Steffen Herrmann

Die Topologie des Sinns

[Vorbemerkung:

Der Text ist das erste Kapitel des ersten Teiles eines grösseren Werkes, dessen Fertigstellung noch einige Jahre in Anspruch nehmen wird. Zumindest ist der zweite – leichter zu lesende Teil – bereits geschrieben und hier in der Sektion Science Fiction veröffentlicht. Es handelt sich um die Reihe 2100 – 2500. Daneben gibt es noch zwei Texte, die das Jahr 2050 behandeln. Diese fallen aber qualitativ deutlich ab und sind höchstens als eine Eingewöhnung in das Thema tolerierbar.

Die vorliegende Arbeit besteht aus dem Haupttext und Fussnoten. Die Fussnoten sind hier nicht als zweitrangig aufzufassen. Sie dienen dazu, die Entwicklung der Gedanken von zu starker Linearität zu entlasten. Wegen der darstellerischen Limitationen der Website sind die Fussnoten hier direkt in den Text integriert (in eckigen Klammern). Sollte jemand das Bedürfnis nach einem komfortableren Format haben, kann er/sie sich an mich wenden – ich stelle den Text dann als PDF zur Verfügung.]


 

Zu den hartnäckigsten und dabei stillsten Fragen gehören die nach dem Sinn. Diese betreffen den Sinn von Wörtern, Sätzen, Ereignissen, Handlungen, Schmerzen, bis hin zum Sinn des Lebens überhaupt. Die augenscheinliche Heterogenität der Verwendungsweise dieses Prädikats (wenn es überhaupt ein Prädikat ist) mag den Bedarf für ein präziseres Verständnis anzeigen.

Die Frage nach dem Sinn von Sinn ist dabei nicht so zirkulär, wie sie scheint. Man kann das im immer schon bestehenden Gebrauch liegende Vorverständnis dazu benutzen, von konkreten Fällen auf die noch vage Allgemeinheit des Begriffes zu zielen und so eine Klärung zu erreichen.

[Begriffsbildung wäre in diesem Sinn eine iterative selbstreferentielle Operationsfolge. Der Ausgangspunkt ist dabei eine lose gekoppelte Verschiedenheit von Verwendungsweisen. Die Operation besteht dann darin, dass ein streng genommen beliebiges, doch besser geschickt gewähltes Element als Operator auf diese Gesamtheit angewendet wird, wodurch sich die Kopplungsstruktur in Richtung einer grösseren Stringenz ändert, dabei neue Elemente produziert und andere ausschliesst. Diese Operation wird nun mittels eines anderen Elementes wiederholt, wobei die aktuell erzeugte Struktur eine Orientierung bei der Auswahl gibt. Das Verfahren endet bei Erreichen eines Eigenwertes, also dann, wenn die Struktur im Zuge der Operationen invariant bleibt. Das Resultat kann ein fest integriertes Relationengefüge (Wesen) oder eine Struktur höherer Komplexität sein, wo Regionen fester Kopplung lose miteinander verbunden sind (Familienähnlichkeit). In anderen Fällen schlägt die Begriffsbildung fehl; dann nämlich, wenn kein Eigenwert produziert werden kann: sei es, dass die Operationen das System zwischen verschiedenen Zuständen oszillieren lassen, oder sei es, dass sie alle Elemente zerstört haben.]

Es ist hier also - und diese Aufzählung ist weder systematisch noch vollständig – nach dem Sinn von Termini, Sätzen, Geschehenem, Gelebtem, dem Leben selbst zu fragen.

Sinn von Termini. Hier kann man sich von der von Frege getroffenen Unterscheidung von Sinn und Bedeutung leiten lassen. Bedeutung bezeichnet dabei die Referenz des Wortes, also das, was von ihm bezeichnet wird; Sinn ist die Weise des Gegebenseins, also eine Menge von Prädikaten, die es erlaubt, den betreffenden Gegenstand zu identifizieren.

[Siehe hierzu Gottlob Frege Über Sinn und Bedeutung. Frege generalisiert hier eine Differenz, die zumindest in Bezug auf generelle Termini in der Philosophie schon länger problematisiert worden ist. Es geht hier um die Unterscheidung Begriffsinhalt/Begriffsumfang oder auch Intension/Extension, die bereits in der Logik von Port Royal vorkommt und in der analytischen Philosophie eine tragende Rolle spielt. Beide Seiten der Unterscheidung verhalten sich bekanntlich invers zueinander: Je mehr Spezifikationen ein Begriff erhält, desto weniger Gegenstände fallen unter ihn und vice versa. Wenig beachtet scheint mir aber der Umstand zu sein, dass die Struktur Intension/Extension dem Ausgangspunkt der Mengenlehre entspricht. Dass etwas ist, also von dem, was es nicht ist, unterschieden werden kann, seine Extension, bedeutet, dass es ein Element ist; was es aber ist, seine Intension, erlaubt, dass es mit anderen gleichartig spezifizierten Elementen zu einer Menge zusammengefasst werden kann. Wir werden also direkt auf die Fundamente der Mathematik verwiesen.]

Die Differenz von Sinn und Bedeutung gestattet somit, etwas in verschiedenen Situationen als dasselbe zu erkennen. Man kann zum besseren Verständnis dieser Struktur auf das eingängige Morgenstern/Abendstern-Beispiel zurückgreifen oder auf andere: wie den Moment, da das Kind merkt, dass der Onkel der Weihnachtsmann ist. Sinn/Bedeutung erweist sich als eine Leitdifferenz, welche die Entfaltung verschiedener Strukturen gestattet, die zwar aufeinander bezogen bleiben, aber je eigenen Entwicklungen folgen. Das sind: Erkennen, Gedächtnis, Sprache, Mathematik. Beim Erkennen wird eine gleiche Referenz zwischen verschiedenen Repräsentationen erzeugt, zum Beispiel zwischen einer Wahrnehmung und einer Erinnerung. Dabei kann auch Zeit entstehen, dann nämlich, wenn die Gleichheit der Referenz auf einer (dann zeitlichen) Verschiebung des Gegeben-Seins beruht; die Vergangenheit wird als gegenwärtige Vergangenheit geschaffen, sie ist in diesem Sinne eine Leistung des operierenden Systems.

So wie Erkennen Gedächtnis, so setzt Sprache Erkennen und Mathematik Sprache voraus. Das Erkannte lässt sich bezeichnen und das Bezeichnete symbolisieren. Die mathematischen Operationen bestehen im Ersetzen von verschiedenem Sinn bei gleicher Bedeutung. Auf den beiden Seiten des Gleichheitszeichens ist (ausser bei Gleichungen der Form a=a) die Bedeutung gleich und der Sinn verschieden.

Das bisher Erörterte lässt sich verkürzt so zusammenfassen: Sinn ist immer schon gegeben und ermöglicht durch die Sinn/Bedeutung-Differenz, dessen bewegliche Seite er ist, verschiedene Strukturen und Operationen. Damit sind jedoch mehr Fragen aufgeworfen, als Antworten gegeben. Es scheint daher ratsam, sich das Gegebensein einmal genauer anzuschauen.

Das Gegebene (hier: das Bezeichnete) ist nie einfach so, sondern immer als etwas gegeben.

[Selbst ein Unbekanntes wird – insbesondere – als Unbekanntes wahrgenommen. Diese prädikative Leerstelle wird aber unmittelbar gefüllt, indem das Unbekannte als bedrohlich, seltsam, uninteressant oder als etwas anderes erscheint, man kann auch sagen: befragt wird. In der Terminologie Heideggers liesse es sich so ausdrücken, dass Innerweltliches immer schon im Horizont des Verstehens, als Verstandenes begegnet. Die Als-Struktur verweist so direkt auf die ontologische Differenz, auf das Sein des Seienden. Es ist allerdings zu beachten, dass das hier behandelte Thema nicht auf Bewusstsein und schon gar nicht auf Wahrnehmung fokussiert. Sprache gehört nicht nur zum psychischen, sondern auch zum kommunikativen System. In der Kommunikation gibt es keine Wahrnehmung. Insofern ist es auch unstatthaft, die 'andere Seite' des Gegebenem zu spezifizieren, zum Beispiel als Bewusstsein. Man kann allerdings, wieder mit Heidegger, sagen, dass es Gegebenes immer im Horizont des Verstehens gibt. - Horizont als eine Grenze, von der man nur die Innenseite kennt.]

Der Gebrauch eines Terminus ist nur möglich, wenn sein Sinn erfasst wird, sonst ist das Wort nur eine Folge von Zeichen oder Lauten. Der Sinn eines Terminus, zum Beispiel eines Begriffes – zeigt an, was 'in' ihm steckt. Ein Bezeichnetes kann sich mit Sinn füllen oder leeren, aber nie ganz ohne Sinn sein.

Wir sehen, dass die Bezeichnung als ein doppeltes Kreuzen einer Grenze zu verstehen ist, die sich mit diesem Kreuzen reproduziert oder erst etabliert. Von aussen geschieht das dadurch, dass das Bezeichnete Etwas ist, was nichts anderes heisst, als dass es eine Grenze hat und als etwas, das nicht ist, was es nicht ist, in der Welt vorkommt. Von der Innenseite geschieht die Kreuzung durch dasjenige, als das das Bezeichnete verstanden ist, durch das also, was bezeichnet wird. Bei einem generellen Terminus ist letzteres der Inhalt des Begriffes. Beide Kreuzungen der Grenze sind nicht als Vorgänge aufzufassen, die nacheinander stattfinden, man kann nicht einmal von Gleichzeitigkeit sprechen. Stattdessen ist der Gebrauch eines Terminus selbst das doppelte Kreuzen der Grenze. Auch ist es eine Verkürzung, im Kreuzen von innen nach aussen den Sinn und in der entgegengesetzten Bewegung die Bedeutung zu sehen.

Was aber deutlich geworden ist, ist die Stetigkeit des Mediums des Verstehens. Alles Bezeichnete ist immer schon ein Verstandenes. Die mit dem Bezeichnen (re)produzierte Grenze markiert einen Phasenübergang, dessen Innenseite der Sinn ist, dessen Funktion darin besteht, das Medium des Verstehens zu reproduzieren. Das Zurückwirkens des Sinns in das tragende Medium des Verstehens bewirkt, dass dieses sich verändert. Indem etwas erkannt, also sein Sinn erfasst wird, verändern sich auch die Bedingungen der Möglichkeit, den Sinn von Anderem zu erfassen.

[Das verweist auf eine Topologie innerhalb des Sinn/Verstehen-Mediums. Subjektivistisch ausgedrückt: Man kann das Medium des Verstehens nicht verlassen, dennoch ist es nicht gleichgültig was und wie man versteht. Die Topologie des Verstehens gründet im jeweiligen Horizont und der ist bei einem Kind anders als bei einem Erwachsenen und allgemein davon abhängig, was jemand gelernt und erlebt hat. Diese Topologie, von denen bestimmte Bereiche zum Beispiel als Lebenserfahrung, Bildung, Charakter bezeichnet werden können, haben hier eine Lenkungsfunktion. Dennoch gibt es noch genug Freiräume, systemtheoretisch gesprochen einen Möglichkeitsüberschuss für die Selektion von Anschlussoperationen. Es kommt also nicht darauf an, irgendetwas zu verstehen, sondern dasjenige, was wichtig ist. Und es kommt darauf an, möglichst gut zu verstehen. Das Gelingen zeigt sich daran, dass der erfasste Sinn in einer Weise auf die Topologie des Verstehens zurückwirkt, die für die Autopoiesis des in diesem Medium operierenden Systems günstig ist. Wenn durch dieses Verstehen Anderes gleich mit-verstanden wird, eine 'Erhellung' stattfindet, sich Zusammenhänge offenbaren, etwas mehr Sinn macht, als vorher. Populär gesprochen: Tiefsinnigkeit.]

Weil die Topologie des Verstehens sich verändert, bleibt auch der Sinn nicht gleich. Mit jedem neuen Gebrauch einer Bezeichnung ist der Sinn des so Bezeichneten ein anderer, weil sich der Horizont verändert hat, in dem Sinn erfasst werden kann. In der Regel sind diese Veränderungen vernachlässigbar, aber es gibt natürlich auch die grossen Sinnverschiebungen, zum Beispiel bei einschneidenden persönlichen Erfahrungen oder bei Paradigmenwechseln in der Wissenschaft.

Ein Sinn ist also nicht nur da, sondern – weil er sich bei erneuter Aktualisierung nicht wieder genauso reproduziert, wie er vorher war – auch fraglich. Damit wird klar, weshalb es Sinn nicht ohne Sinnfrage geben kann. Man kann auf die Frage nach dem Sinn von etwas fokussieren, indem – und damit entsteht ein Beobachter zweiter Ordnung – auf die Grenze des Bezeichneten gezielt wird. Diese Grenze wird dann iterativ reproduziert, dieser oszillierenden doppelten Kreuzung (aussen → innen = Verstehen → Sinn; innen → aussen = Sinn → Verstehen) entspricht das Infrage-Stehen des Fraglichen; am Ende des Prozesses kann eine bessere Klärung des Sinnes stehen.

Dass jeder sprachliche Terminus einen Sinn hat, erschliesst sich schon durch den Umstand, dass er sonst in einer Sprache nicht verwendet werden könnte. Dagegen ist nicht von vornherein klar, ob ihm auch notwendigerweise eine Bedeutung zukommt. Es scheint ein Konsens zu bestehen, dass dies nicht der Fall ist. Sprachliche Kennzeichnungen, denen nichts in der Wirklichkeit entspricht, bezeichnen nach dieser Auffassung nichts, haben also keine Bedeutung. Darunter fallen zum Beispiel Hexen und Elfen, die griechischen Götter, aber auch der Äther und der Stein der Weisen.

Zieht man eine solche scharfe Grenze zwischen Bedeutung/keine Bedeutung, dann behauptet man allerdings eine ontologisch privilegierte Region (die 'Wirklichkeit'), also das, was sich von einem absoluten Standpunkt darbieten würde. Dieses Auge Gottes müsste sich ausserhalb der Welt befinden, denn nur so könnte alles erkannt werden, was ist und wie es ist. Geht man aber davon aus, dass jede Erkenntnis innerhalb der Welt stattfindet (nach gängiger Vorstellung also 'unvollkommen' ist, dann lässt sich diese Denkfigur nicht aufrechterhalten. Die Auffassung, dass es ausser der anerkanntermassen 'unvollkommenen' Erkenntnis eine vom Menschen (und allen anderen zur Erkenntnis Befähigten) unabhängige und so absolute Realität gäbe, deren Erkenntnis man sich immer mehr annähern könne, ohne sie je ganz zu erreichen erweist sich somit als ein theologisches Residuum der Weltanschauung.

[Wir werden auf diesen wichtigen Punkt noch zurückkommen. Bezeichnenderweise vertreten häufig gerade bekennende Atheisten diesen Standpunkt. Sie lehnen Gott ab, behaupten aber eine absolut bestehende Wahrheit, eine für sich bestehende Wirklichkeit, die einen Standort voraussetzt, an dem sich nur Gott befinden kann. Man kann nicht sinnvoll behaupten, dass etwas so ist, wie es sich einem unmöglichen Beobachter zeigen würde. Mit der Unmöglichkeit des Beobachters ergibt sich die Unmöglichkeit seiner Beobachtung. Ich gebe zu, dass der hier entwickelte Gedankengang kontraintuitiv ist; unsere natürliche Art zu denken orientiert sich eher an der Differenz relative/absolute Wahrheit (ist explizit etwa im dialektischen Materialismus so beschrieben). Dennoch ist eine Dekonstruktion dieser traditionellen Denkweise wichtig, um zu neuen, fruchtbareren Problembeschreibungen (und Lösungen) zu kommen. Die verwendete Methode muss sich also an der Differenz von Einheit und Differenz orientieren, was direkt zur Systemtheorie führt.]

Man kann zu der Schlussfolgerung, dass zu jedem Sinn eine Bedeutung gehört auch ganz auf dem Boden der bisher entwickelten Gedankengänge kommen. Dem Sinn entspricht das Kreuzen einer Grenze von innen nach aussen. Dabei entsteht eine zweite, nicht unbedingt scharf definierte äussere Grenze, die nicht überschritten wird. In diesem Horizont reproduziert sich das Medium, in dem lose miteinander Gekoppeltes vorkommt und in dem der bezeichnete Gegenstand seine Bedeutung hat. Man kann diese regionale Grenze auch einen Rahmen nennen. Erst bei Überschreiten dieser Grenze kann das Bezeichnete seine Bedeutung verlieren, denn diese besteht jeweils nur innerhalb einer Kontextur. Aus der Polykontexturalität folgt, das ein Bezeichnetes immer eine Bedeutung haben (im Rahmen seines Kontextes), diese aber auch immer verlieren kann (bei dessen Überschreitung).

Zur Veranschaulichung dieser möglicherweise etwas dunklen Gedanken: Mephisto hat eine Bedeutung, und zwar innerhalb des 'Faust'. Im Rahmen dieses Stückes existiert Mephisto, erst wenn man in einen anderen Kontext wechselt, zum Beispiel in den einer Schulklasse, die über den 'Faust' spricht, verliert Mephisto seine Bedeutung und wird zu einem nur Erdachtem. Diese ontologische Degradierung geschieht aber mit jedem Kontextwechsel. In diesem Zusammenhang ist auch wichtig, dass der Horizont des Mediums durch den Sinn reproduziert wird. Wer 'Mephisto' sagt, sagt auch 'Faust', auch 'Gretchen', 'Auerbachs Keller' und vieles andere. Die Gegebenheitsweise von 'Mephisto' lässt anderes aufscheinen und aktualisiert die Möglichkeit neuer Selektionen innerhalb des gegebenen Horizontes und damit neuen Sinn.

Die gängige Vorstellung besteht darin, hier eine Hierarchie anzunehmen, an dessen oberste Stufe sich etwas befindet, das seinerseits keine überschreitbare Grenze hat und als 'Wirklichkeit' bezeichnet wird. Wenn man aber im hier gezeigten Sinn konsequent denkt, muss man einräumen, dass jeder Sinn seinen bedeutungstragenden Kontext produziert und jeder Kontext auch überschritten werden kann. Polykontexturalität bedeutet, dass es keinen ausgezeichneten Ort gibt, der gegenüber anderen ontologisch privilegiert ist (im Sinne eines wahren Seins).

[Dabei soll das Bestehen von Hierarchien nicht einmal bestritten werden. Es kann ein Buch geben, das in einem Film gelesen wird wo ein Traum geträumt wird. Solche Verschachtelungen gibt es häufig, man lese zum Beispiel die Märchen aus tausendundeiner Nacht. Aber es kann zu parasitären Wucherungen auf den disprivilegierten Ebenen kommen, zu Verschiebungen und letztlich sogar zur Inversion. 'Kehren wir zur Wirklichkeit zurück' soll Balzac gesagt haben, als er wieder über seine Bücher sprechen wollte. Für einen Fussball- oder einen Schachspieler kann das tatsächlich Wesentliche das Spiel sein, dort finden sich die Bedeutungen; das alltägliche Leben läuft nebenher mit. Wenn man sein Denken hier zu sehr von Hierarchiegedanken leiten lässt, riskiert man, auf unfruchtbares Terrain zu geraten und dann fortgesetzt mit der Lösung von Problemen beschäftigt zu sein, die man gar nicht haben würde, wenn man den Anfang anders gewählt hätte. Der wesentliche Punkt ist, dass jeder Sinn seinen eigenen Horizont der Bedeutungen (re)produziert. Aus dieser Sicht wird klar, dass verschiedenen Begriffe Namen für so geartete Regionen sind. Zum Beispiel Theorien. Die Frage nach der Bedeutung theoretischer Entitäten (also zum Beispiel 'Gibt es Gravitonen, Quarks, Strings etc. wirklich?') löst sich dabei auf.]

Sinn von Sätzen. In der gegenwärtigen Philosophie besteht ein Konsens darüber, dass Sätze und nicht etwa Wörter die primären Sinn- und Bedeutungsträger sind. Es ist also nicht so, dass der Sinn der Sätze aus dem Sinn der in ihnen enthaltenen Worte komponiert wird; sondern die Worte erhalten ihren Sinn aufgrund der Sätze, in denen sie vorkommen. Das eben Gesagte bedeutet scheinbar einen Widerspruch oder zumindest eine Zirkularität: Denn wie sollen Sätze einen Sinn bekommen können, wenn sie aus Worten bestehen, denen dieser ursprünglich fehlt?

Dazu ist zu sagen, dass das Fundament der Sprache von Ein-Wort-Sätzen gebildet wird, die ihren Sinn auch dem situativen Kontext verdanken. Diese Situierungen besitzen fast immer eine indikative Komponente, sodass man diesen Ein-Wort-Sätzen ein „Das ist ein/eine/der/die/das“ voranstellen könnte. Eine reine Indikation hätte aber keinen Sinn, das Benennen muss durch etwas motiviert sein (und sei es das Lehren der Sprache). Deshalb gibt es immer eine illokutionäre Komponente, zum Beispiel im Sinne einer Aufforderung oder einer Warnung. Der elliptische Satz wäre dann mit „Pass auf, ein/e “ zu vervollständigen. Das Spektrum reicht auf dieser Ebene von Rufen wie „Achtung!“, „Pass auf!“ bis zu reinen Indikationen, wo etwa mit den Fingern auf etwas Unbekanntes gezeigt wird, was (noch) nicht benannt werden kann. Doch auch hier ist bereits ein Verstehen, ein Sinn gegeben: Das Zeigen kann neugierig, ängstlich oder auch freudig geschehen.

[Der bedeutungstheoretische Primat der Sätze verweist damit auf einen situativen Kontext, der Sprache erst ermöglicht. Die frühen logischen Positivisten (Carnap etc.) mit ihrer Fixierung auf ideale Sprachen scheinen das nicht zu beachten. Eine interessante Position nimmt hier der Wittgenstein des Tractactus ein. Einerseits argumentiert er rein logisch-positivitisch, andererseits postuliert er noch eine zweite Sprache abseits einer Reduzierung auf Information. In dieser kann man allerdings nur schweigen. ]

Die scheinbare Zirkularität des Sinnes von Worten und von Sätzen gibt also den Blick auf die Bedingung der Möglichkeit von Sprache frei: diese besteht in der gemeinsamen situativen Gebundenheit von Menschen und in den durch das sinnlich Gegebene bereits Verstandene.

[Auf semantischer Ebene wiederholt sich der beschriebene scheinbare Zirkel mit der Differenz Urteil/Begriff. Begriffe werden durch Urteile geschärft und erst gebildet. Begriffsbildungen entstehen durch Propositionen, die besagen, was unter einen Begriff fällt und was nicht. Urteile verwenden wiederum bereits Begriffe. Dennoch kann man von einem Primat des Urteils sprechen. Wiederum ist man auf eine fundierende Ebene verwiesen, auf ursprüngliche Urteile, die nicht Begriffe, sondern Vorstellungen miteinander verknüpfen.]

Für Frege besteht der Sinn eines Satzes in dem zum Ausdruck gebrachten Gedanken, seine Bedeutung in seinem Wahrheitswert. Für den Wittgenstein der Logischen Untersuchungen liegt die Bedeutung eines Satzes grundsätzlich in seinem Gebrauch begründet, was die Unterscheidung Sinn/Bedeutung bei Sätzen vielleicht obsolet werden lässt. Unabhängig von diesen philosophischen Traditionen lässt sich nach dem Sinn eines vorliegenden (gehörten oder gesprochenen) Satzes noch auf rein propositionaler Ebene in zwei Richtungen fragen: Erstens, welchen Gedanken er zum Ausdruck bringt und zweitens, warum gerade dieser und nicht ein anderer Satz geäussert worden ist.

[Der Sinnaspekt der Selektion setzt einen Satz in Beziehung zu der Folge der ihm vorangegangenen und zu der unbestimmten Menge von Sätzen, die nicht geäussert (selektiert) worden sind. Davon ist wiederum der Modus der Aussage zu unterscheiden. Theorien die auf der Unterscheidung Proposition/Modus des Satzes gründen, können sich kaum von der Dominanz der Logik emanzipieren. Denn in der Struktur des Relativsatzes bildet die Proposition auch den äusseren Rahmen. Eine Struktur der Form: Er glaubt/hofft/wünscht/vermutet/befiehlt ..., dass … besitzt wiederum einen Wahrheitswert, ist also selbst eine Proposition. Dieses Theoriedesign geht auf Frege zurück, bezeichnenderweise einer der bedeutendsten Logiker. Eine gewisse Befreiung von dieser Engführung bietet die Sprechakttheorie, etwa von Austin und Searle.]

Der Sinn eines Satzes ist das Korrelat seines Verstehens und dieses wiederum ist die Einheit der Differenz aus Information und Mitteilung.

[Wie genau diese Korrelation beschaffen sein soll, ist hier etwas dunkel. Damit ist gesagt, dass Verstehen und Sinn nicht voneinander isolierbar sind; dennoch sind die Begriffe nicht deckungsgleich. Verstehen befindet sich hier eher auf der flüssigen, Sinn auf der geronnen Seite. Verstehen ist nicht fixierbar, es ereignet sich, ein Sinn lässt sich zumindest beschreiben, näher bringen. Dennoch bleibt Sinn fluide, eine Explikation der Form: „Der Sinn des Satzes besteht darin, dass ...“ ist nicht mit dem Sinn dieses Satzes identisch.]

[Der Aspekt der Mitteilung hängt mit dem der Selektion zusammen, geht aber über ihn hinaus. Er reduziert sich nicht auf das Mitteilenswerte der Äusserung oder die unzähligen Weisen, einen Satz zu sagen. In der Mitteilung ereignet sich die Präsenz des Anderen, als Stimme. Diese wiederum führt uns direkt zur Seele: sie ist das, wodurch sich eine Seele zeigt, mehr oder weniger, vielleicht auch gar nicht.

Eine Frage wäre hier, ob ein Computer eine Seele simulieren könnte. Er müsste dann eine Stimme haben, die nicht auf eine (z.B. aufgenommene) menschliche Stimme rekurriert, also seine eigene ist. Die Frage ist, ob hier Täuschung möglich ist. Oder müsste man einer Maschine, die man als beseelt wahrnimmt, auch eine Seele zuschreiben?

Eine komplementäre Frage besteht darin, ob man aus einer ausschliesslich schriftlichen Kommunikation auf eine Seele schliessen könnte. Schrift erzeugt/repräsentiert eine Abwesenheit, eine Verschiebung, oder, um es mit Derrida zu sagen, eine differance. Aus dieser Perspektive ist Sprache die Einheit der Differenz von Präsenz und Absenz, von Stimme und Schrift. Alles, was gesagt wird, kann aufgeschrieben werden und alles, was geschrieben steht, kann vorgelesen werden. Wenn man den Sinn der Sprache der Einheit der Differenz von Gesprochenem und Geschriebenem oder der Differenz von deren Einheit assoziiert, sind verschiedene Figuren möglich. Die Grenze zwischen Präsenz und Absenz lässt sich in beiden Richtungen kreuzen und man kann sich auf das fokussieren, was verloren, was gewonnen wird oder was erhalten bleibt.]

Der Sinn ist immer eine Synthese und kann sich einmal mehr auf der Seite der Information und einmal mehr auf der Seite der Mitteilung befinden. Diese Geschmeidigkeit und die damit einhergehende flexible operative Anschlussfähigkeit deutet auf eine grosse Reichweite dieses Mediums hin.


Sinn in der Systemtheorie. Die bisher entwickelten Gedanken weisen in verschiedene Richtungen. Die reichhaltigen philosophischen Traditionen erleichtern und erschweren den Zugang gleichermassen. Man kann sich auf die Gedankenarbeit stützen, die in bereits ausgearbeiteten Theorien steckt, riskiert dabei aber eine eklektische Zusammenschau verschiedenartiger Denkweisen. Es hat sich auch gezeigt, dass das Thema Sinn sehr fluide ist, bei einem ergebnisoffenem, eher assoziativem Vorgehen durchwandert man ganze Gegenden des Denkens, ohne dass sich ein Kondensat eines Begriffes abzuzeichnen scheint. Damit ist der Bedarf für einen kompakteren Sinnbegriff angezeigt, was wiederum die Entscheidung für einen Theorieansatz nötig macht. Diese Einschränkung bedeutet aber nicht, dass wir uns an sie fesseln. Die Wahl fällt auf Luhmanns Systemtheorie, einmal, weil in ihr der Sinnbegriff eine ausgezeichnete Position einnimmt und zum anderen, weil der hier vertretene Denkansatz sich aus Gründen, die noch dargelegt werden müssen, an ihr orientiert.

[Die Frage, warum Luhmann von philosophischer Seite – sinnigerweise im Gegensatz zu seinem Kollegen Habermas – beinahe völlig ignoriert wird, wäre eine eigene Untersuchung wert. Dass er (auch von sich selbst) als Soziologe gesehen wird, greift zu kurz. Die durch ihn ausgearbeitete Systemtheorie ist tendenziell hin zum Universellen orientiert; das 'Schweigen der Philosophen' kann kaum durch ein mangelndes Abstraktionsniveau seiner Theorie erklärt werden. Eher scheint der Verdacht angebracht, dass die Philosophen Luhmann mit Nicht-Beachtung strafen, weil dieser (was selten und auf diesem Niveau wohl einmalig ist) die Philosophie zu benutzen scheint, ihre Ergebnisse in seine Theorie ein- und ihr unterordnet (siehe hierzu Walter Bühl: Luhmann Flucht in die Paradoxie). Jenseits solcher Eitelkeiten kann man der Systemtheorie allerdings vorwerfen, dass die zentralen Begriffe, auf denen sie aufbaut (z.B. 'System', 'Komplexität'), ungenügend reflektiert sind, letztlich unklar bleiben (dazu später ausführlich).]

Die Systemtheorie gründet auf der für sie zentralen System/Umwelt-Differenz. Diese ist asymmetrisch, denn nur das System ist als etwas bestimmt, die Umwelt ist – zunächst – nur das unmarkierte Äussere. Systeme bestehen aus ihren Operationen. Besonders interessieren dabei Systeme, die sich operativ schliessen, also ihre Elemente selbst produzieren. Diese Systeme besitzen keinen direkten Kontakt mehr mit ihrer Umwelt, diese trägt nur noch Ressourcen und Störungen bei; und etwas, was man etwas unscharf als Tolerierung des Systems bezeichnen kann.

Das Systems hat die kontinuierliche Aufgabe, sich seine Anschlussoperationen zu sichern, sonst hört es auf. Das Komplexitätsproblem besteht darin, dass unter mehreren möglichen Anschlussoperationen gewählt werden muss, und zwar so dass das Fortbestand des Systems und sein Wachstum (Autopoiesis) möglich bleibt. Operativ abgeschlossene System operieren nicht in ihrer Umwelt, sondern in ihrem eigenem Medium. Ein zentrales Charakteristikum eines Mediums ist seine Unbeobachtbarkeit und zwar deshalb, weil es Beobachtbares erst ermöglicht (z.B. das Licht und das Sichtbare).

Das führt zu der Unterscheidung Medium/Form. Formen sind immer Formen eines Mediums, deshalb ist die Frage nach der Einheit der Differenz von Medium und Form, von der Form aus betrachtet, eine präzisere Alternative zur Frage nach dem Sinn (siehe hierzu N.Luhmann Die Religion der Gesellschaft, Suhrkamp S. 15 f.). Ein Medium ist aus dieser Perspektive die Einheit der Differenz von loser und fester Kopplung. Lose gekoppelt sind die möglichen Elemente, die einem System für die anstehende Operation zur Verfügung stehen. Dieser Raum der Alternativen ist durch Parallelität, also durch Gleichzeitigkeit gekennzeichnet. Durch die vollzogene Operation, also die Selektion wird eine Form gebildet, also eine feste Kopplung auf der Innenseite des Systems erzeugt, dabei aber das benutzte Medium in seiner Gesamtheit reproduziert.

Durch die Systemoperationen entsteht auf dieser Innenseite eine Sequenz (von Operationen), das heisst (ein Vergehen von) Zeit. In dieser Struktur gibt es keine privilegierte Seite: Das Medium benötigt die Form genauso, wie die Form das Medium braucht. Formen können sich nur aus einem Medium bilden, doch ein Medium braucht Formen, um sich erhalten zu können. Lose aneinander Gekoppeltes, das sich nicht lokal zu grösseren Stringenz zusammenziehen könnte, also über keine Fähigkeit der Modulation verfügte, besässe streng genommen gar keine Kopplung. Aus diesem Grunde reproduziert jede Formbildung das gesamte Kopplungsfeld, also ihr Medium. Es gibt eine ganze Reihe von Medien, von verschiedener Allgemeinheit. Eines der erfolgreichsten ist der Sinn. Im Medium des Sinnes operieren gegenwärtig mindestens zwei Systeme, nämlich das psychische System und die Gesellschaft. Die Operationen des psychischen Systems sind Gedanken, die der Gesellschaft Kommunikationen.

[Luhmann, obwohl philosophisch von Husserl beeinflusst, widmet dem psychischen System nur wenig Aufmerksamkeit. Die Beschränkung der Operationen des psychischen Systems auf Gedanken dürfte verfehlt sein. Man muss hier (mindestens) Vorstellungen mit einschliessen. Gedanken lenken Vorstellungen und Vorstellungen Gedanken. Hier herrscht eine so starke Interdependenz, dass in alle vier Richtungen (G/G,G/V,V/G,V/V) operative Anschlussfähigkeit besteht. Auf welcher Grundlage die erforderliche Selektion vollzogen wird, ob durch Assoziation, durch Reflexion oder noch durch etwas anderes, braucht hier nicht zu interessieren.

Ein Gedanke schafft durch seine Fraglichkeit Platz (also die Möglichkeit und die Notwendigkeit) für ein neues Element (Gedanke), die Vorstellung durch die Unmöglichkeit eines vollständig synthetisierten Bildes – das Realisieren eines Bestandteiles einer Vorstellung erzeugt eine neue Vorstellung, eine Assoziation.

Ob auch Gefühle oder Wahrnehmungen psychische Operationen sind, ist weniger offensichtlich. Gefühle sind eher als Quelle der zugehörigen Medien fruchtbar, indem sie das Reservoir möglicher Gedanken und Vorstellungen auffrischen. Doch es gibt eine gewisse Anschlussfähigkeit, hervorgerufen durch die jedem Gefühl eigene Spannung. So kann sich einem starkem Schmerz, vielleicht durch Tränen, ein Gefühl des Friedens oder sogar der Erlösung anschliessen und wenn in diesem Prozess auch Vorstellungen und Gedanken mitlaufen, so ist das tragende System hier auf der Gefühlsebene zu finden.

Auch Wahrnehmungen sind Operationen mit Anschlussfähigkeit. Der Selektor ist hier die Aufmerksamkeit, die Entscheidung für einen bestimmten Fokus. Man kann einwenden, dass das Wahrnehmbare ein sehr instabiles Medium ist, das sich fortlaufend verändert. Doch das ist kein grundsätzlicher Einwand, denn diese Temporalisierung gilt prinzipiell für jedes Medium. Auch im Medium der Sprache entstehen neue Wörter, andere verschwinden. ]


[Dass die Gesellschaft aus Kommunikationen und nicht etwa aus Menschen oder aus Handlungen (wie noch von Habermas vertreten) besteht, ist einer der zentralen Gedanken der Systemtheorie. Bei allen, vielleicht berechtigten Einwänden kann die Fruchtbarkeit dieses Denkansatzes kaum ignoriert werden.]


Dass verschiedenartige Systeme sich ein Medium teilen, ist die Voraussetzung für operative (und nicht nur strukturelle) Kopplungen zwischen ihnen. Sprache (gegenwärtig unter Nicht-Beachtung von Sinn) ist ein Medium, in dem nicht nur das psychische und das gesellschaftliche, sondern auch das System der künstlichen Intelligenz operiert.

[Hier ist ein Punkt, wo wir uns von Luhmann trennen. Dieser sieht in der Sprache vornehmlich ein Kommunikationsmedium, als das es an Sinn gebunden bleibt. Wenn man dagegen formalen (etwa Programmier-) Sprachen, den Sprachcharakter nicht abspricht, verlässt man diesen Standpunkt. Man kann mit einer künstlichen Intelligenz sprechen (oder schreiben), aber dies ist nur von menschlicher Seite aus Kommunikation.
Das System der Gesellschaft kann demnach privat reproduziert werden, was zu theoretischen Folgeproblemen führt, die hier nicht erörtert werden. Die KI kann auch direkt operativ an das psychische System koppeln (durch strukturelle Kopplung an das neuronale System!), indem an Gedanken Operationen der KI anschliessen und umgekehrt. Ob ausser Gesellschaft, Psyche und KI noch andere Systeme in der Sprache operieren, kann hier noch nicht beantwortet werden. Dazu muss zuvor der Begriff der Künstlichen Intelligenz geklärt werden.]

Dass Sinn von zwei Systemen beansprucht, in diesen reproduziert wird, macht ihn als Einheit einer Differenz begreifbar. Er wird, umgangssprachlich gesagt, aus zwei miteinander verbundenen Polen gespeist, der Psyche und der Gesellschaft.

[Darauf ist der zweideutige Charakter der Philosophie gegründet. Philosophie ist auf der einen Seite gesellschaftlich – mit Gesprächsrunden, Vorlesungen, Veröffentlichungen, Disziplinen – bis hin zur Institutionalisierung und auf der anderen Seite psychisch-privat, als persönliches Philosophieren. Das wird auch durch die Bezeichnung des Philosophen als Denker zum Ausdruck gebracht, wodurch diese Differenz invisibilisiert wird.

Ein Denker ist als solcher beobachtbar und damit Gegenstand von Kommunikation, doch seine Gedanken selbst bleiben verborgen. Soll sich das Gedachte nicht zu stark in Kommunikationen entkoppeln, muss seine Verständlichkeit inhibiert sein. Aus dieser Sicht ist es plausibel, dass etwa Heraklit, der schon in der Antike den Beinamen 'der Dunkle' hatte oder – der über weite Strecken kaum lesbare Hegel – als Philosophen par excellence gelten. ]

Aus der Sicht des Systems wird er durch Möglichkeitsüberschuss bei Selektionszwang hervorgerufen. Sinnsysteme bestehen aus instabilen Operationen, die beim Entstehen bereits zu verschwinden beginnen. Sie müssen also, um nicht aufzuhören, fortwährend neue Operationen vollziehen. Der Selektion von jeweils einer der gegebenen Möglichkeiten entspricht die Gesamtheit des Nicht-Realisierten als Hintergrund. Dieser Horizont bleibt unthematisch und wird als potenzielle Unendlichkeit zur Quelle von Sinn, als Fülle. Diese Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit, doch auch von Unendlichkeit/Endlichkeit führt einmal dazu, dass der Bereich der losen Kopplung (Möglichkeit) als Totalität externalisiert wird, wodurch Welt entsteht und zum anderen wird die Frage welche der möglichen Operationen selegiert wird, als Wiedereinführungen der Form in die Form (als Re-entry im Sinne Spencer Browns) ins Innere des Systems kopiert.

Sinnsysteme können nur bestehen, indem sie die Komplexität ihrer Umwelt nicht nur reduzieren, sondern diese Aufgabe im System auch strukturell repräsentiert ist. Im psychischen System ist das mit Bewusstsein assoziiert. Man muss Entscheidungen treffen, doch wie? Noch in einem anderen, damit allerdings verwandtem Sinn besteht dieser Re-entry. Die Differenz Möglichkeit/Wirklichkeit wird in das System wieder eingeführt, als ein Bereich von Prä-Selektion. Die Grenze wird selbst zu einem eigenen System, in der sich aus der unthematisierten Fülle von Möglichkeiten die Kandidaten für die nächste Operation versammeln. Re-entry bedeutet hier, dass sich eine Grenze nicht nur überschreiten, sondern auch betreten lässt, sei es an der Passkontrolle oder bei einem Bewerbungsgespräch. Für diese Prä-Selektion können Systeme die Leistungen anderer Systeme über operative Kopplung in Anspruch nehmen. Kommunikationen können etwa auf Gedanken rekurrieren, in denen – von der Kommunikation aus nicht erreichbar – erwogen wird, was als Nächstes gesagt werden kann.

[Nicht so offen liegt der Fall im psychischen System. Eine Gedanke wird ja immer sofort gedacht, er kann nicht zunächst erwogen, aus einem diskreten Feld möglicher Gedanken ausgewählt werden. Allerdings lässt sich ein Gedanke verfolgen, was einer Selektion, einer Auszeichnung aus dem nur so Dahin-Gedachten gleichkommt. Es wird hier auch auf das Unterbewusste, zurückgegriffen (sei es im Sinne der Psychoanalyse oder nicht), welches nach dieser Auffassung das Selektionsgeschehen leitet und so eine eigene Sinndimension einführt (siehe hierzu z.B. S. Freud :Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten)

Man kann hierzu auch auf besser gesichertem Gebiet bleiben. Eine vor sich hin dümpelnde Wahrnehmung, zum Beispiel beim Autofahren, kann durch eine plötzliche Bewegung auf der Strasse aufgeschreckt werden. Die Aktualisierung der Wahrnehmung geschieht hier aus einem Möglichkeitsraum, den weder die Wahrnehmung noch das Bewusstsein im Ganzen im Zugriff hat (etwa über eine Lenkungsinstanz der Aufmerksamkeit, an dessen Ursprung ein 'Ich' steht). Systemtheoretisch ist das auf eine operative (?) Kopplung zurückzuführen. Auf Bewegungsmeldung spezialisierte Neuronen (Reichardt Rezeptoren), die ihrerseits diese Funktion nur aufgrund ihrer Einbindung in eine Netz-Struktur erfüllen können (sie realisieren die zeitlich verschobene Reizung lokal benachbarter Rezeptoren), reagieren ausschliesslich auf Bewegung und durch dieses selektive 'Feuern' induzieren sie Anschlussoperationen (Wahrnehmungen, Aufmerksamkeit, Reflexe) in angekoppelten Systemen. ]

 

Sinn von Geschehenem. „Der Sinnbegriff“, so Luhmann in Die Religion der Gesellschaft „wird seit mehr als hundert Jahren viel und vieldeutig verwendet (…). Nur so viel scheint klar zu sein, dass der Sinnbegriff nicht auf Dinge angewandt werden kann (Es hat keinen Sinn, nach dem Sinn eines Frosches zu fragen.“ Sinn nur in oder über die Sprache zu suchen, wäre (so viel sollte gezeigt worden sein) eine zu starke Einschränkung. Intuitiv gesehen ist Sinn insbesondere an die Lebenswelt gebunden, so dass alles in deren Horizont Begreifbare auf seinen Sinn hin befragt werden kann.

Da Sinn als Medium unhintergehbar ist, ist diese Befragbarkeit beliebig erweiterbar, ohne dass eine Grenze zur Sinnlosigkeit hin überschreitbar wäre ('Sinnlosigkeit' ist Re-entry. Die Differenz sinnvoll/sinnlos setzt bereits das Medium des Sinnes voraus und wird in dieses wiedereingeführt). Diese Universalität der Sinnfrage(n) besteht neben ihrer Selektivität. Natürlich kann man nach dem Sinn des Aussterbens der Dinosaurier fragen, doch typischerweise fragt man sich eher, welchen Sinn es hatte, durch eine Prüfung gefallen zu sein. Ereignisse, also alles was geschehen ist, sind die Sinn-Kandidaten par excellence, sie sind geradezu von der Frage nach ihrem Sinn umhüllt.

Reflektiert man auf den Sinn von Geschehenem, so stösst man auf zwei Problemkreise: Die Frage nach der Referenz von Sinn und die nach der Differenz von Selektion und Selektiertem. Ereignisse führen zu Veränderungen in Systemen, indem sie deren Selektionsbedingungen verändern. Die Referenz des Sinnes ist dort zu suchen, wo dieses Einschreiben stattfindet, sie ist also das System, dessen Strukturen durch die Realisierung des Sinnes modifiziert werden. Sinn ist immer Sinn für, ein Sinn an sich besteht nur als Externalisierung, kann aber als Leistung eines Systems zum Aufbau eines anderen (etwa eines religiösen) verstanden werden.

[Wir treffen hier wieder auf das Problem, dass ein System unter den für es bestehenden Möglichkeiten eine Wahl treffen muss, aber nicht von vornherein feststeht, wie das geschehen soll. In einem Unternehmen kann eine Sinnerfahrung zum Beispiel zu einem Strategiewechsel führen, bei einem Menschen von einer religiösen Bekehrung begleitet sein. Eine Aussage wie: 'Ich weiss jetzt, was wirklich zählt' ist als Kommunikation einer solchen Einschreibung zu verstehen, als das Vermögen, zukünftige Selektionen konsistent zur Selbstbeschreibung des Systems und effizient zu vollziehen.

Einer 'Vertiefung' von Sinn entspricht so der Möglichkeit einer stärkeren Reduktion von Komplexität. Diese Engführung kann aber zu blosser Routine, zu Verhärtung führen, wobei das durch diese rigide Selektivität Ausgeschlossene seinen eigenen Sinn in das System wieder einführt. Das führt zu einer 'Hinterfragung' des Sinnes und damit zu einer Modulation des Mediums. Sinn kann zwar nicht als Medium verloren gehen, aber die in ihm produzierten Formen besitzen begrenzte Dauer. Das ist als Verlust an Selektionsleistung beobachtbar. Jemand, der 'den Sinn verloren' hat, treibt durchs Leben, lässt sich von den äusseren Zufälligkeiten vereinnahmen. Das lässt sich dann wieder als 'Offenheit für Alles' umdeuten.]


Der Zuschreibung eines Ereignisses an einen Urheber entspricht eine Zuschreibung von Sinn für diesen Urheber. Das ist der Fall bei Entscheidungen. Nicht jedes Ereignis muss eine Entscheidung sein, aber jede Entscheidung ist ein Ereignis. Der Urheber einer Entscheidung ist eine Person (ein Mensch, eine Organisation, ein Gott). Etwas Geschehenes muss keinen Urheber haben. So muss man etwa ein Erdbeben nicht als eine Entscheidung Gottes verstehen. Aber man kann. Aus dieser theologischen Perspektive wäre allem, was geschieht, bereits ein Sinn eingeschrieben, der Sinn, den es für Gott hat, dessen Entscheidung es war. Und da Gott als Einheit aller Differenzen verstanden wird, er also jenseits einer besonderen Perspektive zu finden ist, ist ein Sinn-für Gott auch ein Sinn-an-sich. Dann käme es nicht mehr darauf an, dem Ereignis einen Sinn zu geben, sondern denjenigen Sinn zu finden, der in ihm bereits steckt.

Jenseits dieser religiösen Interpretation wird etwas Geschehene erst durch seine Folgen (also durch strukturelle Kopplung) für im Medium des Sinns operierende Systeme zu einem Ereignis, also zu einem Träger von Sinn. Wenn ein Erdbeben etwa dazu geführt hat, dass mein Haus zerstört ist, kann ich entscheiden, es wieder aufzubauen oder in eine andere Stadt zu ziehen. Die Sinnperspektive ist dabei jeweils eine andere. Da sich Sinnsysteme Kausalität besorgen können (am ausgeprägtesten das Wissenschaftssystem) können sie prinzipiell alles Geschehene zu einem Sinnträger (Ereignis) machen (die religiöse und die wissenschaftliche Perspektive sind hier isomorph).

Ereignisse, die auf Beobachtungen beruhen, zeichnen sich dadurch aus, dass die Leerstelle im Sinn für als Plural vorkommen kann.

[Damit ist die Möglichkeit rein privater Ereignisse nicht ausgeschlossen. Etwa eine Offenbarung, die Entdeckung einer Liebe, ein tiefer Schmerz. Man wird hier oft von Erlebnissen sprechen. Ein privates Ereignis kann diese Privatheit wieder verlieren, indem es seine Folgen ins soziale System einführt. Das kann direkt, etwas durch ein Anvertrauen geschehen , oder indirekt, durch kommunizierte Beobachtungen ('Etwas muss mit ihr geschehen sein').]


In diesem Fall gibt es dann eine multiple Referenz und der wahre Sinn des Ereignisses bestände dann in der Einheit dieser Differenz, die aber immer nur als aufgeschobene besteht, so dass eine fortgesetzte Neuinterpretation möglich ist; der endgültige Sinn eines Ereignisses, der durch das Erlöschen der Kontroverse angezeigt wird, ist zugleich sein Verschwinden. Der Sinn eines Ereignisses besteht so in einer immer geforderten, nie erreichten Einheit, er fungiert als Kopplungsmedium zwischen verschiedenen Systemen. Als bestehender (gefundener oder zu suchender) Sinn ist er Einheit einer Differenz, als Frage nach dem Sinn (bzw. als Kontroverse) ist er Differenz einer Einheit. Ein Ereignis, zum Beispiel eine Massenentlassung kann hinsichtlich seines Sinn eine Vielzahl von verschiedenen Systemreferenzen (bei den Betroffenen, dem Unternehmen, in den Massenmedien, eventuell im politischen System), die nicht miteinander in Deckung gebracht werden können, aber auch nicht unabhängig voneinander sind, sondern als Forderung nach einer Einheit des Sinnes miteinander verbunden bleiben.

[Eine solche Synthese kann die Form einer Verschiebung in die Zukunft annehmen. Eine Massenentlassung hätte so den Sinn, dass so etwas in Zukunft nicht wieder geschehen würde. Das vielleicht prominenteste Beispiel einer solchen Sinnform ist in Deutschland der Holocaust. Die für diese Synthese nötige Kopplung kann bei geringer Differenz etwa durch Engagement geschehen. Bei einer stärkeren Abweichung kann diese direkte Interdependenz verunmöglicht sein, sodass weitere Systeme als Mediatoren eingeschaltet werden können, etwa das Rechtssystem. Eine Entlassung kann ein Ereignis sein, dass von der Firma und dem Entlassenen sehr verschieden interpretiert wird. Dafür gibt es dann Arbeitsgerichte.

Eine Lösung, die zur Überwindung dieser Sinndifferenz gefunden worden ist, sind die Werte. Werte, so die Ehre, das Vaterland, die Freiheit, sind etwas, wofür es sich notfalls zu sterben lohnt. Woher soll die Motivation genommen werden, sehenden Auges in eine Maschinengewehrsalve hineinzulaufen? Damit etwas per se so extrem Unwahrscheinliches wie eine Schlacht überhaupt stattfinden kann, müssen die sonst möglicherweise völlig disparaten Sinnperspektiven zumindest so weit integriert werden, dass überhaupt von einem (möglichen) Ereignis gesprochen werden kann. Werte erlauben so die Antizipation, die Konstruktion möglicher zukünftiger Ereignisse, eben durch ihre Syntheseleistung.

Es ist auch zu bemerken, dass ganze Kunstgattungen von der Sinndifferenz leben, so wird in einer Tragödie etwa das gesellschaftlich Notwendige als Katastrophe des Persönlichen dargestellt. Die Unmöglichkeit eines einheitlichen Sinnes kann hier als Erschütterung realisiert werden, strukturell verweisen die Differenzen gesellschaftlich/persönlich oder auch unbewusst/bewusst, Ordnung/Begehren etc. auf das Schema positiv/negativ, auf die unmögliche Einheit der Paradoxie. Das gilt auch und zwar besonders an der äussersten Grenze, wo die Ereignisse in reiner Negativität eingeschlossen sind. Hier erzeugt die Realisierung des Grauens, die Erschütterung unmittelbar den Gegenpol, die positive Seite.

Das liegt in der Struktur des Sinns begründet. Je sinnloser etwas ist, desto mehr Sinn kann man daraus beziehen. Auch hier wieder: der Holocaust. Diese Grenze lässt sich in beide Richtungen kreuzen, auch in moralischer Lesart. Das Sinnvolle ist das Sinnlose (natürlich im Modus des Re-entry), das Gute ist das Böse. Hitler war ebenso der Gute wie Stalin oder Che Guevara, Sinn ergibt sich unmittelbar aus den Worten des Führers. Diese quasi-religiöse Struktur Unterscheidet sich von der religiösen vor allem durch ihre temporale Instabilität. Im Gegensatz zu den menschlichen Potentaten reproduziert sich Gott immer wieder als das Gute. ]

 

Sinnsysteme sind operativ geschlossen, müssen also fähig sein, zwischen sich und ihrer Umwelt zu unterscheiden. Diese Umwelt wird durch Beobachtung erschlossen, zu diesem Beobachtetem gehören selbst Beobachter, Sinnsysteme sind Beobachter zweiter Ordnung. Der Sinn eines Ereignisses ist dessen Repräsentation durch ein System, das die Repräsentationen desselben von anderen Beobachtern mit-repräsentiert und die Gesamtheit dieser Repräsentationen als transzendente Synthese setzt. Sinn ist so Einheit einer Differenz, da diese aber System-relativ ist und es mehrere Systeme gibt, am Ende die Differenz der Einheit einer Differenz.

Ein System 'weiss' also, dass ein Ereignis für andere Systeme einen anderen Sinn hat als für es selbst. Es verfügt nicht über diesen selbst, sondern nur über seine eigenen Repräsentationen von ihnen. Ein Unternehmen 'weiss', das die für es positiven Entlassungen für die Betroffenen problematisch sind und genehmigt Abfindungen, das Militär - für das die Gefallenen zusammen mit den Verwundeten und zerstörtem Kriegsgerät als Verluste abgebucht werden (das fällt unter dieselben Kategorie) – schickt einen Offizier mit Kondolenzbrief persönlich zu der Witwe. In jedem Fall geschieht die Synthese des Sinns aber systemrelativ, gemäss dessen eigener Operationsweise.

Ereignisse, insofern sie vollzogene Selektionen sind, werden zu konkreten und damit diskreten Realisierungen aus einem vorher unbestimmten Möglichkeitsraum. Damit werden sie auch von anderen Systemen aus beobachtbar. Innerhalb von diesem Aspekt der Interpretationen wird auch der Sinn konkret, nicht quantifizier- aber doch benennbar. Einer Entscheidung wird mehr oder weniger Sinn zugebilligt, dies aber immer relativ zu dem System, das die fragliche Selektion vollzogen hat. Innerhalb eines Systems kann sich ein Ereignis zu einer reinen Operation zusammenziehen, also zur Bedingung der Möglichkeit weiterer Operationen: Eine Zahlung ermöglicht weitere Zahlungen, eine Veröffentlichung anschliessende Veröffentlichungen, ein Zug in einem Schachspiel einen neuen Zug (und sei es der erste der folgenden Partie).

Das System erzeugt mit der Operation sich selbst und dabei seine eigene Zeit. Das Selektierte ist als bereits Geschehenes schon vergangen und erzeugt in diesem Verschwinden die relative Offenheit der Zukunft. Das Selektierte ist die Form, welche nicht nur ihr Medium reproduziert, sondern es als Differenz von Vergangenheit und Zukunft reproduziert: Zeit ist die paradoxe Einheit dieser Differenz. Ereignisse können zwar innerhalb eines Systems Operationen sein, es wäre aber verfehlt, sie nur als solche zu betrachten. Sie sind stattdessen Kopplungsstellen, durch die verschiedene im Sinn operierende Systeme die Einheit dieses Mediums reproduzieren. Sie werden also von verschiedenen Systemen aus selektiert, die Einheit des Ereignisses ist eine Differenz.

Schon so einfache, fast rein operationell scheinende Ereignisse wie ein Zug in einem Schachspiel eröffnet vielfältige Kopplungsmöglichkeiten: zu Gedanken (Fehler oder Falle?), zu Diskussionen, zu Aktualisierungen von Lehrbüchern, zu Berechnungen von Computern, zur Zahlung eines Preisgeldes, die Aufzählung liesse sich leicht fortsetzen. Das ist auch der Grund, weshalb es letztlich nicht wesentlich ist, ob ein Ereignis einer Person zugeschrieben wird oder nicht. Personen sind keine Systeme, sie sind – und darin Ereignissen verwandt – transzendente Einheiten der Selektionsfähigkeit verschiedener Systeme, deren Ort und deren Einheit von Beobachtern zweiter Ordnung erzeugt wird.

Personen entstehen dadurch, dass sie von Systemen beobachtet werden, sie sind für ein System ein sehr effektives Mittel, die Komplexität seiner Umwelt zu reduzieren, indem für Selektionen einfache Zuschreibungen möglich werden. Tatsächlich befindet sich etwa eine menschliche Person an einem Ort, an dem sehr verschiedenartige Systeme aneinander koppeln: kommunikative, soziale, neuronale, biochemische und andere.

Sinn von Erlebtem. Erlebnisse sind als eine Selektion des psychischen Systems zu verstehen, die sich aber nicht auf Gedanken reduzieren. Mitunter lässt sich vielleicht sagen, dass man einen Gedanken erlebt habe, typischerweise wird man aber davon sprechen, dass die Gedanken das Erlebte begleiten. Ob Erlebnisse ganz ohne Gedanken möglich ist, ist aber fraglich. Ein Schock oder ein ins Unterbewusstsein verdrängtes Trauma sind gerade dadurch charakterisiert, dass sie nicht erlebt worden sind und infolge dessen gespenstig weiter wirken. Weiterhin sind viele Erlebnisse an Ereignisse gebunden, man erlebt etwa einen Fallschirmsprung oder eine Wanderung. Erlebnisse sind in dieser Hinsicht Ereignisse aus der Perspektive eines psychischen Systems, als Erlebtes macht es sich aber als Dauerndes sichtbar.

Das Ereignis ist in seinem Inneren strukturell, das Erlebnis temporal. Wenn ein Ereignis sich ereignet, dann dauert das nicht lange, es geschieht plötzlich. Manche Ereignis sind keine oder fast keine Erlebnisse, etwa historische und manche Erlebnisse sind keine oder fast keine Ereignisse: private. Nur um diese braucht es hier noch zu gehen. Was ist also der Sinn von Schmerzen (etwa aufgrund von Liebeskummer oder einer Krankheit) und der ganzen Mühe, die das Leben macht? Was ist ist der Sinn von all dem, was wir ertragen? Man könnte hier sagen, der Sinn des Leidens ist die Erlösung; aber das ist ein grosses Wort. Es passt zu den grossen Leiden. In der Alltäglichkeit ist man mal mehr, mal weniger frustriert, gelangweilt, erschöpft. Arbeit ist nicht immer eine Plackerei, aber manchmal schon.

[Das verweist auf eine effektive Möglichkeit, Menschen zu charakterisieren. Menschen unterscheiden sich nicht so sehr durch das, was sie sich für ihr Leben wünschen, sondern durch das, was sie bereit sind, in Kauf zu nehmen.]
 

[Ein wichtiger Grund, weshalb sich aus Arbeit Sinn beziehen lässt, besteht in ihrer Autonomie gegenüber der Haltung, die vom Arbeitenden ihr gegenüber eingenommen wird. Als System betrachtet ist es für den Operationsmodus der Arbeit irrelevant, ob sie mit Freude oder mit Widerwillen gemacht wird. Arbeit muss gemacht werden. Diese Robustheit, also die geringe Irritierbarkeit durch das psychische System fördert nicht nur die Stabilität dieses Systems, sondern invertiert zur Quelle von Sinn. Weil Arbeit gemacht werden muss, wird sie selektiert (also gewählt) und weil sie selektiert wird, hat sie Sinn (sonst würde sie nicht selektiert werden). Diese Struktur lässt bis an ihre Grenzen treiben, bis zu den Absurditäten der totalen und unreflektierten Erfüllung der Pflicht, was inzwischen aber wohl kaum noch vorkommt, nicht einmal mehr beim Militär.]

 

Die Funktion von Sinn besteht darin, die Wahrscheinlichkeit von Selektionen zu erhöhen. Aus diesem Grund wird er eher mit Mühen, Versagungen und Leiden assoziiert als mit Behaglichkeit. Man fragt sich nicht, worin der Sinn eines Genusses besteht. Wenn ein stabiles Feld von Alternativen mit vorgängig zumindest moderaten Wahrscheinlichkeiten besteht, wird Sinn nicht stimuliert, das Medium bleibt im Hintergrund. Wenn ich aber trotz Müdigkeit und anderer Unlust beim Klingeln des Weckers aufstehe und zur Arbeit gehe, dann ist dafür Sinn nötig. Sonst würden viele Handlungen erst gar nicht stattfinden.

Ein Grenzfall besteht in Selektionen, deren Formen im Raum der Alternativen zwar vorhanden, aber nicht präsent sind. Durch das Ergreifen einer solchen Möglichkeit wird diese erst geschaffen und von diesem Ort aus das Medium des Sinns neu organisiert. Alexander zerschlug den gordischen Knoten, Spartakus – ein Sklave – wurde für ein ganzes Weltreich zur Bedrohung. Eine andere Kategorie besteht in Selektionen, die sich trotz ihrer Unattraktivität unmittelbar durchsetzen, die mehr eine Heimsuchung als eine Wahl sind. Hierunter fallen Schmerzen, Kummer, Sorgen, Schicksalsschläge. Das Spezifische ist die hier nur partiell mögliche Zuschreibung auf sein Ego (nicht 'Ich denke' sondern 'Es denkt mich', nicht 'Ich fühle' sondern 'Es hat mich niedergeschlagen', nicht 'Mein Wille', sondern 'Mein Schicksal'), so dass der Sinn hier eher nicht im Modus der Zugänglichkeit erscheint (z.B.: Die tägliche Plackerei hat den Sinn, dass die eigenen Kinder es einmal besser haben werden), sondern im Modus der Forderung und der Frage. Das ist aber nur eine Verschiedenheit des jeweiligen Akzentes, denn Sinn besteht immer als Differenz von Sein und Frage, beziehungsweise (fraglichem, fehlendem) Sein und Forderung.

[Fragen sind immer auch als Forderungen zu verstehen, als Forderung ihrer Antwort. Jede Frage hat ihren eigenen Imperativ, ihr ist implizit ein 'Beantworte diese Frage!' hinzugefügt. Die effektive Dringlichkeit ist aber in dem System produziert, wo die Frage auftaucht

(So etwa, wenn ein Geschäftsführer fragt: 'Warum verlieren wir in letzter Zeit so viele Kunden?' oder eine Mutter:'Wie willst Du Deine Schulnoten verbessern?' )

Es ist keine Frage möglich, ohne einen Horizont von möglichen Antworten und keine Forderung ohne einen Horizont möglicher Erfüllung. Allgemeiner formuliert: Die Frage enthüllt das Nicht-Sein am Seienden, die Forderung die Wieder-Einführung des Seienden ins Nicht-Seiende als Mögliches (und Zukünftiges). ]

 

Durch Sinn verfügt ein System über Zeit, denn die Aufwertung der Zukunft zu Lasten der Gegenwart ermöglicht den Aufbau von innerer Komplexität, von temporalen Strukturen der Planung, die auf Entsagung beruhen. Diese Figur des um zu kann im einfachsten Fall eine zirkuläre Struktur besitzen: Die Selektion von gegenwärtig Unwahrscheinlichem (Entsagung) wird durch die Vergegenwärtigung (Zu-Kunft) von zukünftig so Ermöglichtem (Genuss) möglich. (Sparen, um etwas zu kaufen; Studieren, um später mehr zu verdienen).

Diese Struktur ist scheinbar geschlossen, weil die Folgen gegenwärtiger Erscheinung präsent sind, also in der Gegenwart eine Zukunft als zukünftige Gegenwart auftaucht, in der die Gegenwart diejenige Vergangenheit ist, die sie erst ermöglicht hat (Wenn ich mich am Abend durch die Überstunden quäle, sehe ich mich dabei unter Palmen liegen und ich dabei, dass es eben diese Überstunden waren, die diesen Urlaub ermöglicht hatten). Aber die Struktur ist auch offen, weil die Zugangsweise zur Gegenwart eine andere ist als die zur vergegenwärtigten Zukunft. Erstere ist unmittelbar erfahren, letztere ist hauptsächlich eine Vorstellung. Man kann sich also immer fragen, ob die Entsagungen genügend gerechtfertigt sind und diese offen gehaltene Frage überschreitet dann dieses simple ökonomische Modell von Sparen und Verbrauch. Eine Sinnfrage kann immer tiefer gelegt, indem die bisherigen Antworten verworfen werden, doch es gibt dabei keinen Grund, der erreicht werden könnte: immer geht es um einen Überschuss von Möglichkeiten, die als Hintergrund der aktuellen Selektion mit-vorhanden sind.

[Eine eher primitive Form, diese zirkuläre Struktur zugunsten einer bestehen bleibenden Transzendenz aufzubrechen, ist der Geiz. Für ihn gibt es letztlich nichts, was die Entbehrungen rechtfertigt, der Genuss ist dann der Verbrauch, die Zerstörung des angesparten Sinns, welcher durch die Zahl des Kontostandes repräsentiert wird.]


Als Bedingung der Möglichkeit von unwahrscheinlichen Selektionen entspricht Sinn nicht lediglich einem Vorlauf in die Zukunft, sondern aufgrund der strukturellen Unterbestimmtheit einem auch zeitlich strukturierten zukünftigen Möglichkeitsraum. Man kann und muss nicht genau wissen, wozu eine gegenwärtige Entsagung oder Mühe gut ist.

In den generalisierten Kommunikationsmedien kommt dieser Umstand am deutlichsten zum Ausdruck, bis hin zur symbolischen Quantifizierung. In der entsprechenden Terminologie handelt sich dann um Investitionen, deren Produkt ein Kapital ist (z. B. als Geldmenge, Wissenskapital, Vertrauensvorschuss, guter Ruf).

Ein Kapital als Differenz von Bestimmtheit und Unbestimmtheit sowie von Qualität und Quantität, erzeugt so eine in ihrer Unbestimmtheit strukturierte Zukunft. Jenseits dieser technischen Begrifflichkeit lässt sich dies auch aus der existentiellen Perspektive fassen: Sartre spricht hier etwa vom Entwurf, durch den ein Für-Sich sich durch seine Zukunft bestimmt (im Gegensatz zum An-Sich besteht sein Sein in einer Paradoxie: Es ist, was es nicht ist und ist nicht, was es ist).

[Siehe hierzu z.B. Jean Paul Sartre: das Sein und das Nichts. In der Unbestimmtheit des Begriffes des Entwurfs spiegelt sich die Unbestimmtheit dessen, was er zum Ausdruck bringt. In seinem Entwurf wählt das Für-Sich (der Mensch) sich selbst und die Basis dieser Wahl ist das Nichts, welches das Für-Sich ist. Die Referenz dieser Wahl oszilliert zwischen Eigenschaften und Plänen. Man wählt sich etwa als grossherzig, mutig, treu oder kompetent, auf der anderen Seite entscheidet man sich für einen Haarschnitt, ein Urlaubsziel oder eine Frau. Aus systemthe­ore­tischer Sicht handelt es sich dabei um Selbstbeschreibungen, um die Selektionsfähigkeit des Systems zu organisieren.
Aus existentialistischer Perspektive spielt hier eher die Differenz Freiheit/Determiniertheit (Entwurf/Geworfenheit) eine Rolle. Man ist dadurch nicht erfolgreich, indem man sich als erfolgreich wählt, aber diese Wahl kann den späteren Erfolg wahrscheinlicher machen, wenn auch nicht determinieren. Der Entwurf ist Freiheit: Die Frage ist, was ihn von ontologischer Leere unterscheidet, was ihn an die Realität bindet. Man kommt hier wieder auf dessen innere Struktur zurück: Pläne erzeugen andere Pläne, Entscheidungen ziehen Entscheidungen nach sich, wer A sagt muss auch B sagen. Ob hier eine klare hierarchische Ordnung oder eine Netzstruktur vorherrscht, ob also die jeweils vollzogenen Wahlen in einem Grundentwurf fundiert sind, wie Sartre wohl annimmt, braucht hier nicht diskutiert zu werden. Es scheint mir nicht der Fall zu sein.
Die Unterstützung der Selektionsfähigkeit durch die getroffenen Wahlen ist nicht auf deren Konsistenz angewiesen, auch wenn Widersprüche in den Selbstbeschreibungen systeminterne Kosten verursachen.
Aus der Perspektive von Das Sein und das Nichts kann ein Entwurf, da er auf Nichts beruht, jederzeit verworfen und durch einen anderen ersetzt werden. Das Für-Sich ist zur Wahl verurteilt, aber frei in dem, als das es sich wählt. In der Ontologie Sartres gibt es keine Möglichkeit, die Konsequenzen, also die Kosten eines solchen Verwerfens/Neu-Wählens zu bewerten, geschweige denn zu quantifizieren. Bezeichnender hat der Genuss keinen Platz in diesem philosophischen System, das geschieht erst bei Levinas (siehe E. Levinas. Totalität und Unendlichkeit)]

Der Sinn des Lebens. Das Leben ist durch seine Endlichkeit charakterisiert, der Mensch hat seinen Tod. Kommunikative Systeme sind dagegen nicht auf ihr Ende hin orientiert, sondern nur auf ihr Fortbestehen. Der Tod beeinflusst die Selektionen und damit die Bedingungen, unter denen Sinn sich zeigt.

[Oft wird angenommen, dass Sinn erst durch den Tod entsteht, dass ohne den Tod nichts Sinn haben würde. Obwohl die Idee, Sinn auf das Ende des Sinnes (den Tod) zu gründen, die Auflösung der Paradoxie Sinn/Sinnlosigkeit auf ihrer positiven Seite zu suchen (die Erfahrung der Differenz von Sinn und Sinnlosigkeit gibt selbst Sinn), sicher attraktiv ist, ist sie unzutreffend.
Sinn ist die Einheit der Differenz von fester und loser Kopplung und das gilt, ungeachtet ihrer Differenzen für alle in ihm operierenden Systeme. Der Tod beeinflusst lediglich den Operationsmodus psychischer Systeme, selbst wenn soziale Systeme (Parteien, Unternehmen, Kunstgattungen etc.) gelegentlich 'um ihr Überleben' kämpfen. Aber sie haben Alternativen zum 'Tod', so Re-Organisation, Vereinigung, Verkauf.

Aus formaler Perspektive würde Sinn an die Grenze seines Verschwindens gebracht, wenn alle Alternativen gleichwertig wären, wenn es also egal wäre wofür man sich entscheidet. Das wäre auch für ein ewig fortbestehendes psychisches System nur dann der Fall, wenn dieselben Möglichkeitsräume immer wiederkehren würden, das heisst, die Welt sich durch die getroffenen Wahlen nicht verändern würden. Ansonsten beeinflusst die gegenwärtige Selektion die zukünftigen Situationen, also deren Spielräume an Alternativen. Unabhängig davon, wie man die Frage nach der Gleichheit der Mächtigkeit der beiden Unendlichkeiten entscheidet: selbst wenn dieselben Möglichkeitsräume immer wiederkehren würden: da Selektion bedeutet, sich zwischen Verschiedenem zu unterscheiden, muss auch auf der Ebene des Sinnes eine Verschiedenheit bestehen (auch für Frege und der von ihm beeinflussten Tradition besteht die Gleichheit auf der Seite der Bedeutung, nicht auf der des Sinnes.) Die eben entwickelten Gedanken sind zwar theoretisch, aber nicht weltfremd. Der (bevorstehende) Tod ist zwar ein Charakteristikum des Bewusstseins (Dasein ist Sein zum Tode, sagt Heidegger), aber es deutet nichts darauf hin, dass es als solches konstitutiv ist.

Psychische Systeme sind auch ohne ihre Sterblichkeit möglich. Das kann etwa geschehen, indem die Unstetigkeit ihrer Trägersysteme (alles, was unter der Bezeichnung Körper zusammengefasst wird) zugunsten einer reproduktiven Konstanz aufgehoben wird. Im Konkreten kann das auf verschiedenen Typen von Modifikationen beruhen: Die natürliche Alterung kann durch ein Re-Design des menschlichen Genoms abgeschafft werden, defizitäre Organe werden durch funktional äquivalente (biologische oder kybernetische) ersetzt. Oder die Grenzen der Trägersysteme werden verändert, was wegen der strukturellen Kopplung auch zur Veränderung der Grenzen der psychischen Systeme führt. So könnten Gehirne über KI-Brücken verbunden oder die Gedanken direkt in Computer eingespeist, dort verarbeitet und zurückgegeben werden. Das Verschieben und Verwischen der traditionellen Grenzen verändert die Möglichkeiten der personalen Zuschreibung und damit die Möglichkeit des Todes. Wenn die Frage 'Wer denkt?' nicht mehr schlüssig beantwortet werden kann, dann wirkt das unmittelbar auf die Möglichkeit der Beantwortung der Frage 'Wer stirbt?' zurück.

Natürlich ist ein Ende der Sterblichkeit nicht mit temporaler Unendlichkeit gleichzusetzen. Es heisst nicht, dass psychische Systeme dann ewig existieren; letztlich ist ihre mögliche Dauer in der Kosmologie begründet. Aber der Tod ist für die Selektionsmechanismen nicht mehr konstitutiv. Für einen Menschen ist der Tod – im Gegensatz zu dem, was Heidegger meint – nicht privat (als unüberschreitbare, eigenste Möglichkeit) zugänglich sondern weil der Tod anderen geschieht und auf diese Weise fremdes als zukünftiges eigenes Nicht-Sein ins eigene Sein eingeführt wird. Ein Sein-zum-Tode eines Dasein ist nur möglich, weil es Seinesgleichen gab, das es nicht mehr gibt.]

 

Die Struktur des Todes beruht auf der Differenz endlich/unendlich. In der endlichen Zahl von Selektionen bricht sich die unabgeschlossene Unendlichkeit der Welt. So muss jede getroffene Wahl die Last tragen, dass sie und nicht eine der vielen anderen für immer verworfenen Möglichkeiten realisiert worden ist. Die Nähe des Todes kontrastiert die Endlichkeitsstruktur (des Diskreten) der Selektionen zur Unendlichkeit des Mediums und zwar so, dass das Unendliche im Endlichen (nicht umgekehrt!) enthalten ist wie der Inhalt in einer Form. Die Grenze ist hier von beiden Seiten aus zu kreuzen. Vom Endlichen zum Unendlichen und vom Unendlichen zum Endlichen. Aber sie ist nicht zerstörbar, sondern reproduziert sich durch diese Operationen: In einem letzten Gespräch im Angesicht des Todes mit der geliebten Person scheint zwar Unendliches auf, als Liebe, Seele, Anwesenheit Gottes, doch diese Transzendenz ist nur über Konkretes, über vollzogene Selektionen (Worte, Gesten, oder auch Blicke) möglich, die sich mit dieser Unendlichkeit (über den Tod hinaus!) aufladen. Von der anderen Seite der Grenze aus sind es dann die Worte, Gesten und Blicke, die in der – vielleicht göttlichen – unendlichen Transzendenz vorkommen, wo der Tod keine Bedeutung hat.

Die letzten, etwas blumigen Sätze bringen zum Ausdruck, dass die Präsenz des Todes Entropie aus dem Feld der möglichen Selektionen exportiert (Wenn nicht mehr viel Zeit bleibt, kommt es mehr darauf an, wofür man sich eben jetzt entscheidet, als wenn man das jetzt Verworfene immer noch irgendwann später nachholen kann.). Die Endlichkeit des Lebens und die Universalität der Sinnfrage machen es möglich, dass auch nach dem Sinn des Lebens gefragt werden kann, was wiederum voraussetzt, dass man auf sein Leben von aussen blicken kann.

Der Tod ist eine Paradoxie des psychischen Systems. In dessen operativem Modus stellt auf der Seite der Fremdreferenz der Tod keine Grenze dar. Ein Bewusstsein kann ohne weiteres Situationen denken oder vorstellen, in denen es nicht mehr vorhanden ist. Als Reflexion – und Bewusstsein ist als Einheit von Selbst- und Fremdreferenz immer auch Reflexion – setzt sich das psychische System aber zugleich als vorhanden, denn es ist es ja selbst, welches sich als tot denkt/vorstellt. Der

Zugang zum Tod ist also nur über eine Paradoxie möglich; als eine Operation welche die beiden Seiten einer Unterscheidung zugleich auswählt.


[Es ist missverständlich zu sagen, dass der primäre Zugang zum Tod der der Angst sei, eine Angst vor dem Tod. Diese Angst ist bereits eine Interpretation und keineswegs ohne Alternative. Man kann den Tod auch mit Sehnsucht oder ruhigem Bedauern erwarten, sogar mit Gleichgültigkeit. Von der Sache her ist er eine Paradoxie des psychischen Systems, sonst nichts.]

 

Die Frage ist nun, wie sich diese Paradoxie des Todes auf die Möglichkeit der Beantwortung der Frage nach dem Sinn des Lebens auswirkt, welche Möglichkeiten der Entparadoxierung also bestehen. Drei Modi in Bezug auf diese Grenze lassen sich angeben: sie zu vermeiden, sie zu modifizieren und ihre Struktur zu nutzen.

Erstens kann also der (eigene) Tod ignoriert werden, das Bewusstsein kreuzt dann die Grenze nicht, die es einer Paradoxie aussetzen würde. Das ist möglich, weil der Operationsmodus des Bewusstseins nicht auf dieser Differenz basiert, von ihr also unabhängig ist. Im Gegenteil: die temporalen Entwurfsstrukturen des Bewusstseins in (s)eine Zukunft müssen erst eine bestimmte Komplexität aufgebaut haben, damit das Kreuzen dieser Grenze zunächst gelegentlich erfolgt. Es gibt also so etwas wie eine natürliche Ignoranz.

Diese betrifft zum Beispiel Kinder, insbesondere für sehr junge, aber schon sprachfähige Kinder ist der Tod entweder noch gar nicht vorhanden oder nur wenig präsent. Meistens schwindet diese natürliche Ignoranz, wenn Kinder den Tod von jemandem, den sie kennen, erfahren oder wenn sich ihr Gedächtnis zunehmend zeitlich strukturiert, also das Bewusstsein entsteht, ein Alter zu haben. Die Ignoranz des Todes als Möglichkeit nicht so weit zu denken besteht aber auch später, sein es als Absorption in der Alltäglichkeit oder in der Demenz.

Dass die Verkürzung des Zeithorizontes notwendigerweise (wie im Fall der Demenz) mit einer Reduktion von innerer Komplexität verbunden ist, kann dennoch nicht angenommen werden. Das betrifft lediglich die Komplexität der Selbstreferenz, auf der Ebene der Fremdreferenz kann auch Komplexität aufgebaut werden (Der Mensch ist dann nicht so mit sich selbst beschäftigt, sondern mit dem, was er tut).

Die Ignoranz des Todes, beruht, wenn sie nicht natürlich ist (bei Kindern oder geistig Eingeschränkten) auf einer schwachen Grundlagen. Sie kann jederzeit durchbrochen werden durch Ereignisse der Periodizität (Jahreswechsel, Geburtstage), die das Leben als eine begrenzte Zeitspanne aufweisen, die – vielleicht langsam – aber unerbittlich vertickt. Komplementär dazu gibt es irreguläre Ereignisse, welche die eigene Vergänglichkeit direkt anzeigen: Krankheiten, der Tod von Bekannten, die Entdeckung von Zeichen der Alterung etc.

Die Ignoranz des Todes als Verbergung des Kreuzens der Grenze (wahrscheinlich ist es das, was Heidegger – uneigentlich pejorativ – als 'uneigentlich' bezeichnet) ist sicher als eine Flucht zu verstehen, in dessen Folge der Tod zu einem Gespenst wird. Auf dieser Ebene, wenn auch positiv formuliert, ist auch die (letztlich dumme) Maxime zu verstehen, dass man jeden Tag so leben sollte, als wenn es der letzte sei. Der Tod wird so ganz nah herangezoomt, das Kreuzen der Grenze geschieht als Weigerung, auf der anderen Seite zu verbleiben. In dieser Oszillation, der Repräsentation, dass auf der anderen Seite Nichts ist, soll die Unendlichkeit des Todes in die Endlichkeit des Lebens als Transzendenz hineingepumpt werden. Ein solcher Operationsmodus ist zwar angesichts der Nähe des Todes natürlich (wo sich in einem Sonnenstrahl, im Flug einer Mücke nicht nur die Schönheit des Lebens, sondern das ganze Universum selbst spiegeln kann) in der Alltäglichkeit wird eine solche Intensitätssteigerung aber leicht zu einer Überspanntheit. Ein Ausweg kann gesucht werden, indem die natürliche Nähe des Todes künstlich erzeugt wird, etwa durch Abenteuer, Extremsportarten, Teilnahme an Kämpfen und Kriegen.

Der zweite Modus gegenüber dem Tod besteht in der Modifikation der Grenze, die er darstellt. Damit ist eine Form des Re-entry bezeichnet, die die Differenz von Sein und Nicht-Sein auf der Seite des Nicht-Seins wiedereinführt: das Leben wird in den Tod hineinkopiert. Der Preis einer solchen Operation besteht im Erzeugen einer neuen Differenz, nämlich beobachtbar/unbeobachtbar. Diese neu erzeugte Differenz macht innerhalb des Sinnes ein eigenes Medium notwendig, den Glauben. Im Medium des Glaubens findet der Tod nur auf der Seite des Beobachtbaren statt, im Unbeobachtbaren (das hier die positive Seite der Differenz ist) besteht dagegen ein ewiges Leben. Der Glaube erlaubt, wie alle komplexen Medien, selbst ein Re-entry, die Einführung der Differenz beobachtbar/unbeobachtbar ins Beobachtbare. Innerhalb des Beobachtbaren gibt es dann topologische Orte (Orte, Zeiten, Situationen, Personen) wo die Grenze beobachtbar/unbeobachtbar porös ist, wo das Jenseits in das Diesseits einbricht (was durch religiöse Praktiken provoziert und kanalisiert, also in Schranken gehalten wird) oder zumindest Informationen liefert. In diesem Umfeld sind Magie, Offenbarungen, Wunder anzusiedeln. Im Medium des Glaubens ist der Tod kein Ende, sondern ein Übergang, wodurch die ursprüngliche Paradoxie verdeckt und damit entfaltet worden ist. Ein Problem dieser Lösung besteht darin, dass das Medium des Glaubens (auch, weil es strukturkonservativer ist) im Gegensatz zu dem des Sinnes überschritten werden kann.

[Glauben ist ein eigenes Medium und als solches von Gewissheit abzugrenzen. Glauben kann die Form von Gewissheit annehmen, aber nicht jede Gewissheit ist ein Glauben. Das Feld der Gewissheit definiert den Raum, in dem Erfahrungen möglich sind. Erfahrungen sind kontingent, sie können gemacht werden oder auch nicht, sie hätten so oder auch anders ausfallen können. Das was gewiss ist, wird dagegen nicht erfahren, das Gewisse liefert das Koordinatensystem, in dem Kontingentes stattfinden kann. Deshalb ist es als solches unthematisch.

Wenn das Gewisse thematisiert wird, etwa weil eine Erfahrung gemacht wird, die es widerlegt, kann es diesen Status verlieren, wodurch das Medium reorganisiert wird. Gewisses kann als solches verschwinden, aber nicht das Medium der Gewissheit selbst (Siehe hierzu L.Wittgenstein: Über Gewissheit oder R.Descartes: Meditationen). ]

 

Man kann an seinem Glauben zweifeln oder von ihm abfallen, dann kommt wieder die ursprüngliche Paradoxie zum Vorschein. Innerhalb des Glaubens ist dennoch das Problem zu lösen, wie die Endlichkeit des beobachtbaren zur Unendlichkeit des unbeobachtbaren Lebens in Beziehung gesetzt werden kann, die Paradoxie endlich/unendlich ist also nicht invisibilisiert, sondern nur verschoben. Eine Lösung, die sich hier anbietet, ist, diese Differenz zur Seite der Unendlichkeit hin aufzulösen.

Das unendliche Leben besteht dann aus einer unendlichen Kette von endlichen Leben, so dass die Endlichkeit des Lebens nur noch aus den Schranken von Geburt und Tod besteht, die das aktuelle Leben in relativer Isolation halten. Die Frage, ob es Möglichkeiten des Gedächtnisses gibt, mit denen frühere Existenzen erinnert werden können, kann unterschiedlich beantwortet werden. Eine solche Lehre macht aber nur Sinn, wenn es irgendeine Verbindung zwischen den verschiedenen Inkarnationen gibt (die strenggenommen sonst nicht einmal aufeinander folgen), wenn also das jetzige Leben die folgenden Wiedergeburten beeinflusst. Dass damit die Möglichkeit einer Ethik eröffnet ist, ist hier nicht von Interesse: aus struktureller Perspektive ist die Frage zu beantworten, worin das Ziel denn bestehen soll, was also als eine ideale Wiedergeburt gelten soll. Man riskiert hier eine unendliche Debatte, die vielleicht letztlich um Präferenzstrukturen kreist und eine solche Offenheit an einem so neuralgischen Punkt ist für ein Glaubenssystem nicht tragbar. Logisch gesehen kann eine beste Wiedergeburt nicht von wieder schlechteren gefolgt werden, sonst wäre sie nur temporär gut, nicht aus der Perspektive des gesamten Systems. Eine optimale Reinkarnation kann dann nur von einer unendlichen Reihe von ebenfalls optimalen Reinkarnationen gefolgt werden, was die Differenz der realisierten Inkarnation von der ihr folgenden unendlichen Reihe obsolet macht. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zur Idee des Nirwanas.

[Das Nirwana ist nicht nur als die Einheit der Differenz von Leben und Tod oder von Endlichkeit und Unendlichkeit, sondern als die Einheit aller Differenzen zu verstehen (wie in anderer Form: Gott). Es zielt also direkt auf den Ursprung der Paradoxie. Es ist zu sehen, dass der Buddhismus der Systemtheorie mitunter recht nahe ist, auch weil er als Ursache der Wiedergeburt das Festhalten sieht. Das Begehren ist als eine Garantie anzusehen, durch die das Bewusstsein sich seine Operationsfähigkeit sichert und diese strukturiert.]

 

Ausser der Reinkarnation kann das Problem der Differenz zeitliches/ewiges Leben auch durch ein Jenseits gelöst werden. Hier ist die Frage nach der Form des jenseitigen Lebens zu beantworten. Dieses kann als eine Schattenwelt postuliert werden. Dabei ist nicht nur fraglich, wie das jenseitige Leben aussieht, sondern auch, wie es beeinflusst werden kann. So kann man dem Toten etwa Waffen, Schmuck und andere Utensilien ins Grab mitgeben und damit dessen ewiges Leben zu gestalten versuchen.

Eine erfolgreiche Lösung besteht in der manichäischen Dualisierung des Jenseits in einen positiven und einen negativen Bereich. Zu einer solchen Organisation des Jenseits gehört dann noch eine Kanalisierungsinstanz (ein Jüngstes Gericht) , das die Seelen in Himmel und Hölle sortiert. Diese in den Hochreligionen verbreitete Entfaltung der Paradoxie des Todes belastet sich aber erstens mit der Unsicherheit, wie das himmlische Leben erreicht werden kann und zweitens mit der unrealisier­baren Zumutung, dass den wenigen Jahrzehnten irdischer Existenz die Verantwortung für eine Ewigkeit aufgebürdet wird.

Aus theologischer Perspektive lässt sich fragen, wo sich die Seele vor der Geburt befand. Wurde sie

im Moment der Geburt erschaffen, so ist unplausibel, dass etwas, das erschaffen wurde, nicht auch wieder vernichtet werden kann. War die Seele aber bereits bei Gott, so ist man mit dem Problem konfrontiert, dass Gott im Laufe der Zeit immer mehr Seelen an den Teufel verliert, was nicht nur seine Güte, sondern auch seine Allmacht zur Disposition stellt.

Es bleibt die dritte Möglichkeit zu diskutieren, die Paradoxie des Todes zu entfalten. Diese beruht auf der Differenz von Medium und Form. Die Realisierung des Todes besteht darin, dass die psychischen Operationen auf der Seite der Fremdreferenz aufgehört haben. Die Differenz der im Vollzug dieser Operationen stattfindenden Formbildungen (die wegen des erfolgten Todes nicht mehr stattfinden) zu ihrem Medium erlaubt hier ein Kreuzen der Grenze auch auf der Seite der Fremdreferenz. Anders gesagt: Der Sinn ist vom Tod nicht in gleicher Weise betroffen, wie das, was in ihm operiert. Eigener Sinn (also Sinn, in dem das Bewusstsein operiert) lässt sich auch hinter die Grenze des Todes verschieben, was auf dieser Ebene den Tod verschwinden lässt, ihn zumindest invisibilisiert. Dieses Kopieren kann einerseits auf der Seite der Formen geschehen, also als Strukturen fester Kopplung von relativer Dauer, welche das Medium des Sinns regenerieren und in diesem selbst Formbildungen induzieren. Andererseits kann der Selektionsmechanismus selbst kopiert werden, einer 'Weiterleben' also durch die Entkopplung der Selbstbeschreibung von seinem System erreicht werden. Es sollte klar sein, worauf diese formalen Beschreibungen hinaus wollen. Im ersten Fall handelt es sich um Dinge (Weiterleben durch Werke), im zweiten um Prägungen (Weiterleben in anderen Menschen).

Werke werden als Möglichkeiten gesehen, dem Tod zu trotzen. Sie sind das, was bleibt. Auf dieser Ebene sind nicht nur Erfindungen, Kunst- und Bauwerke, Firmen und Imperien zu verstehen, sondern auch vererbte Gegenstände, gepflanzte Bäume. Jenseits einer durch Notwendigkeit diktierten Arbeit, definiert ein Mensch sein Schaffen durch das, was ihn überdauern soll. Das Problem ist, dass damit zwar der Tod als Grenze unsichtbar wird, dass aber die Seite der Endlichkeit nicht verlassen wird. Die Grenze wird verwischt, nicht zum Verschwinden gebracht. Die Asymmetrie des endlich langen Lebens im Vergleich zum unendlich langen Tod bleibt bestehen, auch wenn man das Leben nicht an die Operationen des Bewusstseins, sondern stattdessen an deren Sinn bindet. Ein Erbe wird aufgebraucht, selbst Weltreiche zerfallen. Man verewigt sich nicht durch seine Werke. Auf lange Sicht ist die Zukunft durch die Gesetze der Kosmologie vorgegeben.

Jenseits seiner Werke kann man den Tod auch durch Nachfolge überschreiten. Indem nicht nur die Formen, sondern die spezifische Fähigkeit zu Sinnbildung übertragen wird, lebt man durch diese so Geprägten fort. Ein dafür geeignetes Konzept ist das der Seele. Sie ist zwar typischerweise an eine Person gebunden, kann aber auch in eine andere Seele eingehen, ohne in ihr aufzugehen. Man kann in einer anderen Person fortleben. Der Sinn des Lebens als Invisibilisierung der Paradoxie des Todes kann also in anderen Personen gesehen werden. Diese Struktur findet sich in der romantischen Liebe, sogar in der Idee der Kameradschaft an der Front. Typischerweise sind es aber die eigenen Kinder, die einen solchen Bezug von Sinn ermöglichen. Das liegt einmal darin, dass zu erwarten ist, dass diese voraussichtlich eine erhebliche Zeitdauer länger als man selbst leben werden und so einen Fortbestand von Sinn ermöglichen und zum anderen gestatten sie aufgrund ihrer ursprünglichen Bedürftigkeit eine Prägung (was als ein Weiterleben in ihnen verstanden werden kann). Auch und gerade dort, wo die Kinder keine Investition sind (als Altersvorsorge, als Hilfe in Haus und Hof), sind sie es, die Sinn geben. Je länger und komplexer sie in Abhängigkeit zu ihren Eltern verharren, je mehr sie also nehmen, desto stärker werden sie von deren spezifischer Sorge geprägt, desto mehr übernehmen sie von deren Selektionskriterien und weil sie von ihnen desto stärker geprägt worden sind, geben sie ihnen desto mehr Sinn. Die Sinnperspektive verhält sich also zur Sorgeperspektive komplementär.

Die beiden Strategien, die verkürzt als 'Werk' und 'Kinder' bezeichnet sein mögen, sind strukturell eng verwandt. Es handelt sich um ein Verwischen der Grenze (des Todes) im Modus der Endlichkeit. Damit wird die Diskontinuität, welche durch den Tod ins Medium des Sinnes eingeführt worden ist, aufgehoben. Der Tod ist eine Grenze, die nur das Bewusstsein betrifft, nicht die Kommunikation. So kann über operative Kopplung zwischen psychischen und kommunikativen Systemen im Medium der Sprache ein Sinnkontinuum geschaffen werden, in dem Bewusstsein und Gesellschaft als zwei Pole vorkommen. Aus der Perspektive des Bewusstseins sind die dabei erzeugten Formen ein Werk, aus der Sicht der Gesellschaft stellen sie Strukturen dar, deren Anschlussfähigkeit kommunikativ erschlossen werden muss.

 

Philosophie. Darin liegt auch die Bedingung der Möglichkeit von Philosophie begründet. Philosophie lässt sich als eine Topologie des Sinns definieren. Sie wäre somit die Beschreibung der im Medium des Sinnes möglichen Formen und als solche die Selbstbeschreibung eines Systems, das über keinen eigenen Operationsmodus verfügt.

 

[Es stellt sich hier die Frage, wie die diskutierten drei Grundmodi der Entparadoxierung hier einzuordnen sind. Ein Vermeiden der Grenze, wenn es auf einem Mangel an Systemkomplexität beruht, kann wohl zu keiner nennenswerten Philosophie führen. Dreijährige philosophieren nicht.

Bei einem Fokus auf Fremdreferenz verhält es sich anders. Der Tod muss kein Thema sein. Man kann in diesem Fall oft eine gewisse Verengung des Philosophierens wahrnehmen, wobei diese Selbstbeschränkung positiv interpretiert werden kann: als nüchterne Problemorientierung im Gegensatz zu metaphysischen Wortblasen. Philosophie wird dann analog einer Wissenschaft betrieben, was etwa in Disziplinen wie der Wissenschaftstheorie oder der analytischen Philosophie gesehen werden kann.

Ob damit eigene Grenzen geschaffen werden, die zu eigenen Protowissenschaften führen, ist dabei eine andere Frage. Der komplementäre Fall hierzu liegt in einem Verwerfen der anderen Seite der Grenze vor. Ein 'Lebe jetzt und hier!' oder 'Lebe intensiv!' lässt sich zwar als 'Meine Philosophie' deklarieren, bleibt aber zunächst strukturell arm. Über eine Eingabe in kommunikative Systeme und Ausdifferenzierung lassen sich aus diesem imperativem Samenkorn Philosophien entwickeln, in deren Zentrum dann das (eigene) Leben steht und in denen (dennoch) der Tod, sollte er auch unthematisiert bleiben, eine tragende Rolle spielt.

Im Falle der zweiten Entparadoxierungslösung (Religion) verhält es sich anders. Hier gibt es einen Bereich, der durch ein besonderes Medium (Glauben) durch den Zugriff vor allgemeineren Sinnoperationen (Philosophie) geschützt ist. Es gibt dann Dinge, die nicht zu hinterfragen, sondern einfach zu glauben sind. Hier ist auf der Seite der Philosophie die Abgrenzung zu lösen, also der Bereich zu definieren, in dem sie operiert.

Diese Notwendigkeit war historisch gesehen sehr fruchtbar, weil der Bezug auf die im Vergleich zur Philosophie weniger komplexen Glaubenssysteme synthetisierend wirkt, so dass die Philosophie - sich als in dieser Abgrenzung selbst-beschreibend - ihre eigenen Grenzen und damit sich selbst als System, als eine Einheit definiert. So kann man die moderne Philosophie auch als Produkt der Auseinandersetzung mit den Selbstbeschreibungen des Glaubens (Theologie) verstehen. Das nicht nur aufgrund einer Kritik von 'aussen', sondern auch, vielleicht sogar in erster Linie durch Evolution. Man kann das etwa bei Leibniz erkennen, noch bei Hegel ist das Prägende der Theologie überdeutlich. Im Gegensatz zum Christentum hat der Buddhismus, dem indes eine besondere Nähe zur Philosophie nachgesagt wird, keine in ihrer Komplexität vergleichbare Theorie-Entwicklung inspiriert.]

 

[Topologie durchaus im Sinn der Mathematik. Der Begriff beruht auf der Differenz von offenen und geschlossenen Mengen. In offenen Mengen ist jedes Element von gleichartigen Elementen umgeben in geschlossenen Mengen nicht. Diese haben einen Rand. Topologien sind Mengensysteme und auch das im Medium des Sinnes Begegnende kann so aufgefasst werden.

Die Topologie ist eine relativ junge Disziplin der Mathematik und zunächst als ihre eigene andere Seite zu verstehen. Die Mathematik beruht auf der Differenz qualitativ/quantitativ und sie operiert typischerweise auf der quantitativen Seite. Die Topologie ist nun das Kreuzen dieser Grenze innerhalb des Systems, also die Entwicklung einer Mathematik der Qualitäten.

Auch hier wieder Re-entry: Das Quantitative erscheint in ihr wieder - als topologische Invarianten, etwa Betti-Zahlen, was sich als Anzahl der Löcher einer Struktur beschreiben lässt - und ermöglicht auf dieser Grundlage Unterscheidungen, also den Aufbau eigener Komplexität. Ein tragender Begriff in dieser Disziplin ist der der Nähe (die Klassifizierung der Topologien gründet sich darauf, welches Konzept von Nähe – welche Trennungsaxiome – in ihnen jeweils gelten, womit direkt auf den Ursprung der Differenz Qualität/Quantität gezielt wird. Als Topologie verstanden ist Philosophie die qualitative Einheit des im Medium des Sinnes Erfahrbaren.]


[Man muss der Philosophie eine Unterkomplexität auf der Ebene der Selbstbeschreibung attestieren. Gerade(!) die Philosophie unterlässt es oft, zu definieren, als was sie sich von anderen Systemen abgrenzt. Oft wird bei einer Übersetzung des Terminus ('Liebe zur Weisheit') stehen geblieben. Oder die Positivität wird als Negation einer Fremdreferenz verstanden, als 'Nicht Mythos/Religion', 'Nicht Kunst', 'Nicht Wissenschaft'. Die Spezifikation einer besonderen Grenze bleibt aber mit Kontingenz behaftet und ist nicht gleichwertig mit der Operationsweise eines Systems, das seine eigenen Grenzen zieht.

Ich denke, dieser Umstand weist auf eine Strukturschwäche der Philosophie als System hin. Die mangelnde Kohärenz und Komplexität auf der Ebene der Selbstbeschreibung ist dem Umstand geschuldet, dass die Grenzen der Philosophie von ihren verschiedenen Regionen (Philosophen, Schulen) abweichend gezogen werden. Es ist genauso zweifelhaft, ob Carnap in Heidegger überhaupt einen Philosophen gesehen hat wie umgekehrt. Ein Ausweg wird oft in der Philosophiegeschichte gesehen: statt einer Definition wird die eigene Geschichte beschrieben, ein System aus Selbst- und Fremdbezeichnungen als Philosophie.]
 

Denn Sinn ist ein Medium, dessen Möglichkeit zur Formbildung von verschiedenen Medien geteilt wird (psychische und gesellschaftliche Systeme), es ist nicht das Medium eines Systems. Zwar befinden sich Bewusstsein und Gesellschaft in einer Ko-Evolution, doch es bleibt bei zwei verschiedenen Systemen, nicht um zwei Subsysteme eines übergeordneten. Ausserdem ist nicht auszuschliessen, dass sich auch andere Systemtypen das Medium des Sinnes erschliessen, was diesen dann eine Teilhabe an der Philosophie verschaffen würde.


[Zu denken ist hier zunächst an die Künstliche Intelligenz. Aber auch an ausserirdische Intelligenzen. Von der Seite des theoretischen Science Fiction wäre hier die Möglichkeit und mögliche Beschaffenheit von Intelligenzen, die nicht auf den gekoppelten Systemtypen Bewusstsein/Gesellschaft beruhen. Sehr interessant – und unerreicht – hierzu: S. Lem Solaris.]


Als Topologie besteht die Philosophie einerseits in der Ermöglichung eines – mathematisch gesprochen – Homöomorphismus des im Medium des Sinns Begegnendem zu sich selbst und zum anderen in der Produktion einer Zuschreibungs-Komplexität des Sinnhaften, also in einer Selbst-Beschreibung der operativen Kopplung zwischen Bewusstseins- und Gesellschaftssystem.

 

Philosophie als Homöomorphismus. Durch einen Homöomorphismus können Strukturen gleicher Topologie ineinander überführt werden. Man kann sich das bei dreidimensionalen Formen als Verformungen durch Dehnen, Stauchen und Biegen, nicht aber durch Zerschneiden und Ankleben vorstellen. So lässt sich ein Würfel in eine Kugel aber nicht in einen Ring überführen, der Ring in eine Tasse (mit einem Henkel) aber nicht in einen Teller. Der Homöomorphismus selbst ist eine bijektive stetige Abbildung zwischen topologischen Räumen, der jedem Punkt des einen Raumes auf einen des anderen abbildet. Als Beschreibung beansprucht die Philosophie wie alle selbstreferentiellen Systeme Geschlossenheit auf der selbst- der Selbst- und Offenheit auf der fremdreferentiellen Ebene. Alles sinnhaft Begegnende lässt sich einem Ort in der Philosophie zuordnen und jeder dieser Orte in Beziehung zu allen anderen Orten des philosophischen Systems setzen.

 

[Man kann einwenden, das keineswegs alle Philosophen alles Sinnhafte behandeln. So verstehen sich die Vorsokratiker als reine Naturphilosophen, für die Sophisten ist im Gegenzug der Mensch das 'Mass aller Dinge'. Doch das System, in das die einzelnen Gedankenwelten sich einordnen, hat seine internen Bezüge so organisiert, dass kein Ausschluss von Sinnformen erfolgt.

Die Philosophen selbst sind sich dieses Anspruches oft bewusst und behelfen sich damit, dass sie ihre Systeme in verschiedene Bereiche teilen, also poröse Grenzen einrichten. So bestehen die Lehrgebäude der Stoa aus Physik, Logik und Ethik, Hegel schrieb Bücher über Logik, Natur-, Rechts- und Geschichtsphilosophie (und anderes), noch Russell befasste sich mit allem Möglichen.

In jüngerer Zeit ist eine verstärkte Selbstbeschränkung der akademischen Philosophie zu beachten. Sollte der Trend einer stärkeren Selektivität der Referenzen anhalten, ist zu erwarten, dass aus ihr heraus Disziplinen sich als Wissenschaften formieren und damit aus der Philosophie austreten.]

 

Dabei entstehen Inkonsistenzen in Form von Widersprüchen, ungelösten Problemen, Strömungen oder auch nur Schwerpunktsetzungen, doch letztlich bleibt die integrative Leistung der Philosophie erhalten. Sie besteht darin, dass über diese Transformation in der Selbstbeschreibung des Sinnhaften alles im Medium des Sinnes Begegnende eingeordnet werden kann, seinen Platz erhält. Der Homöomorphismus organisiert die Differenz von Nähe und Ferne der Formbildungen des Mediums und ermöglicht so Orientierung.

[Ein Beispiel soll das illustrieren. Sartre beschreibt in Das Sein und das Nichts das Für-Sich als eine Transzendenz, die durch den Blick des Anderen sein Objekt-Sein erfährt. Diese Entdeckung - ein Objekt zu sein - ist die Scham. Das Für-Sich kann sich im Nachhinein dieses Objekt-Sein, als das es sich erfahren hat, zu Eigen machen - als Stolz.

Scham und Stolz sind aus ontologischer Perspektive also fast identisch, damit ist eine Nähe angezeigt, die auf der Ebene des Alltagsbewusstseins eher nicht besteht.

Die im Zuge solcher Homöomorphismen realisierten Erkenntnisse können Orientierung geben und auch das Leben im Konkreten beeinflussen. Auch wenn die Kommunizierbarkeit nicht immer gegeben ist: Man sollte die in Vorstellungsgesprächen beliebte Frage 'Worauf in Ihren früheren Tätigkeiten sind Sie besonders stolz?' nicht unbedingt mit einem Vortrag über existentialistische Ontologie beantworten – oder doch (?).

Die jeweilige Besonderheit dieser Rekonstruktion der Differenz von Nähe und Ferne charakterisiert eine Philosophie. Und macht sie kritisierbar. Wenn Heidegger etwa sagt, Ackerbau sei 'jetzt motorisierte Ernährungsindustrie, im Wesen das selbe wie die Fabrikation von Leichen in Gaskammern und Vernichtungslagern (...)' dann deutet der hier zum Ausdruck kommende Homöomorphismus darauf hin, dass dem dahinter stehenden philosophischen System allenfalls eine Schein-Präzision zuzubilligen ist, das mindestens in ethischer Hinsicht unzuverlässig ist (ein Umstand, der Levinas zur Entwicklung einer ethischen Metaphysik gedrängt hat).]

 

Philosophie als Beschreibung operativer Kopplung. Philosophie gehört sowohl dem Bewusstsein als auch der Gesellschaft zu und die Unschärfe der Zuordnung ist es gerade, das sie ausmacht. Menschen (und nur sie) philosophieren, entwickeln eigene Philosophien und beginnen Reden mit „Meine Philosophie ist ...“. Aber auch soziale Systeme (Unternehmen, Vereine, Staaten) präsentieren sich so und sagen: „Unsere Philosophie ist ...“. Die Philosophie transformiert die operative Kopplung zwischen Bewusstsein und Gesellschaft zu einem Spektrum, in dem sie sich selbst verortet. Die Referenz der Orientierungsleistung der Philosophie kann einmal mehr der einzelne Mensch, also das psychische System, ein anderes mal in stärkerem Masse die Gesellschaft sein. Auch im ersten Fall bleibt sie an die Universalität der Sinnformen gebunden, wenn sie nicht zu reiner Lebenshilfe degenerieren soll.

Bei aller Kopplung an Gefühle, Wünsche, Vorstellungen und andere phänomenologischer Entitäten geht es bei einer philosophischen Interpretation von privaten Erfahrungen immer darum, sie in einen nicht-privaten Möglichkeitsraum von Sinn einzuordnen. Auf der anderen Seite bleibt auch bei einer gesellschaftlichen Referenzorientierung die Bewusstseinsrelevanz bestehen. Philosophie ist dadurch gekennzeichnet, dass sie eben nicht bestimmten gesellschaftlichen Systemen dient, also eine Distanzierung von einem instrumentellen Operationsmodus aufrecht erhält. Demgegenüber vollzieht sich das Wissenschaftssystem zwar ebenfalls in seinen eigenen Operationen, auf der Ebene der operativen Kopplung - seiner Leistungen - besitzt es aber eine instrumentelle Komponente und verzichtet so auf die Universalität des Sinnhorizontes an der Stelle, wo Sinn systemextern wird, wo die Wissenschaft produziert, was ihr aufgetragen wurde: Studien, von der Industrie finanzierte Forschungen etc. . Man kann die Präsenz des psychischen Systems in der Philosophie auch daran erkennen, dass sie nicht auf ein Referenzsystem von Namen (von Menschen) verzichten kann, der konkrete Mensch systemkonstitutiv bleibt.

 

[Man kann hier die Frage stellen, ob diese Namen nicht letztlich nur Designatoren sind, auf die innerhalb des philosophischen Systems verzichtet werden könnte. Philosophiegeschichte wäre dann reine Problemgeschichte und der philosophische Betrieb bestände im Finden und Lösen von Problemen. Die notwendig bleibende Referenzierung könnte durch eine anonyme Nummerierung aller relevanten Dokumente erfolgen. Trotz einer scheinbaren Plausibilität muss die Frage nach der Möglichkeit einer Philosophie, in der die Philosophen (wie die Wissenschaftler in der Wissenschaft) systemextern sind, negativ beantwortet werden. Das jeweilige Denksystem Einzelner konstituiert Grenzen, die innerhalb der Philosophie im Ganzen relevant bleiben.

Die Philosophie beruht auf zwei Systemen von Grenzen: das eine orientiert sich auf Personen, das andere auf Probleme. Die Reaktualisierung der Kopplung zwischen beiden ist ein bleibendes Thema und die Grundlage des spezifischen Operationsmodus der Philosophie. Auf der personalen Seite besteht hier die Möglichkeit, zu einer Art Kontext-Philosophie überzugehen und Fragen der Art zu stellen: 'War Heidegger ein Nazi?', 'Was bedeutet Nietzsches Wahnsinn für sein Werk?', 'War Marx ein schäbiger Mensch', bis hin zur reflexiven Einführung der Person in ihr Werk ('Worin bestand die Neurose Freuds?') oder endlich zur Ironisierung solcher Psychologisierungen (Sehr gekonnt in La vie sexuelle d'Emmanuel Kant des fiktiven Autors Botul, wo 'gezeigt' wird, dass das ganze Kantsche Denkgebäude aus dessen unterdrückter Sexualität zu erklären sei; das 'Ding an sich' nimmt hier eine prominente Rolle ein.)

Wenn Philosophie sich dagegen zur Seite der Probleme hin orientiert, so dass die Philosophen in der Hauptsache Menschen sind, die Beiträge leisten, dann entsteht eine andere Dynamik. Es werden bestimmte Problemtypen prominente Positionen einnehmen und von ihren aus werden sich die Strukturen der Referenzen organisieren. Wenn die Grenzen ganz von dieser Seite aus gezogen werden, können sich von solchen Kristallisationspunkten aus Subsysteme ausdifferenzieren. Wissenschaften entstehen. Auf der Seite der Philosophie, wo diese Selbst-Exklusion beobachtet wird, kann das Gleichgewicht zwischen personaler und problemorientierter Referenz anschliessend wieder neu ausgehandelt werden.]

 

Die fehlende Instrumentalität der Philosophie wird bisweilen als Mangel verstanden und kann zu grösserer Formenstrenge führen und zu der Tendenz, eine ideale Philosophie als eine wissenschaftliche Disziplin misszuverstehen.

[Von aussen wird die Philosophie oft wegen ihrer mangelnden Nützlichkeit ('Wozu braucht man Philosophen?') kritisiert, intern bezieht man sich eher auf die Fraglichkeit ihres Fortschreitens. Im Gegensatz zur Wissenschaft ist bei der Philosophie nicht von vornherein klar, ob in ihr überhaupt ein Fortschritt stattfindet und wenn doch: worin dieser dann besteht. Unnachahmlich hierzu Kant: 'Es scheint beinahe belachenswert, indessen dass jede andere Wissenschaft unaufhörlich fortrückt, sich in dieser (der Metaphysik – S.H.), die doch die Weisheit selbst sein will deren Orakel jeder Mensch befrägt, beständig auf derselben Stelle herumzudrehen, ohne einen Schritt weiterzukommen.' (Prolegomena zu einer jeden Metaphysik).

Solche interne Kritik kann am Beginn zu fruchtbaren Entwicklungen führen. Typisch ist hier eine Orientierung an der Mathematik, die wegen ihrer Sicherheit geschätzt wird. So verfasste Spinoza eine Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt (die Einheit einer bemerkenswerten Differenz). Ein etwas anderes Bestreben verfolgen Spencer Brown und Gotthard Günther; sie scheinen nach dem Punkt zu suchen, wo Mathematik (Logik) und Philosophie konvergieren, nach einer Logik, in welcher die Differenz formal/philosophisch noch keine Rolle oder keine Rolle mehr spielt.

Die Wissenschaft wirkt oft wie ein grosser Schatten der Philosophie. Aus einer selbstdiagnostizierten Minderwertigkeit entwirft diese dann Programme gegen diesen Mangel. Sie will selbst zur Wissenschaft werden. Dass der dialektische Materialismus sich als die (einzige !) wissenschaftliche Philosophie bezeichnete, wird man als dumme Anmassung abtun, auch bei Hegels Wissenschaft der Logik kann man 'Wissenschaft' getrost in Klammern setzen. Aber es gibt auf dieser Ebene auch Programme mit mehr Substanz, man denke etwa an Husserls Phänomenologie als strenge Wissenschaft oder - am wirkungsmächtigsten und zweischneidigsten – an die analytische Philosophie.

In der von mir vertretenen Sichtweise kann Philosophie niemals eine Wissenschaft sein. Eine Wissenschaft setzt eine Selbstbeschrän­kung der für sie zugänglichen Sinnformen (also – grob gesagt – das, was ihr Gebiet, ihr Thema, ihre Methode ist) voraus, denn nur so kann sie über die von ihr erbrachten Leistungen an andere soziale Systeme koppeln. Philosophie dagegen, als Topologie des Sinns erzeugt solche Schranken eben nicht als Systemgrenzen (nur als innere Grenzen zur Subsystembildung: Metaphysik, Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie, Naturphilosophie etc.; die Klassifizierungssysteme selbst lassen sich infrage stellen – ihr Systemcharakter ist schwach ausgeprägt), der Horizont der Philosophie ist immer der des Sinns selbst.]

Philosophie entsteht dort, wo sich Systeme bilden, die im Medium des Sinns frei operieren. Alle dabei gebildeten Sinnformen lassen sich auf ihren Sinn hin befragen, was wiederum zu neuen Sinnformen führt. Dabei wird eine Selbstbeschreibung produziert, die sich auf der einen Seite hin zu den erzeugten Elementen (System) und auf der anderen Seite zum Modus des Operierens (Methode) hin orientiert. Das Medium selbst enthält für das System 'Philosophie' keine inneren Grenzen, sodass die Operationen wesentlich auf den Horizont ausgerichtet sind, der sie begrenzt und seinerseits zum Problem wird: als der begrenzende Horizont, der abgeschätzt, erweitert, verschoben werden kann. Wenn es für die Philosophie im Inneren auch keine Grenzen gibt, so doch Verdickungen, also Bereiche, wo die Operationen auf Widerstand treffen. Aus solchen Attraktoren bilden sich dann Probleme, Themen, Subsysteme.

Diese Transparenz des Mediums für sich selbst (also dessen Selbstreferenz) bestand nicht von Anfang an. Aus systemhistorischer Sicht bestand die Aufgabe darin, einen Systemtyp evoluieren zu lassen, dessen Operationsmodus das gesamte Medium beansprucht und nicht nur einige Regionen. Es ist ein Problem der Reichweite. Das System muss also in der Lage sein, die anfallende Komplexität so stark zu reduzieren, dass die im Zuge der Operationen erzeugte Selbstbeschreibung ausreichend Konsistenz durchhält, um das System bei dessen Aufenthalt in verschiedenen Sinnbereichen zusammenzuhalten. Ansonsten zerfällt es, etwa zu einer Sammlung von Aphorismen, oder wird erst gar nicht zur Philosophie.

In der Phase der Entstehung des Systems der Philosophie trifft dieses auf schon bestehende Systeme mit grosser Ausdehnung, die dennoch regional bleiben; also in Submedien des Sinns operieren. Das prominenteste davon ist der Glaube. Ein 'Philosophie'-System kann etwa entstehen, indem Sinnformen des Glaubens benutzt und dessen Operationen wiederholt werden, aber dabei noch eine andere Selbstbeschreibung angefertigt wird: nämlich die Beschreibung der dem Sub-Medium gesetzten Grenzen. Damit werden in erneutem Nachvollzug Abweichungen produziert und dabei einen eigener Operationsmodus erschlossen. Man sieht, dass Philosophie ein System ist, welches auf dem Erinnerungsvermögen von vorgängigen Sinn-Systemen aufgebaut ist (also ein Beobachter zweiter Ordnung ist). Was die Philosophie im Nachvollzug des Glaubens beobachtet, ist, dass es für diesen Sinnformen gibt, die ihrerseits vor einer Befragung nach ihrem Sinn geschützt sind.

[Glaubenssysteme liefern den Sinn von innerweltlichen Phänomenen, etwa von Krankheit, Tod, Hungersnöten, Unwettern, Ereignissen aller Art (meistens schlechten). Die Ebene des Sinns selbst ist dann zu einem eigenen System von Verweisungen organisiert, in dem etwa Geister und Götter vorkommen. Später wird aus dieser Parallelwelt ein Ort der Transzendenz, an dessen Spitze ein einziger Gott steht. In diesem monotheistischen Jenseits befinden sich zunächst noch andere Wesen wie Engel und Dämonen, doch mit der Zeit verblasst und entvölkert sich die transzendente Welt, im erschlafften Christentum der Moderne hat nicht mal mehr der Teufel einen richtigen Platz.

Für die hier erörterte Fragestellung ist es wichtig zu sehen, dass auf religiöser Ebene bestimmte Sinn-Fragen gehemmt (wenn auch nicht gänzlich unterbunden) sind. Ein Schutzmechanismus ist das Geheimnis, ein Informationsfluss zwischen den Ebenen der Phänomene und ihrem Sinn ist nur zu bestimmten Zeiten an bestimmten Orten durch bestimmte Praktiken (z.B. Magie) möglich und kann nur mit Hilfe auserwählter Menschen (Medizinmänner, Priester) geschehen, die ihrerseits Medien sind. Ausser dem Geheimnis gibt es auch andere Lösungen, etwa die Offenbarung oder die Bindung der Parallelwelt ins Narrative. Es entstehen dann Erzählungen, die auf keinen Erzähler verweisen (Mythen) und die immer nur wiederholt werden können. ]

Damit ist eine Grenze markiert und eine Regionalität definiert. Das Erreichen von Sinnformen, die einfach geglaubt werden müssen, ermöglichen in ihrer Abweisung der Hinterfragung des mit-gegebenen Sinns einen Ausgangspunkt für die entstehende Philosophie und erfordern die Etablierung von deren eigenem Operationsmodus. Die ursprüngliche Leistung der Philosophie besteht somit darin, das Medium des Sinns sich selbst gegenüber transparent zu machen.

[Zwischen Philosophie und Glauben bestehen verschiedene Kopplungen: hemmende, parasitierende, inspirierende. Insgesamt ist hier eine Ko-Evolution zu beobachten. Der Glaube als System entwickelt ebenfalls universale Sinnansprüche, wobei die Sinnfrage als die Leerform einer schon bestehenden Antwort erscheint. Der Sinn von Allem liegt in Gott. Dieser in jeder Operation mitgeführte Verweis sorgt zwar für Kontinuität und damit auch für Konsistenz, doch auf diese Weise ist nur eine leere Universalität möglich. Dieser Operationsmodus ist nur durchzuhalten, wenn er durch originäre Glaubensakte gestützt wird. Philosophie evoluiert, wenn sie Sinnformen des Glaubens verwendet und ihrem eigenem Operationsmodus zuführt. Das ist als Prozess zu verstehen.

Aus dieser Sicht erscheint die klassische Weltfremdheit der Metaphysik in einem anderen Licht. Man nehme zum Beispiel die viel kolportierte Frage, wie viele Engel auf einer Nadelspitze tanzen können - ein Thema, über das seinerzeit Dissertationen geschrieben worden sind. Aus der Sicht der Systemtheorie kann hier beobachtet werden, wie ein religiöses Produkt philosophisch zugänglich gemacht wird. Letztlich führt diese Frage zum Dualismus von Bewusstsein und Materie und dessen möglicher Auflösung – ein Problem, an dem einige zeitgenössische philosophische Strömungen sich noch immer die Zähne ausbeissen. ]

 

Philosophie und Wissenschaft. Ausser dieser sozusagen äusseren Grenze entstehen im Zuge der Systemevolution auch innere Grenzen für die Operationsweise der Philosophie. Hier bildet sich ein eigenes Medium und ein damit korrespondierender Systemtyp heraus. Die Rede ist dabei vom Wissenschaftssystem, welches im Medium der Wahrheit operiert. Dieser Systemtyp ist weder segmentär wie das System des Glaubens noch universell wie die Philosophie ausgerichtet, nicht einmal hierarchisch.

[Glaubenssysteme organisieren sich segmentär. Die Weltreligionen existieren nebeneinander, es besteht ihnen gegenüber gewissermassen Wahlfreiheit. Zwar unterhalten sie Beziehungen zueinander, etwa Feindschaft oder Ökumene – das ist aber aus systemtheoretischer Sicht kontingent.

Demgegenüber tritt Wissenschaft zwar auch im Plural auf – als Wissenschaften – doch hier bestehen relevante Kopplungen. So kann der Fortschritt (die Evolution) einer Wissenschaft von den Fortschritten anderer Wissenschaften abhängen. Die Wissenschaften benutzen nicht nur dasselbe Medium sondern sie sind auch über einen gemeinsamen Kopplungsmechanismus integriert, der sich in ihrer Selbstbeschreibung wiederfindet – die wissenschaftliche Arbeitsweise.

Dabei kann es auf der Ebene der Selbstschreibung zu Tendenzen von Hierarchisierung kommen, was aber für die eigentlichen Systemoperationen nicht relevant ist. Man kann sich etwa fragen: Wie wissenschaftlich ist eine Wissenschaft? - und an der Spitze die Mathematik ansiedeln, gefolgt von Physik und Astronomie; nach weiteren Abstufungen, wo sich etwa Physik, Chemie und Biologie befinden, kommen am unteren Ende dann vielleicht Psychologie, Soziologie und endlich die Philosophie. Diese Art von Interpretationen ist aber für das Funktionieren des Wissenschaftssystems nicht relevant und gehört eigentlich schon in die Philosophie. In dieser gibt es zwar auch einzelne Disziplinen, die sich wie die verschiedenen Wissenschaften mit Namen benennen lassen, doch der philosophische Systemtyp ist auf die Einheit der Differenz der Sinnformen hin orientiert, sodass innerphilosophische Grenzen immer nur provisorisch sind. ]

Die von den Wissenschaften gezogenen Grenzen beruhen auch nicht darauf, dass Übergänge zwischen Sinnformen und insbesondere deren Befragung auf ihren Sinn gehemmt werden, sondern dass sie praktisch nicht mehr oft stattfinden. Die Grenzen entstehen dadurch, dass ihre Überschreitung zu etwas Untypischen wird, weil sich rekursive Verweisungsstrukturen herausgebildet haben, die ein Innen definieren und so den Ausgangspunkt einer spezifischen Selbstbeschreibung bilden und die Evolution des so gegründeten Subsystems in die Wege leiten. Geeignete Kristallisationskerne für die Herausbildung von Wissenschaften besitzen typischerweise eine innere und eine äussere spezifische Eigenschaft. Als inneres Merkmal ist das Vorhandensein von Sinnformen zu nennen, die in starkem Masse aufeinander verweisen ohne dass eine vergleichbare Verweisungsintensität auf - die so das Aussen definierenden – Sinnformen zu finden wäre (eine Bildung von Sinn-Clustern sozusagen).

[In der Mathematik gibt es dafür ein eigenes Distanzmass, was von einem Algorithmus der Graphentheorie benutzt wird, dem Neighbour Joining Algorithmus. Dabei wird nach Knoten gesucht, die benachbart und dabei möglichst isoliert (weit entfernt) von den anderen sind. Siehe hierzu Merkl/Waak Bioinformatik interaktiv.]

Nach aussen spielt insbesondere die eine Rolle, wie ausgeprägt die Möglichkeiten eines solchen potentiellen Subsystems sind, für andere Systeme Leistungen zu erbringen. In diesem Fall kommen Kopplungsdynamiken in Gang, welche die noch wenig markanten Grenzen verstärken und dem neu entstandenen Subsystem über die damit einhergehende operative Schliessung zu Selbstreferenz und Autopoiesis verhilft.

[Die eben entwickelten Gedanken machen unmittelbar klar, warum die Astronomie zu den ersten positiven Wissenschaften gehört. Sie geht aus einem gut unterscheidbarem Feld von Phänomenen und Dingen hervor. Nach aussen hin kann diese entstehende Disziplin schon früh Leistungen abgeben, etwa für die Erstellung von Kalendern oder für die Seefahrt.]

Die Aussenkopplung als Dienst erzeugt im System der Wissenschaft dann eine eigene Differenz. Das wird dann etwa als Differenz von Grundlagen- und angewandter Forschung bezeichnet oder als Differenz von eigentlicher und Parawissenschaft. Hier ist zu sehen, dass man nicht einfach eine Seite der Differenz dem Dienst, die andere Seite dem System selbst zuordnen kann; die Differenz der beiden Differenzen ist selbst eine Möglichkeit zum Aufbau innerer und zur Reduktion äusserer Komplexität.

[So wäre es ebenso schief zu sagen, dass die Astrologie den menschlichen Bedürfnissen diente, während die Astronomie Wissenschaft um der Wissenschaft willen sei, wie zu meinen, die Astrologie wäre nur eine Selbstbeschäftigung des Geistes, während die Astronomie nützlich sei. Tendenziell wird man aber eher die reine Wissenschaft zu deren Innerem und die angewandte Forschung den erbrachten Diensten zuordnen.
Aber solche einfachen Korrespondenzen werden immer problematisch und im besten Fall ungenau bleiben. Sei es, weil – wie Adepten der reinen Forschung gern betonen – Ergebnisse der reinen Theoretiker unvermittelt eine enorme Praxisrelevanz erhalten können (man denke nur an die Bedeutung der Primzahlforschung für die Kryptographie auf der ihrerseits das moderne Zahlungssystem beruht) oder sei es, weil im Zuge der Industrialisierung der Forschung (Google ist beinahe ein reiner Wissenschaftskonzern) die Differenz rein/angewandt höchstens noch als Re-entry auf der Seite der nützlichen Forschung vorkommt.]

Im Grossen und Ganzen ist die Herausbildung der Wissenschaften ein relativ neuartiges Phänomen. Sieht man von Astronomie und Mathematik ab, kann man vor dem 18. Jahrhundert nicht wirklich von einer Autopoiesis der Wissenschaften sprechen. Das hängt weniger damit zusammen, dass soziale Systeme sich in ihren Beobachtungen vorher nicht genügend Kausalität beschaffen konnten, das konnten sie wohl: Man denke hier etwa an Wetterbeobachtungen, die zu Bauernregeln führten, an die Produktion von Schwarzpulver, Papier und Porzellan bereits im alten China. Der limitierende Faktor bestand bis in die Neuzeit hinein nicht in einem Mangel von beobachtbarer und genutzter Gesetzlichkeit, sondern in deren Bindung an die praktisch orientierte Lebenswelt der Menschen. Die Dampfmaschine wurde nicht in einem Institut oder einer Universität erfunden, sie entstand in einer Reparaturwerkstatt in der Umgebung eines Bergwerks. Während einer langen Periode in der Geschichte wurde die Disziplinenbildung der Wissenschaften aus deren Operationsmodus dadurch verhindert oder zumindest gehemmt, weil keine Grenzen von Sinnformen gezogen werden konnten, die Beobachtungen und Reproduktionen von Beobachtungen ermöglichten, welche wiederum eine Leistungsabgabe an andere soziale Systeme gestatten würden. Es bestand also keine nennenswerte Verbindung zu dem im Praktischen wirkenden Explorationsmodus.

Bevor die unsere Zeit prägende Allianz von Wissenschaft und Technik wirksam werden konnte, mussten die lebensweltliche Exploration von 'unten' genügend induktive Komplexität und die philosophische Spekulation von 'oben' entsprechend deduktive Spezifikation entwickelt haben, damit sich zwischen beiden Seiten robuste Verbindungen ausbilden konnten, welche dann zu jener explosiven Wissenschaftsentwicklung führen konnte, welche die Moderne prägt.

Die Entstehung einer Wissenschaft ist oft durch das Herausbilden eines Paradigmas inspiriert, durch welches sich Schwerpunktbereiche kommunikativer Operationen bilden können und das Ziehen der zukünftigen Grenzen vorbereitet wird.

[Paradigmen stehen nicht nur am Anfang der Wissenschaften, sondern prägen sie auch in Umbruchszeiten. Da bestehen dann verschiedene Paradigmen nebeneinander, es kann zu Perioden eines Paradigmenwechsels kommen (Siehe hierzu die Bücher von T.Kuhn).

In reifen Wissenschaften verlieren die Paradigmen dann an Bedeutung, weil sie deren innere Komplexität nicht mehr regulieren können. Es kann dann aber noch immer zu alternativen Theorieentwicklungen kommen, die über längere Perioden parallel evoluieren (z.B. das Standardmodell und die Stringtheorie in der theoretischen Physik).]

Eine Wissenschaft schliesst sich als Disziplin, wenn sich ihre Operationen vornehmlich in den Grenzen eines solchen Paradigmas vollziehen und die Evolution dieses neuen Systems sich als fruchtbarer als die der Umgebungssysteme erweist: also mehr Leistungen an die Umwelt abgegeben werden können. Im Zuge dieser Herauslösung entsteht eine eigene nähere Systemumgebung, die aufgrund dieser Abgrenzung selbst in stärkerem Masse Systemeigenschaften bekommt; von einer Protowissenschaft wird sie zu einer Parawissenschaft. Das Schicksal dieser marginalisierten Disziplin ist zunächst ungewiss. Sie kann praktisch verschwinden wie die Alchemie, eine seltsame Präsenz beibehalten wie die Astrologie oder sich selbst wissenschaftlich ausrichten wie die Psychoanalyse. In vielen Fällen bildet sich eine spezifische Differenz, so Physik/Metaphysik, Chemie/Alchemie, Medizin/Alternativmedizin, formale Logik/dialektische Logik, deskriptive Psychologie/Psychoanalyse, Makroökonomik/politische Ökonomie. Hier findet sich auf der wissenschaftlichen Seite der Differenz jeweils die Selbstbeschränkung, die eine spezifische Systemevolution ermöglicht. Auf der parawissenschaftlichen Seite ist die Orientierung ganzheitlicher, was sie in eine Nähe zur Philosophie (aus der sie stammt) bringt, die dieser aber nicht mehr recht ist.

[Auf der unwissenschaftlichen Seite der Differenz wird die Ausrichtung auf den ganzen Menschen, das ganze Universum durchgehalten. Durch die in den Wissenschaften stattfindende Akkumulation gerät diese Perspektive zunehmend in die Defensive, ihre Episteme wirkt zunehmend fadenscheinig und konstruiert. Gemeint ist dabei ein System von Ähnlichkeiten und Bezügen, die in einer wechselseitigen Spiegelung das Bild einer Totalität evozieren.

Zunächst hat jede Disziplin eine wesensmässige Beziehung zum Ganzen des Sinns. Das Ziel der Alchemie war nicht auf die Herstellung von Gold zu reduzieren, ihre spirituelle Seite bestand darin, die (al)chemische Vervollkommnung der Natur als nur einen ihrer Aspekte zu begreifen, der andere war die Vervollkommnung der menschlichen Seele. Ihre Suche nach einem Universalheilmittel (Panazee) lässt sich als ein Versuch interpretieren, die Beschränkungen der Natur selbst aufzuheben. Diese Orientierung zum Ganzen, die Einbettung der eigenen Besonderheit in eine Totalität findet sich auch bei anderen Disziplinen. Die Paramedizin sieht in den Krankheiten Ausdrucksformen von Sinn, für die Astrologie haben die Positionen der Himmelskörper einen inneren Bezug zum persönlichen Leben und der Ordnung der Welt als Ganzer, im Marxismus verweisen die Gesetze der Ökonomie auf einen eschatologischen Zustand der Zukunft.

Auch in ihrem Inneren schliessen sich die Parawissenschaften aneinander, indem sie ein System von Ähnlichkeiten und Korrespondenzen erstellen. Im einem Zentrum findet sich die Vierelementelehre aus Erde, Wasser, Feuer und Luft, die auf Empedokles zurückgeht. Dem entspricht auf der medizinischen Ebene die Viersäftelehre der Humoralpathologie, basierend auf Schwarzer Galle, Weissschleim, gelber Galle und Blut. Ins Psychologische gewendet, korrespondieren ihnen ebenso vier Temperamente: Melancholiker, Phlegmatiker, Choleriker, Sanguiniker; sogar Tiere erhalten Zuordnungen. Es gibt noch andere Arten von Korrespondenzen, so werden in der Alchemie/Astrologie die Metallen den Planeten zugeteilt.]

Die Philosophie findet sich aus dem wissenschaftlichen System zunehmend ausgeschlossen. Eine Zeitlang kann sie versuchen, durch bestimmte Massnahmen, etwa durch Inanspruchnahme eines bestimmten Menschentypus – des Universalgelehrten – die vorgefundene Komplexität auf die gewohnte Wiese zu bewältigen, doch es kommt der Punkt, wo dieses Spiel zu Ende ist. Nach Leibniz konnte es niemandem mehr gelingen, in allen Wissensdisziplinen auf der Höhe der Zeit zu sein. Die Philosophie kann versuchen, das in den Wissenschaften Gelehrte zu destillieren und in selbst produzierten, gröber werdenden Modellen der Wissenschaften statt in ihnen selbst zu operieren. Sie kann also versuchen, sich als eine Art Überwissenschaft zu interpretieren. Das wird ihr jedoch zu keiner fruchtbaren Stellung verhelfen. Selbst wenn diese Impulse seitens der Wissenschaft mit Nachsicht behandelt werden sollten, angesichts der kräftigen Autopoiesis der Wissenschaften wird die Philosophie aus deren Körper mit zunehmender Unvermeidlichkeit herausgedrängt; die Philosophen wirken dann gegenüber den professionalisierten Wissenschaftlern immer mehr wie Amateure, die vieles ein bisschen und nichts richtig kennen.

[Ein Beispiel eines solchen unglücklichen Verhältnisses zu den Wissenschaften bietet die philosophische Anthropologie. Sie entfaltete sich in einer Zeit, wo der Differenzierungsprozess und die Evolution der Wissenschaften rasch vonstatten ging, so in den Disziplinen der Biologie, der Soziologie, der Ethnologie, der Sprachwissenschaft. Innerhalb der Philosophie entstand die Idee, dass man eine eigene, sich an den Wissenschaften orientierende, doch philosophische Disziplin entwickeln könne, die sich mit dem Menschen als solchem befasst.

Das ist als ein Übergreifen der Philosophie auf wissenschaftliches Terrain zu verstehen. Im Glauben, die innerwissenschaftlichen Differenzierungen überbrücken zu können und in einer Klammer zusammenzuhalten, die Mensch heisst, ignoriert oder verkennt sie die aus der wissenschaftlichen Autopoiesis resultierende Systemdifferenzierung. Bezeichnenderweise verschwand die philosophische Anthropologie auch rasch wieder von der Bildfläche.]

Die Philosophie kann auch die Wissenschaft aus ihrem eigenen System heraus beobachten. Sie verzichtet dann darauf, sich an die Operationsmodi der Wissenschaften zu ketten. Sie beobachtet die

Problemfelder der Wissenschaft, deren Methoden und tragenden Begriffe und befragt das so Beobachtete philosophisch, das heisst hinsichtlich seiner Verortung in eine globale Topologie des Sinns. Die Philosophie stellt sich so gewissermassen über die Wissenschaft, indem sie bestimmt, was diese eigentlich tut.

[Das kann auch als Negation formuliert werden. So Heidegger, der sagt: 'Die Wissenschaft denkt nicht.']

 

Rückzüge der Philosophie. Die vielleicht folgenreichste Möglichkeit der Philosophie, auf den Aufstieg der Wissenschaften zu reagieren, ist gewissermassen symmetrisch. Dass die Wissenschaften ihre eigene Operationsweise entwickeln, sich so operativ ab- und damit die Philosophie von sich ausschliessen, wird von dieser beobachtet. Sie kann sich daraufhin eine eigene Selbstbeschränkung auferlegen und in dieser Bescheidung zu mehr Stringenz und Entwicklungs­fähigkeit kommen. Sie kann also versuchen, sich durch einen Rückzug zu retten.

Ein solches Programm ist bisher zweimal angestossen worden, zuerst durch Kant, das zweite Mal durch Wittgenstein. Kant fand sich in jener Nach-Leibnizschen Epoche wieder, wo ein Mensch nicht mehr alles wissen konnte, was als Wissen vorlag. Die Philosophie fand sich mit einer Kapazitätsüberschreitung konfrontiert. In der Folge zog eine gewisse Verantwortungslosigkeit ein. Von der Ankopplung an die konkreten Kenntnisse entbunden, liessen sich nach Gutdünken Metaphysiken schmieden. Es ist verständlich, dass diese Situation sowohl zu Dogmatismus als auch zu Skeptizismus führte und beides nicht befriedigen konnte. Für Kant konnte die Lösung für die Philosophie nur darin bestehen, sich aus diesem zu weit gewordenen Feld zurückzuziehen und anstatt Erkenntnisse zu postulieren, die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis zu untersuchen; das Programm bestand in einer Kritik der Vernunft. Es wird die Bedeutung der Differenz Für-Mich/An-Sich unterstrichen, deren Grenze Kant selbst sehr weit ins Objektiv-Subjektive (die Vernunft, nicht meine konkrete Vernunft) hineinverlegt: auf der Seite des An-Sich bleibt nur noch das unfruchtbare Ding-An-Sich übrig. Mit dieser kritischen Wende werden die Sinnformen zu einer radikalen Befragung hin geöffnet, systemtheoretisch besteht die Fruchtbarkeit der Selbstbeschränkung der Kantschen Philosophie darin, dass ihr Ausgangspunkt die Unmöglichkeit der Einheit von Selbstreferenz und Fremdreferenz ist (Wir können nie erfahren, was in der Welt an sich ist).

Trotz der neuen Entwicklungsperspektiven, die er angestossen hat, bleibt Kant auch traditionellen metaphysischen Schemata verhaftet. So spielt in seinem System die Temporalisierung keine Rolle (Hier ist der Kosmologe Kant fortgeschrittener als der Philosoph Kant). Er fragt nicht danach, unter welchen Bedingungen der Verstand, die Vernunft etc. entstanden sind, wie sich das, was jetzt ist, aus dem, was vorher war, entwickelt hat. Folgerichtig ist für ihn die Beziehung des Erkenntnisver­mögens zu dem, was in der Welt tatsächlich ist, kontingent. Der Gedanke, dass 'die Welt' nur eine 'Vernunft' hervorbringen kann, die in irgendeiner Weise zu ihr 'passt', diese im weiten Sinne evolutionär ausgerichtete Denkweise, findet sich bei ihm nicht. Eine konsequente philosophische Temporalisierung gibt es erst nach Kant, am beeindruckendsten bei Hegel.

Ausserdem bleibt Kants kritische Philosophie der Sprache gegenüber unkritisch. Er benutzt die sprachlichen Termini sorglos. So baut er sein System auf einem sprachlichen Fundament auf, dessen Strukturen seinerseits nicht kritisch befragt, sondern aus der Tradition übernommen werden. Für ihn stellt sich nicht die Frage, ob sprachlichen Ausdrücken wie 'Vernunft', 'Verstand', 'Anschauung' etwas Reales entspricht oder ob sie nicht ihrerseits Konstrukte sind.

[Man kann sich etwa fragen, wie die Kantsche Theorie ins Chinesische oder eine dem Deutschen noch entferntere Sprache, deren semantische Netze entsprechend abweichende Bedeutungsknoten (Begriffe) ausgebildet haben, überhaupt übersetzbar ist.]

Mehr als ein Jahrhundert später konnte die Philosophie beobachten, wie die Wissenschaften eine explosive Entwicklung nahmen. Im Gegensatz dazu schlug sich die Philosophie mit den immer gleichen Fragen herum, ohne dass ein irgendwie mit den in den Wissenschaften stattfindendem vergleichbarer Fortschritt festzustellen wäre. Der Philosophie war ihr Kleid wieder zu weit geworden. Der Schluss, der sich aus dieser Situation ziehen liess, war: Dass man mit der Lösung der philosophischen Probleme nicht recht vorankam, musste nicht daran liegen, dass die Antworten auf die gestellten Fragen falsch waren. Möglicherweise waren bereits die Fragen selbst falsch. Man musste also nicht mehr fragen: Wie ist das Verhältnis von Bewusstsein und Materie? Stattdessen galt es zu untersuchen, wie wir etwa das Wort 'Bewusstsein' benutzen. Wie gebrauchen wir die Wörter, aus denen wir anschliessend unsere philosophischen Probleme konstruieren? Diese Dekonstruktion führt die Philosophie zu einer Selbstreflexivität, die die Gefahr einer totalen inhaltlichen Entleerung in sich birgt. Zurückgebracht an den Ausgangspunkt des Paradoxes von Selbstreferenz und Fremdreferenz, muss sie sich – in die sprachliche Selbstreferenz eingehüllt – fragen, wo sie eigentlich hinwill. Zwar entdeckt sie an diesem Ort Kerne zukünftiger Entwicklung, so die Differenz von grammatischer und logischer Struktur der Sprache (die Logik kann weder ihre Fremdreferentialität noch ihre universale Geltung aufgeben!) oder sie setzt der revisionistischen Metaphysik eine deskriptive entgegen (so Strawson).

Dennoch bleibt die Situation der Philosophie nach diesem zweiten Rückzug prekär. Auf lange Sicht kann sie nur daran scheitern, sich als eigene Disziplin im Korpus der Wissenschaften zu etablieren. Auf mittlere Sicht bedeutet diese Entwicklung, dass die akademische Philosophie als eine Sache von Spezialisten angesehen wird, welche den durchschnittlichen Menschen nicht mehr interessiert. Die sprachlich-logischen Analysen (etwa der Theoriezweig, der sich mit der Referenz von Eigennamen beschäftigt) haben kaum noch eine Verbindung zu seinem individuellen Leben.

Auch wegen ihrer Akademisierung kann die institutionalisierte Philosophie nicht mehr hören, dass sie aufgefordert ist, 'zum Leben zurückzukehren'.

 

Philosophie aus der Perspektive des Einzelnen. Man kann zu dieser philosophiehistorischen Skizze anmerken, dass sie unvollständig ist. Tatsächlich vergisst sie eine ganze Region der Philosophie. Als Kontinuum von Sinnformen, das von den Unstetigkeitsstellen - die dadurch entstehen, dass verschiedene im Medium des Sinns operierende (Bewusstseins- und gesellschaftliche) Systeme aneinander koppeln - befreit ist, muss sie auf der Ebene der Selbstbeschreibung ihren Schwerpunkt doch irgendwo verorten: und der kann eher auf der gesellschaftlichen oder auf der privaten Seite liegen (kommunikatives versus psychisches System). Anders gesagt: Zu den unveräusserlichen Themen der Philosophie gehören immer der Mensch und die Welt. Die Frage ist jeweils immer, wie sie beides zusammenbringt. Entwirft sie also ein Strukturbild der Welt, in dem der Mensch einen ihm zugewiesenen Platz hat oder geht es ihr um ein Bild des Menschen und von der Welt interessieren insbesondere diejenigen Aspekte, die für die existentielle Selbstreferenz relevant sind?

Diese zweite, eher auf den Menschen ausgerichtete Strömung philosophischen Denkens ist beinahe so alt wie die erste. Für Protagoras war der Mensch das Mass aller Dinge, man denke auch an Pascal, Schopenhauer, Nietzsche, Kierkegaard, Camus. Doch auch von dieser Seite aus bleibt die Totalität der Sinnformen erreichbar, bekanntlich heisst der Untertitel von Das Sein und das Nichts : 'Versuch einer phänomenologischen Ontologie'.

Weil eine so orientierte Philosophie kaum mit der wissenschaftlichen Autopoiesis konfrontiert ist (zumindest nicht direkt) entsteht für sie auch nicht die Notwendigkeit reduktionistischer Revisionen. Der Preis dafür ist allerdings, dass in ihr mangels Inspiration (Kopplung) durch das Wissenschaftssystem Fortschritt noch zweifelhafter ist. Sie fängt mit jedem philosophierenden Menschen gewissermassen von vorn an. Auch sie ändert sich, vor allem, weil die Lebenswelt der Philosophierenden sich über die Jahrhunderte ändert.

Existentielle Philosophien sind Theorien der Endlichkeit. Sie können nicht von dem Umstand abstrahieren, dass das Leben des Menschen endlich ist und von diesem Punkt ausgehend, werden die ontologischen Formen einer Verzeitlichung ausgesetzt.

[Das ist auch der Punkt, der sie für die hier entwickelte Philosophie attraktiv macht. Die Reife einer Wissenschaft ist dadurch charakterisiert, dass sich ihre statischen Schemata zugunsten einer Temporalisierung der Theorie auflösen. In der Biologie ist das mit dem Entstehen der Evolutionstheorie am augenscheinlichsten. Aber Vergleichbares findet sich auch anderswo: Physik/Astronomie wird zunehmend zur Kosmologie,Psychologie zur Entwicklungspsychologie, Soziologie zur Systemtheorie, Geographie zu Geologie. Andere Disziplinen wie die Geschichtswissenschaft und teilweise die Chemie, die schon von Beginn an eine zeitliche Ausrichtung hatten, vertiefen diesen Aspekt, indem sie von einer äusseren Verknüpfung einer Folge von Ereignissen/Phänomenen zu einer inneren Logik (bis hin zur Kausalität) der zeitlichen Abläufe gelangen. Aufgrund der fortschreitenden Temporalisierung der Wissenschaften entsteht hier ein Feld möglicher Konvergenzen mit dem immer schon temporal ausgerichteten psychischem System auf der Ebene der philosophischen Theorien.]

Das wird auch in der etwas erratischen, dabei aber prägnant formulierten Frage deutlich, mit der Heidegger sich aus Sein und Zeit verabschiedet. Er fragt dort, ob Zeit der Horizont von Sein sei. In systemtheoretischer Übersetzung – unter Tolerierung einer gewissen Aspektverschiebung bedeutet die Bejahung dieser Frage, dass Sinn immer durch (zeitliche) Operationen ermöglicht ist, die ihn als Medium generieren und neu schaffen. Die das System konstituierende – als Zeit erfahrene - Not­wen­digkeit, sich Anschlussoperationen zu beschaffen, ist somit der unüberschreitbare Horizont des Sinnes selbst. Das Medium besteht durch die es benutzenden Operationen, es wird durch seine Nutzung nicht verbraucht.

Im Gegensatz zu dem, was Heidegger in Sein und Zeit nahezulegen scheint, ist der Tod für das Dasein keine Grenze in Bezug auf den Sinn. Die Menschen hinterlassen mit ihrem Tod ein Erbe und dessen Übernahme durch die Nachwelt sichert eine Kontinuität des Sinns über den Tod hinaus. Damit ist aber der Horizont der Zeit nicht aufgehoben, sondern nur verschoben. Nicht mehr der Tod, das Ende des psychischen Systems definiert die Grenze, sondern das Aufhören aller im Medium des Sinnes operierender Systeme. Welches Erbe ich auch immer hinterlasse, dessen Sinn ist mit der Verschwinden der Menschheit erloschen.

Das dies geschehen muss, ergibt sich aus den Gesetzen der Kosmologie. Jedoch ist eine solche äussere Schranke nicht zureichend, wenn das Ziel eine Topologie des Sinns sein soll. So, wie das Dasein sich als Sein zum Tode versteht und sich so sein Sein als Verzeitlichung erschliesst, so ist auf

der Ebene der gesamten Sinntopologie die innere Grenze zu finden, welche die überhaupt möglichen Sinnformen beherbergt. Und dieser Horizont ist ein zeitlicher, nämlich diejenige zeitliche Grenze, jenseits derer die menschliche Gesellschaft keine neuen Sinnformen mehr hervorbringen kann.

[Das kann mit dem Ende des Menschen korrespondieren, muss aber nicht. Eine gern durchgespielte Möglichkeit ist die einer Apokalypse. Aber auch hier tut man sich schwer, in ihr ein Vernichten der Menschheit zu sehen. Apokalypsen sind vor allem durch die Überlebenden interessant, wobei oft offen bleibt, ob diese als Zeugen der totalen Vernichtung fingieren und nur provisorisch vom Tod verschont sind, ob nach diesem Reboot sich eine ähnliche Menschheitsgeschichte wiederholen wird, oder eine andere, die aus dem Ereignis gelernt hat.
Positiv wird das Ende der Menschheit als eine Idylle aufgefasst, was zwar schöner ist, aber auch langweilig. In einer Idylle kann nichts Interessantes geschehen, alle Sinnformen sind bereits vorhanden und werden ewig wiederholt. Das einzige Interessante am Paradies ist der Moment, wo es verlassen werden muss.
Das eben Beschriebene weist darauf hin, dass auf der Ebene der Gesellschaft ein zwar anderes, aber verwandtes Paradox zu dem des Todes besteht, was ein Ende des sinnhaften Operierens zugleich setzt und verunmöglicht. Die Apokalypsen verweisen auf ihre Überlebenden, die Paradiese auf die Vertreibung.]

 

Das Programm. Aus dieser etwas hastigen und doch lang gewordenen Einleitung lassen sich nun die Umrisse eines Programms erkennen. Es ist zu zeigen, dass die sinnhaften Operationen im Medium der Zeit so operieren, dass sie eine Grenze zementieren, in der sie gefangen bleiben. Das dies überhaupt der Fall ist, ist keineswegs unumstritten, vielleicht lehnen gegenwärtig noch die meisten diese These ab. Die Herausforderung für diese Arbeit wird darin bestehen, sie so gut zu beweisen, wie das einer philosophischen Spekulation überhaupt möglich ist.

[Aus meiner Sicht ist dergleichen überhaupt noch nicht ernsthaft versucht worden. Man kann als Ausnahme vielleicht S. Lems Summa technologiae anführen, wo es um den möglichen Horizont zukünftiger technischer Entwicklung geht, der wiederum auf die dadurch ermöglichten und begrenzten menschlichen Lebensformen verweist. Letztlich ist dieser Versuch aber unzureichend geblieben.

Man kann auch auf eine Disziplin verweisen, die sich Zukunftsforschung oder Futuristik nennt und von Autoren wie R.Kurzweil vertreten wird. Aus dieser Richtung kommen dann Statements der Art 'In fünfzig Jahren werden Roboter alle Arbeiten erledigen', was zwar einen Horizontgedanken evoziert, aus theoretischer Sicht aber unfundiert bleibt. Es werden Phänomene der Gegenwart, entsprechend vergrössert, doch linear bleibend in die Zukunft hineingesetzt. Das so Herausgestellte ist zwar oft genug eine Meldung wert, wird aber, da es die tatsächliche Komplexität aussen vor lässt, nicht wirklich ernst genommen. Was aber nicht heisst, dass diese Vorhersagen falsch sind.

Ähnlich verhält es sich mit den Produkten der Science Fiction. In dieser Gattung werden Visionen der Zukunft entworfen und begründet, doch weil sie der Imagination zugeschlagen werden, können sie keinen Anspruch auf tatsächliche Geltung erheben.]

Damit ist auf eine zunächst notwendige Aufgabe der Kritik verwiesen: Es sind die Grenzen der Vorhersagbarkeit evolutionärer Systeme zu untersuchen.

Umgangssprachlich formuliert wird also die These vertreten, dass die Menschen sich ihr eigenes Ende erschaffen und dass dieses Ende weder ihre eigene Vernichtung (Apokalypse) noch das paradiesische Versiegen der Geschichte ist sondern die Abschliessung des Horizontes möglicher Sinnformen.

Das bedeutet erstens, dass dieses Ende nicht ein Produkt des Versagens sondern des Erfolges ist. Die Menschen werden zu dieser Zeit alles hervorgebracht haben, was im Rahmen der Systemstrukturen, in denen sie operieren (der Umgangssprache geschuldete ungenaue Formulierung) möglich ist.

Zweitens heisst es weder, dass es dann noch Menschen gibt noch dass es keine mehr gibt. Es ist aus der Sicht der Sinnperspektive schlicht nicht mehr interessant. Die Menschen können nicht Neues mehr hervorbringen.

Drittens bedeutet es, dass das Medium des Sinns ein neues Medium in seiner Nachbarschaft erhält, durch dessen Aufkommen der Horizont des Sinns sich zunehmend verfestigt und seine Elastizität verliert. Ob er tatsächlich zu einer Grenze und damit überschreitbar wird, muss hier offen bleiben; es kann aber bereits gesagt werden, dass herkömmlicher Sinn dann nicht mehr das Medium sein wird, mit der die zu dieser Zeit mögliche Komplexität bewältigt werden kann. Es gibt dann ausserhalb desselben Systeme, die in einem anderen Medium operieren und deren Möglichkeiten von Komplexitätsreduktion die der sinnhaft operierenden zunehmend abhängen.

[Es ist natürlich von der künstlichen Intelligenz die Rede. Weiter oben wurde die Möglichkeit angedeutet, dass auch sie im Medium des Sinns operieren könnte. Das muss hier offen bleiben und ist letztlich auch eine Frage der Definition. In der hier verwendeten, von Luhmann übernommenen, sehr weiten Definition von Sinn als Einheit von loser und enger Kopplung ist das sicher der Fall. Es spricht aber einiges dafür, den Begriff enger zu fassen, sodass die Operationsweise der KI von ihr ausgeschlossenen wäre. Ich vermute, dass damit genauere Beschreibungen möglich wären.]

Wer die hier vertretene These ablehnt, bleibt bei einer Unabgeschlossenheit des Horizontes von Sinn, so dass dessen Topologie streng genommen unmöglich zu beschreiben wäre, weil unaufhörlich neue Sinnformen entstehen werden (Die kosmologische Schranke, die festlegt, dass irgendwann das Weltall in einem Big Crunch kollabiert oder es zu einer Wüste aus langsam verdampfenden Schwarzen Löchern und kalten Photonen wird, zählt hier nicht). Diese Option mag aus menschlicher Perspektive attraktiver sein, doch ist das Gewünschte kein Argument für dessen Wahrheit.

[So wie auch der Gedanke, dass die Welt ohne einen liebenden Gott eine trostlose wäre, kein Argument für die Wahrheit des Glaubens ist. Aus einem Bedürfnis ein Argument für einen Glauben zu machen, beruht auf einer Vermischung von Kategorien, einer Schwäche der beteiligten Systeme, ihre Grenzen aufrechtzuerhalten.]

Wer die These annimmt, steht dagegen vor einem anderen Problem. Wenn das, was sie behauptet, sich so oder so, also in jedem Fall vollziehen wird, worin ist dann der spezifische Sinn des eigenen Lebens zu suchen? Wofür oder wogegen soll man sich entscheiden, wo doch jede mögliche Entscheidung letztlich auf dasselbe hinausläuft? Wird durch eine solche Theorie nicht die Idee der Freiheit sabotiert, die darauf beruht, dass man mit seinen Entscheidungen auch etwas Entscheidendes bewirken kann? Die These besagt ja, dass man zwar seinen Platz in der Maschine wechseln kann, aber nicht die Maschine selbst.

[Eine Idee, die sich auch in der hegelianischen und in der marxistischen Dialektik findet. Der Weltgeist oder die Geschichte benutzt einzelne Menschen, um das zu vollziehen, was schon vorher feststand. Während dieses Verhältnis bei Hegel abstrakt bleibt und die ethischen Implikationen der Theorie für die persönliche Wahl des Einzelnen allenfalls marginal sind, ist der Marxismus eine moralisierende Theorie. Entscheidungen sind immer moralisch zurechenbar, es ist ein wesentliches Kriterium, auf welche Seite der Geschichte man sich schlägt. Bei Bedarf kann aber auch die andere Seite der dialektischen Figur aktiviert werden: Der Bourgeois kann immer als objektiv reaktionär definiert werden, egal wie er sich subjektiv sieht.

Innerhalb des Marxismus ist hier ein weites Feld von Anschlussfähigkeit eröffnet, das auf dem Paradox Freiheit/Notwendigkeit beruht: Zwar wird der Kommunismus in jedem Fall siegen, aber die Entscheidung eines jeden Einzelnen ist von höchster moralischer Relevanz.

Demgegenüber ist die moralische Implikation der in diesem Text entwickelten These, dass die Menschen sich ihr eigenes Ende als Krone der Schöpfung schaffen müssen, nicht so eindeutig. Es wird eher eine negative Grenze definiert. Zwar steht das Resultat der Zukunft bereits fest. Doch diese Abschliessung öffnet gleichzeitig für die Möglichkeit, die Sinnfrage neu zu stellen. Wie gut sind die guten Werke? Sind die Leistungen der Menschen, die durch das von ihnen Geschaffene zu Verbesserungen führen, so gut wie sie scheinen? Durch sie wird doch nur das Heraufdämmern der Zeit beschleunigt, in der der Mensch in allen Belangen von der Künstlichen Intelligenz überholt sein wird, er weder arbeiten, noch forschen noch nennenswerte Kunstwerke produzieren wird (weil die KI das alles inzwischen besser kann); oder wo der Mensch sich, im Bestreben, den Anschluss nicht zu verlieren, durch genetische Selbstmanipulation bis zur Unkenntlichkeit verändert haben wird. Wird deswegen aber die Faulheit oder die schlichte Unfähigkeit schon zu einer positiven moralischen Kategorie? Sicher, was hier in der Folge beschrieben wird, wird so oder so passieren. Spielt es eine Rolle, ob man an dessen Beschleunigung oder dessen Verzögerung mitwirkt? Oder ist es irrelevant? Unentscheidbar? Man wird in dem gesamten Text keine Antwort auf diese Fragen finden. Das ist nicht als eine Schwäche der theoretischen Konzeption zu werten; stattdessen ist ihr Selbstverständnis hier negativ: Keine Theorie der Welt kann festlegen, wie man sich verhalten soll. Ethik vollzieht sich auf einer anderen Ebene. ]

Offen bleibt noch, wie das, was hier als Programm angedeutet ist, konkret erfüllt werden kann. Eine Möglichkeit besteht darin, auf die Temporalisierung zu fokussieren, das heisst, die Zukunft der Gesellschaft nicht als ein Bild, sondern als einen Prozess zu zeichnen und hier die innere Logik der Abläufe herauszuarbeiten. Eine solches Unternehmen wird zwar Theorie, aber zugleich auch story sein, weil sie nicht ganz auf Konkretionen verzichten kann, also gesetzten Ereignissen und Situationen die sich zwar nicht als tatsächliche Wahrheiten verstehen aber auch nicht als Produkte der Imagination. Es sind Ereignisse und Situationen, die sich selbst in Klammern setzen und in dieser Einklammerung auf ein theoretisches Fundament verweisen, das in der entwickelten story zwar transportiert aber nicht explizit gemacht wird. Diese Variante findet sich im zweiten Teil des Buches, der durchaus als erster gelesen werden kann.

[Es handelt sich um eine Textform, für die meines Wissens nach noch kein Gattungsname existiert und für die mir ehrlich gesagt auch keine anderen Texte bekannt sind. Ich kann nur eine negative Definition liefern: Es handelt sich nicht um Science Fiction oder eine andere Art von Literatur. Es handelt sich auch nicht um einen philosophischen oder wissenschaftlichen Text; auch nicht um eine Form von (nur) persönlicher Meinungs-/Gedankenäusserung.]

Als zweite Möglichkeit kann auf der Ebene der Strukturbeschreibungen gearbeitet werden. Das ist zur ersten Methode komplementär und theoretisch deutlich anspruchsvoller. Es muss nämlich herausgearbeitet werden, dass die Welt so beschaffen ist, dass sie notwendigerweise Strukturen hervorbringt, welche die Möglichkeiten zur Komplexitätsreduktion der im Sinn operierenden ko-evoluierenden Systeme (Bewusstsein/Gesellschaft) überschreiten und so diese – umgangssprachlich formuliert - als höchste Entwicklungsstufe ablösen. Weiter ist zu zeigen, dass das, was der Mensch hervorbringt, dasjenige ist, was ihm folgt und es in dieser Folgerelation den ehemaligen Horizont des Sinns von aussen begrenzt und also abschliesst, indem durch die Überschreitung des Sinnmediums dasjenige definiert ist, was ihm verschlossen bleiben wird.

[Damit ist systemtheoretisch das Offenbleiben der Frage nach der Notwendigkeit einer Degeneration formuliert. Wenn man es ins Konkrete wendet: Welche Möglichkeiten bleiben einer Menschheit, die weder arbeiten muss noch kann, weil die automatisierte Produktion operativ geschlossen ist als ein System an das die Menschen als Konsumenten angehängt sind? - und die auch von jeder Partizipation des wissenschaftlichen Fortschritts ausgeschlossen ist, weil auch die fähigsten Menschen nicht einmal mehr die diesbezüglichen Aktivitäten der KI in ihren Grundzügen nachvollziehen oder auch nur verstehen können. Wird eine Menschheit, die sich in dieser Situation befindet, notwendigerweise degenerieren?]

Die Entwicklung einer solchen Theorie ist deshalb anspruchsvoll, weil sie eine vollständige Topologie des Sinns von der Seite der Welt aus liefern muss, weil sonst der topologische Ort der menschlichen Gesellschaft, also deren im Horizont der Zeit entfaltete Grenze nicht bestimmt werden kann. Es reicht also nicht aus, zum Beginn der menschlichen Gesellschaft zurückzugehen, stattdessen ist eine universale Perspektive vonnöten. Man muss also tatsächlich mit dem Anfang beginnen, jenem Paradox, das gemeinhin als Urknall bezeichnet wird.

Vorher ist das geplante Unternehmen allerdings noch auf die Bedingungen seiner Möglichkeit hin zu untersuchen, also auf eine kritische Grenzziehung in Bezug auf sich selbst zu befragen.

Ausserdem ist die geeignete Methode zu erarbeiten, die für dieses Vorhaben Erfolg verspricht. Aus Gründen, die noch näher auszuführen sind, halte ich hierfür eine Allgemeine Systemtheorie für den geeignetsten Kandidaten, eine Theorie allerdings, die bisher eher nur als Name zu existieren scheint.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 16.06.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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