Christa Astl

Das Brombeerschloss


 

 
Es war einmal ein kleiner König, der war so klein, dass er nicht einmal auf den Königsthron steigen konnte. Da sagte er sich: „Was soll ich dann hier in dem riesigen Schloss? Da bin ich immer so müde, wenn ich den ganzen Tag von einem Zimmer ins andere laufen muss.“
So machte er sich auf den Weg, um sich einen kleineren Wohnplatz zu suchen. Er besuchte alle Schlösser in der Umgebung, aber alle waren sie ihm zu groß. „So werde ich mir wohl selber mein Schloss bauen müssen“, dachte er.
Aber wo? Wo er hinkam, schaute er nach einem Grundstück um, aber das eine war zu hoch oben am Berg, das andere zu tief im Tal, an einem Ort brannte die Sonne zu sehr hin, am anderen war es immer zu schattig, er fand einfach immer und überall was auszusetzen.
Er war schon weit von der Stadt entfernt, durch Dörfer gereist und bis an den Waldrand gekommen. Hier standen nur mehr einzelne Häuser, und von den Bäumen sangen die Vögel, dass es eine wahre Freude war. „Hier möchte ich bleiben;“ sagte der kleine König. Er war auch schon müde vom weiten Weg, denn er musste ja so viele Schritte machen.
Da entdeckte er im Brombeergesträuch eine alte Mauer. „Da muss schon mal ein Haus gestanden haben, da kann ich meines drauf bauen.“ Gesagt – getan. Weil der König ja viel Geld hatte, fand er sofort fleißige Handwerker, die im Nu die ganze Brombeerhecke und alle Bäume rundum abschneiden wollten. „Nein, nein“, schrie der kleine König, „Bitte lasst mir die Brombeeren und die Bäume stehen, die sind ja so wunderschön. Schneidet sie nur ein wenig aus, dass sie dann rund um mein Schlösschen wachsen können!“ Die Arbeiter schimpften, weil sie in den Dornen hängen blieben, sich die Hände und Arme zerkratzten. Da schenkte ihnen der König lange, dicke Arbeitshandschuhe und bezahlte noch besser.
So wuchs das Schloss von Tag zu Tag jeweils ein Stück. Der kleine König lag im Liegestuhl unter einem Baum, schaute zu und freute sich. Inzwischen waren die Brombeeren verblüht, kleine grüne Beeren hingen schon an den Sträuchern, der König konnte es kaum mehr erwarten, bis sie endlich reif waren.
Das Schloss war mittlerweile fast fertig. Es hatte nur ein paar Zimmer, aber zwei Türme. Vom einen sah man genau zu den Bäumen, auf welchen die singenden Vögel saßen, und wenn der König sich vom Fenster hinunter beugte, konnte er auch die Brombeeren sehen. Der andere Turm schaute ins Dorf und zu den weit dahinter liegenden Bergen.
Inzwischen war der Sommer vergangen, in den Nächten wurde es schon kühler, nun waren auch die Fenster und Türen eingesetzt, dann kamen ganze Wägen voll mit Möbeln. Ein Schloss, auch wenn es klein war, musste doch prächtig eingerichtet werden. Endlich war alles fertig, und als er vom Fenster schaute, entdeckte er die erste reife dunkel glänzende Brombeere. Da freute sich der kleine König sehr und veranstaltete ein großes Fest. Er wollte den Namen seines Schlosses feiern, es hieß: das Brombeerschloss.
Es war ein schönes, ein fröhliches Fest, von allen Seiten kamen Freunde und Bekannte. Auch viele schöne Frauen und Mädchen waren dabei, und eigentlich hätte er sich darunter eine Frau aussuchen und zu seiner Königin machen können, aber es wollte ihm keine so recht gefallen. Sie waren alle so prunkvoll in Samt und Seide gekleidet, wie konnte er diesen Damen seinen Brombeergarten mit den eben reifenden herrlichen Früchten zeigen?
Nachdem alle Gäste wieder abgereist waren, ging er traurig und in Gedanken versunken allein zu seinen Brombeeren. Da sah er doch mitten drinnen ein Mädchen in einem schäbigen zerrissenen Kleid, das ohne auf ihn zu achten, eine Brombeere nach der anderen in ein mitgebrachtes Körbchen pflückte. Schon wollte der König sie erbost anrufen, was ihr den eigentlich einfiele, seine Beeren zu stehlen, da blickte das Mädchen auf und schaute ihn so voller Freude an, so dass ihm das Schimpfwort im Mund blieb und er nur freundlich grüßte.
Je länger der kleine König das Mädchen anschaute, umso besser gefiel es ihm. Die langen Haare waren zusammen gebunden, eine kleine Locke drängte sich in die Stirn, Gesicht und Arme waren von der Sonne gebräunt, die Hände, die das Körbchen hielten, vom Saft der Beeren dunkelrot, auch Arme und Beine hatten rote Streifen, aber von den Kratzern der Brombeerhecken.
Das Mädchen kam mit seinem fast vollen Korb auf ihn zu. „So süße Brombeeren habe ich noch nie in meinem Leben gehabt!“ rief es. „Ich werde sie auf dem Markt verkaufen, um Geld für einen neuen Rock zu bekomme!“ - „Die Brombeeren gehören alle mir und zu meinem Schloss“, antwortete der kleine König. „Oh, dann muss ich sie ja dir zurück geben?“, meinte das Mädchen traurig.
 „Setz dich zu mir, liebes Mädchen, wir wollen sie zusammen essen, und dann gebe ich dir Geld für schöne neue Kleider. Du gefällst mir, und wenn du willst, kannst du für immer mir auf mein Schloss ziehen und bei mir wohnen.“
So gab es bald wieder ein großes Fest im Schloss, eine prachtvolle Hochzeit wurde gefeiert mit einer riesigen Brombeertorte für alle Gäste. Nun war der König im Brombeerschloss vollkommen glücklich, denn nun hatte er doch auch seine liebe und nette Brombeerfrau gefunden.
 
 
ChA 24.6.16

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.06.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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