochmals in voller Grösse zeigen. Dann sackt es ab, erst langsam, dann immer schneller und bald entzieht es sich gänzlich unseren Blicken.

Ein Heer von Lautsprechern verbreitet die Ansprache des Chefadjutanten des Königs: "Liebe Untertanen und Gäste (!), im Namen unseres allergnädigsten Königs habe ich Folgendes mitzuteilen. Beim vermeintlichen Monster handelt es sich um einen riesengrossen Frachter, der vor zig Jahren vor dem Felsentor auf Grund gelaufen war. Im Handelshafen entladen, dabei schlecht vertäut, trieb der Frachter beim nächsten Sturm ab und auf das Felsentor zu. Die Ladung, die im Hafen gelöscht worden war, bestand aus allerlei Gerät, so der Diesellok samt Rungenwagen, Gleisanlagen und Signalen. Wie dieses Riesenspielzeug auf den Kai und dann landeinwärts befördert wurde ist nicht bekannt. Mithilfe eines gigantischen Fesselballons - doch das ist solange Mythos, bis es dokumentiert werden kann." Hier bricht die Rede ab, wahrscheinlich wird sie von höherer Stelle unterbunden, die Leitung abgewürgt. Schweigend zerstreut sich das Volk.

Doch was veranlasste das Wrack termingerecht aufzutauchen? Die Erklärung hierfür ist einfach. Die vom Helikopter abgeworfenen Steine fielen auf das Heck, das, schwer beladen, über eine Felsnase nach unten absank, indem sich das Vorschiff entsprechend hob. "Aber als was war vorher das Monstrum erschienen, wenn es schon seit Ewigkeiten auftauchen soll", möchte Monica wissen. "Es gab keines", erklärt Samanta. "Das erste Auftauchen des Monsters wird in dunkle Zeiten der Vergangenheit verschoben. Etwas Besonderes, Bewegendes muss seit alters her periodisch geschehen, die Menschen beschäftigen und als 'Aberglaube' Teil ihrer Glaubensinhalte werden. Es darf nichts vom Nimbus eines Wunders einbüssen." "Das leuchtet ein", sagt der Regent. "Ja, so ist es", antwortet Samanta. "Jetzt wird die Entmythisierung des Monsters nicht mehr aufzuhalten sein", meint Alberto. "Das Wrack könnte nun in den Köpfen der Prasourier neue Symbolkraft entfalten", bemerkt Ligura. "Ein sichtbar gewordenes Mysterium", philosophiert Hildago, "das als amorphes, virtuelles Wesen verehrt wurde."

 

25. Juni. Glückliche Heimkehr nach einem Riesenschock

Es ist unser fest eingeplanter Rückreisetag. Am frühen Morgen möchte der Regent an der Rezeption ausbuchen. "Dazu brauche ich Ihre Ausreisebewilligung, wenn Sie so freundlich sein wollen -" "Wie, Ausreisebewilligung? Wir haben bei der Grenzstation unser Dokument hinterlegt -" "Das galt für die Einreise. Für die Ausreise benötigen sie ein extra Papier. Falls Sie das nicht haben, müssen Sie bei unserer Regierung einen Antrag einreichen. Es kann allerdings einige Jahre dauern, bis das Dokument ausgefertigt ist -" Bevor der Regent etwas entgegnen kann betritt Samanta die Lobby. Sofort berichte ich ihr unser Missgeschick. "Das klingt nicht gut", meint sie, "doch macht euch keine Sorgen, ich weiss einen Rat". "Und der wäre?" fragt Monica. "Ein Verwandter ist der Chef der Hafenbehörde. Er kann ein Boot zum Handelshafen beordern, von wo ein ihm treu ergebener Skipper, wenn ich so sagen darf, euch unbeschadet nach drüben fahren kann. Ich könnte euch, wenn es genehm ist, bis zur eurem Anlegeplatz in Densouria begleiten -" "Das wäre fantastisch, Samanta", sage ich. "Und wenn du uns begleiten könntest wäre das wahnsinnig nett." "Aber bekommst du - und erst recht der Hafendirektor - keine Probleme mit eurem Regime?" fragt Hildago. "Ach, dass lasst nur meine Sorge sein. Die werden das gar nicht mitbekommen." "Wie könnten wir uns dem Hafenchef gegenüber erkenntlich zeigen?" fragt Alberto. Darauf Samanta: "Hat jemand von euch zufällig eine schöne Taschenuhr dabei?" "Ja, ich habe eine, hier ist sie, überreiche sie bitte dem Hafendirektor als ein Dankeschön im Voraus", sagt der Regent. "Dem Bootsführer gegenüber zeigen wir uns mit einem Beutel Geld erkenntlich." "Das ist eine hervorragende Idee und eine schöne Geste obendrein", meint Samanta. "Ich mache mich sogleich auf den Weg. Seid bitte so schnell ihr könnt, drunten beim Hafen. Die Strasse hier nach rechts, dann die zweite Strasse links, immer geradeaus und schon seid ihr am Ziel. Dort gibt es eine kleine Imbissbude, macht es euch dort bequem." Und zum Portier: "Die Gäste verlassen jetzt das Hotel, mein Herr. Mit der Ausreise geht alles in Ordnung." Zähneknirschend beugt sich der Mann über die Theke, beruhigt sich aber sehr rasch, als ihm Ligura eine hübsche, mit falschen Brillanten bestückte Armbanduhr reicht mit den Worten: "Für Ihre Freundlichkeit und Grosszügigkeit, die wir sehr zu schätzen wissen."

