Birgit Enser

Die Schatzsuche

´Ey Alter, guck, hier is was!´ Benno klang schrecklich aufgeregt, obwohl er sonst immer den ´Coolen´ raushängen ließ. Tobias ging zu ihm hinüber, um zu sehen, was sein Bruder nun schon wieder ausgebuddelt hatte. Er selbst interessierte sich nicht so sehr für diese Schatzsucherei, aber Benno war seit Tagen wie besessen von der Idee, etwas zu finden, womit sie beide auf einen Schlag berühmt würden. Oder reich. Oder noch besser, beides. Bis auf einen Löffel und ein paar alte Konservendosen hatten sie bisher jedoch nichts gefunden.

Tobias sah also ziemlich gelangweilt zu, wie Benno mehr und mehr von seinem Fund zu Tage brachte. Als er den Gegenstand endlich in den Händen hielt, zwar immer noch recht schmutzig, aber dennoch gut zu erkennen, blieb den beiden Jungen vor Schreck der Mund offen stehen.

Benno fasste sich als erster. ´Scheiße Mann, das is´n Totenkopf!´

Tobias sah das genauso, er fühlte ein Gefühl der Übelkeit in sich aufsteigen und wich zurück. ´Tu das weg, Benno, das ist unheimlich.´ Benno sah ihn nur verächtlich an. ´Du bist ´ne Memme. Wegwerfen! Bisse blöd? Los, wir seh´n nach, ob da noch mehr Knochen sind. Das wär´s doch. Wir beide klär´n ´nen Mord auf.´
Tobias hatte nicht die geringste Lust, einen Mordfall aufzuklären. Er wollte auch nicht noch weiter in der Erde wühlen, um Knochen zu suchen. Er wollte sie nicht anfassen, er wollte nicht mehr in diese Löcher, die mal Augen waren, schauen. Er wollte weg. Aber das kam natürlich nicht in Frage, weil Benno sich sowieso schon dauernd über ihn lustig machte. Anfangs war er ja noch ganz stolz gewesen, dass Benno gerade ihn in seine Schatzsuche eingeweiht hatte, aber irgendwann war das Ganze langweilig geworden, und er hatte sich nach seinem Zimmer und seinen Büchern zurückgesehnt. Und nun das! Abhauen kam nicht in Frage, also fing Tobias mutig an zu graben, hatte aber ständig das Gefühl, jeden Moment kotzen zu müssen.

Sie suchten noch fast eine Stunde, fanden aber nichts mehr.

Benno machte dann Anstalten, den Schädel in seinen Rucksack zu packen. ´Du nimmst den doch wohl nicht mit nach Hause?! Lass ihn liegen. Außerdem sollten wir die Polizei rufen.´ ´Quatsch´ meinte Benno ´Der gehört mir. Ich hab´ den gefunden.´
Damit wandte er sich um und lief die Wiese runter zur Straße. Tobias trottete natürlich hinterher, was sollte er auch machen?!

Zu Hause machte Benno den Schädel erstmal sauber und versteckte ihn dann unter seinem Bett. ´Wehe, du petzt!´ warnte er Tobias.

Für Tobias begannen nun eine schreckliche Zeit. Er konnte kaum noch schlafen. Immer war er sich bewusst, dass dort unter dem Bett seines Bruders der Schädel dieses Toten lauerte. Vielleicht war es ein Verbrecher gewesen? Ein Geköpfter wohlmöglich. Sonst hätten sie doch andere Knochen finden müssen. Er stellte sich vor, wie der Geist des Toten nun nach seinem Kopf suchte. In seinem Zimmer!!

Was Tobias nicht wusste war, dass sich immer, wenn er schlief, eine schemenhafte Gestalt an sein Bett setzte. Sie saß nur da und sah den Jungen an. Reglos. Jede Nacht.

In den letzten Tagen hatten sich die Eltern oft gestritten. Es war wieder sehr laut geworden, wenn beide getrunken hatten. Sie schrien sich gegenseitig an und der Vater von Tobias und Benno hatte die Mutter auch wieder geschlagen. Die beiden Jungen verdrückten sich dann meistens. Sie hatten gelernt, dass es nie gut war, in die Schusslinie der Eltern zu kommen, wenn sie so drauf waren.
Benno tat immer so, als wenn ihn das Alles gar nichts anginge. Er markierte gerne den ´starken Mann´. Tobias jedoch weinte sich oft genug in den Schlaf und konnte sich dann auch noch von seinem Bruder anhören, dass er eine Heulsuse sei. Irgendwann im Halbschlaf spürte Tobias dann, wie Benno sich in sein Bett legte, ihm die Tränen abwischte und ihm einen Kuss auf die Stirn gab. Das kam ihm zwar sehr verwunderlich vor, doch fühlte er sich wunderbar getröstet und schlief endlich ein.

Das Geistwesen schwebte aus dem Kinderzimmer, hinein in das Wohnzimmer, in dem diese beiden Menschen sich immer noch anschrien. Die Frau saß weinend in einer Ecke, und der Mann stand drohend über ihr. Er hatte die Fäuste geballt und sagte heiser: ´Ich bring´ dich um, eines Tages bring´ ich dich um. Ich schneid´ dich in kleine Stücke und verbuddel dich. Niemand wird dich finden. Es wird sein, als hätte es dich nie gegeben. Du blödes Stück.´ Dann drehte er sich weg, nahm seine Flasche Bier und wankte aus dem Zimmer.
Die Frau sank immer tiefer zur Erde, sie hatte die Hände vor das Gesicht gelegt und weinte laut. Plötzlich wurde sie ganz ruhig, schaute auf und glaubte, eine Gestalt erkennen zu können. Es war kein richtiges Erkennen, mehr ein Erahnen, doch sie wusste, sie hatte nicht so viel getrunken, um sich das einzubilden. Und dann war es wie eine Gewissheit, dass hier eine Frau stand, die die gleichen Ängste kannte wie sie. Eine Frau, die Schreckliches durchgemacht hatte.

Die Gestalt verschwand plötzlich, und die Frau blieb wie betäubt sitzen. Irgendwann schlief sie auf dem kalten Boden ein.

Am nächsten Morgen fand Benno seinen Vater tot im Badezimmer. Er hatte wohl in seinem Suff das Klo nicht richtig getroffen, als er pinkeln wollte, war dann auf den feuchten Fliesen ausgerutscht und mit dem Kopf auf der Duschkante aufgeschlagen.

Jedenfalls war es das, was die Polizei ermittelte.

Benno und Tobias jedoch war die Sache unheimlich, und sie beschlossen, den Schädel, der immer noch unter Benno´s Bett lag, wieder im Wald zu begraben.


Birgit Enser
12.06.2003

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