Im gespenstigen Schatten eines Frachtschiffs legt ein Motorboot an, dem ein Hüne in gelbem Ölzeug entsteigt und sich neugierig umschaut. "Das ist vielleicht unser Mann", sagt Hildago. "Fragen wir ihn doch." Der Regent geht auf den Bootsmann zu und spricht ihn an: "Fahrt für Frau Samanta und ihre Gäste?" "Ja." "Wir müssen noch auf sie warten -" Noch bevor der Bootsmann seine Furcht erregende Beugung beendet und dabei schon fast die Hälfte seiner Körperlänge eingebüsst hat, eilt Samanta fast atemlos herbei und spricht: "Entschuldigt, ich wurde aufgehalten. Der Hafenchef hatte eine wichtige Besprechung mit einem Regierungsvertreter -" "Aber doch nicht etwa unseretwegen?" fragt Monica besorgt. "Nein, nein, es ging wieder einmal ums Monster. Bootsausflügler wollen heute in aller Frühe das wahre Monster draussen auf hoher See gesichtet haben. Das mit dem Wrack sei nur eine Finte gewesen. Er bedankte sich übrigens tausendmal für die Uhr. So, jetzt folgt mir bitte ins Boot, dann kann es losgehen."

 

Ausklang

Nach dreistündiger Fahrt über ein ruhiges Meer, das einmal seinem Namen Stiller Ozean Ehre macht, nähert sich das Boot dem Densouri-Kai. Alberto schiesst eine Leuchtrakete ab, deren grünes Licht die baldige Ankunft der Erkunder signalisieren soll.

Wie glücklich sind die Erkunder, heimatlichen, wenn auch ein wenig schwankenden Boden zu betreten! Der Bootsmann möchte gerade zur Rückfahrt ablegen, als Samanta von Bord hechtet. Der Regent fängt sie auf und spricht: "Jetzt lasse ich dich nie mehr los!" "Das will ich hoffen", haucht Samanta. "Ich habe mich entschlossen bei euch zu bleiben", spricht sie zur Gruppe, was mit einem simultanen "Bravo, bravo!" freudigst begrüsst wird.

Auf dem Kai hat sich eine kleine Blaskapelle eingefunden. Sie spielt, musikalisch vielleicht nicht ganz sauber, aber mit viel Hingabe, die Densouri-Hymne in D-dur. Das herbeiströmende Volk ruft: "Hurra, hurra! Ein Hoch unserem Regenten Bernardo! Hoch, hoch!" "Wie, was bedeutet das?" fragt Samanta erschrocken. "Ja, der dich so fest in seinen Armen hält ist unser Regent, Bernardo III, das Staatsoberhaupt von Densouria", erklärt Alberto.

Aus dem Meer taucht in Ufernähe das Monster auf - ein mindestens 30 Meter langer Blauwal! "Ein gutes Zeichen", meint Bombina, die Augurin, die sich ihrer Menschenscheu zum Trotz unter das jubelnde Volk gemischt hat.

Nach gut zwei Wochen der Euphorie droht sich das Schicksal Densourias zu wenden. Im Regierungspalais trifft nämlich eine Botschaft des Prasourischen Königshauses ein, die lautet: 'Die densourische Regierung wird aufgefordert, die an der Erkundungsreise in unser Königreich beteiligten Personen und ihre prasourische Führerin unverzüglich auszuliefern, und zwar über die Grenzstation beim Kolumbanerpass. Bei Nichtbefolgung dieser Anordnung wird eine Strafe von 16 (in Worten: sechzehn) Millionen Denso-Dollar fällig, zahlbar innert vier Tagen'. Samantas Rat folgend unternimmt die Regierung zunächst einmal gar nichts. Das seien nichts als leere Drohungen. Nach ihrer Einschätzung ist eine Invasion prasourischer Truppen auf jeden Fall programmiert. Der König brauche nur einen Vorwand. Nach der Schlappe mit dem 'falschen Monster' erwarte das Volk die Erfolgsmeldung über ein wahres Grossereignis, am besten in der Form eines militärischen Sieges über Densouria.

Kaum hat der Regent die Bevölkerung zur Wachsamkeit aufgerufen und die Miliz nachgerüstet, es sind seit der Drohung aus Prasouria sechs Tage vergangen, als König Utipulki's Elitetruppe mit ihren angerosteten, museumsreifen Waffen vom Kolumbanerpass bis zum Plateau vorstürmt, aber von der Besatzung dreier hochmoderner densourischer Kampfhubschrauber vernichtend geschlagen wird. Bernardo III erklärt damit die Kriegshandlung für beendet, warnt aber Prasouria vor weiteren Übergriffen. Nach der eklatanten militärischen Niederlage schicken die Prasourier ihren König ins Exil auf die Osterinsel. Prasouria wird nun von einer Zivilregierung verwaltet. Als Regierungschef von Bernardos Gnaden wird Zenturio vereidigt. Warum gerade Zenturio? Es ist der einzige prasourische Regierungsbeamte, den der Regent bisher zu Gesicht bekam. Nach der feierlichen Amtseinführung des von nun an 'obersten Prasouriers' im Vorhof des Schlosses wird, wen wundert's, Kräutertee und Apfelkuchen gereicht. Scharfe Beobachter finden auf einem etwas abseits abgestellten Rollwagen einen 'roten Chilenen', des Regenten Lieblingswein.

Densouria fördert den Ausbau und die Neugestaltung des 'Gegenstaates'. Das kostet mehr als 16 Millionen Densos, aber nicht 'zahlbar innert vier Tagen'. Samanta, inzwischen des Regenten Gemahlin, wird die Aufsicht über die sachgerechte Verwendung der Gelder anvertraut. Im Übrigen erweist sich die Wahl von Zenturio zum Staatsoberhaupt als ein guter Griff. Die Grenzstation auf dem Kolumbanerpass wird geschleift, der Tunnel saniert und zu einer erst zögerlich, dann viel benutzten Verbindung zwischen beiden jaltsourischen Ländern ausgebaut. Die Wesen, die von der neu etablierten Freizügigkeit als professionelle Kletterer und Bergüberwinder am eifrigsten Gebrauch machen, sind die wilden Ziegen. Bald berichtet das vielgelesene Abendblatt der Hauptstadt Glincherpa über ein leer gefressenes Löffelkrautbeet im Stadtgarten.
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hans Fritz).
Der Beitrag wurde von Hans Fritz auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.06.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Der Autor:

  Hans Fritz als Lieblingsautor markieren

Bücher unserer Autoren:

cover

Das unsichtbare Band von Nika Baum



Das unsichtbare Band das Liebende verbindet, wird manchmal unspürbar, weil unsichtbar!
Ergänzt mit eigenen Worten, stärken Sie das unsichtbare Band, welches Sie mit dem Empfänger dieses Büchleins vereint.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (0)


Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Fantasy" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Hans Fritz

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Der stählerne Klang von Hans Fritz (Fantasy)
Ein außerirdisches Wesen von Margit Kvarda (Fantasy)
Geht es mir gut ? Eine bittere Erkenntnis...! von Rüdiger Nazar (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen