Für Claus (1930 - 1978)
Er befühlte meine Stirn und fand eine Wölbung, die ihm ein erstauntes „Oho“ entlockte, so als wolle er sein früheres Urteil revidieren, dass ich mit Sicherheit kein Wissenschaftler werden würde. Er klassifizierte die Menschen nach ihrer Schädelform und verwies gern auf eine Ahnenreihe imposanter Schädel in seiner Familie: Ärzte, Juristen, geschäftstüchtige (i.e. ausbeuterische) Kolonialabenteurer. Einer seiner Großonkel war Kampfgefährte von Lettow-Vorbeck gewesen, und seines Vaters „Landarzthäuschen“ - in meiner Kindeserinnerung eher eine Villa - war im Jahre 1938 in unzeitgemäßem neo-kolonialen Stil erbaut worden. Das kartonierte Foto des Vaters zeigte einen Mann, der sportlich, autoritär und sehr diszipliniert wirkte: ein HARTMANN durch und durch. Klinische Intelligenz, sozialdarwinistisches Weltbild, stechender Blick - also genau der Typ eines Mediziners, dem ich in keinem Fall mein Vertrauen schenken würde. Seltsam, sogar die freche Schmeißfliege auf dem Revers des hellen Sommeranzugs schien ein Hakenkreuzemblem zu tragen.
Sein Sohn war im Juni 1945 für kurze Zeit als „Werwolf“ von den Briten in Arrest genommen worden, da war er gerade einmal 15 Jahre alt. Die Hintergründe wurden niemals gänzlich aufgeklärt, aber einige ältere Dorfbewohner glaubten sich noch an ein geplantes Sprengstoffattentat im ostwestfälischen Herford erinnern zu können. Wäre er doch nur als Flakhelfer noch zum Einsatz gekommen - die alliierten Bomber hätten ihm den neugermanischen Widerstandsgeist rasch ausgetrieben. "Fahrt durch die nachtdurchwogte Welt, grausige Geschwader ..." Später war er sicher das, was man heute einen Rechtskonservativen nennen würde. Keiner dieser dumpfen Stammtischideologen. Judenhasser und Kommunistenfresser, sondern schlicht ein desillusionierter Bildungsbürger, der in verklärter Erinnerung unter dem Zeichen des Faschismus seine vermeintlich glücklichsten Jahre erlebt hatte. Immer noch beseelt von einem diffusen Glauben an die Idee der Herrenrasse, umflort vom Strahlenkranz deutscher Wissenschaft. Sein Leben lang blieb er ein deprimierter Hitlerjunge, der in regelmäßigen Abständen zu cholerischen Ausbrüchen neigte, die ohne jegliche Vorwarnung erfolgten und mit einer satten Ohrfeige enden konnten. Meine Lehrstunde für das noch nachfolgende Leben: Wer die Hand des Verlierers einst schmerzhaft zu spüren bekam, der würde die eigene niemals gegen einen Schwächeren erheben.
Dem Vorbild des Vaters nacheifernd, doch einer studentischen Verbindung fernbleibend, studierte er in Münster Medizin, schloss aber aus irgendeinem verborgen gebliebenen Grund nicht mit der üblichen Promotion ab. Vielleicht war es die von ihm gewählte Form einer späten Rebellion gegen den übermächtigen Vater und das leere akademische Ritual seiner Profession. Für die Leute im Dorf war er dennoch stets der “Herr Doktor” und nach allgemeinem Dafürhalten ein guter Arzt, dessen Fachkenntnis und Vorsicht so manchen Dorfbewohner vor dem frühen Krebstod, einer verschleppten Lungenentzündung oder einer Leberzirrhose mit vorzeitiger Ehezerrüttung gerettet hatte. Wen er nach einer Kneipenschlägerei oder einem Fahrradunfall wieder zusammengenäht hatte, blieb ihm ebenso dankbar verbunden wie die Lehrergattin, deren Tablettenkonsum er stoppte. Er war einer, der zuhörte, liebenswürdig aber auch von doktoraler Strenge sein konnte, und einer, der selbst den hoffnungslosesten Fall eines Patienten bei dichtem Schneetreiben zu Hause besuchte. Die siechen Dorfbewohner wussten, dass auf diesen Mann Verlass war, ebenso wie auf seinen olivgrünen Daimler. Wie gut dieser “praktische Arzt” wirklich war, erfuhr ich selbst am eigenen Leibe, als ich in Südafrika nach einer schweren Vergiftung bewusstlos geworden war, auf einer lazarettähnlichen Krankenstation wieder erwachte und dann die kreisende Hand eines deutschen Voodoo-Doktors verspürte, der eine Stunde lang, Fontane rezitierend, über meinen krampfverhärteten Bauch strich, bis alle Schmerzen wundersam gewichen waren.
Über allem anderen aber war er Alkoholiker, oder wie die Leute sagten: „Der trinkt gerne einen mit.“ Die Sitzungen der “Anonymen Alkoholiker” im nahe gelegenen Minden besuchte er nur zweimal, denn in seiner Welt bildeten Alkoholiker keine homogene Pariagemeinschaft: Dem Martyrium des heiligen Trinkers mit den abgefrorenen Zehen - „Bubi“ genannt -, der „Herrn Doktor“ regelmäßig um ein paar Mark ersuchte, fühlte er sich stets schicksalsnäher als den sinnentleerten Trinkritualen des lokalen Schützenvereins. “Bubi”, dessen bürgerlichen Namen ich nie erfuhr, wurde im Winter 1977 erfroren unter einer alten Platane aufgefunden. Vielleicht war es ein unheilvolles Vorzeichen, denn sein seelenverwandter Freund, der Landarzt, folgte ihm nach kurzem Krankenhausaufenthalt nur ein halbes Jahr später nach, mit gerade einmal 48 Jahren. Dass er bereits ein Jahr zuvor von seiner Krebserkrankung erfahren, uns gegenüber aber Stillschweigen bewahrt hatte, begriff ich erst, als es längst zu spät war. Ich erinnere mich noch, wie er sich in einem Restaurant vor dem Hauptgang übergeben musste und wie ich mich maßlos für ihn schämte, weil ich es für zweifelsfrei hielt, dass er wieder einmal zuviel getrunken hatte. Die Tragik der Unwissenheit, welche den Nachlebenden noch lange mit quälendem Schuldbewusstsein verfolgt...
Nichts jedoch verfolgt einen so sehr wie das unauslöschbare Wissen um einen schuldhaften Gedanken. Als die Nachricht von seinem Tode aus dem Krankenhaus übermittelt wurde, fühlte ich mich sonderbar erleichtert. Er war in vielem ein, mein Vorbild, und doch war eine Last von mir gefallen: für den vierzehnjährigen Jungen waren die Jahre der Heimsuchung und der Scham beendet. Der Werwolf würde nie wieder eine Verwandlung durchleiden müssen, er hatte seinen Menschenfrieden gefunden, und für mich konnte endlich etwas Neues beginnen. Ich hatte nie den Mut zu bekennen, dass sein Abgang von mir auch als Befreiung erlebt wurde. Erst viele Jahre später war ich in der Lage, sein Grab zu besuchen und in den schwierigen Momenten meines Lebens ein Ferngespräch mit ihm zu führen, an dessen Ende ich jedesmal sicher war, dass er mir so wie ich ihm längst vergeben hatte. Manchmal denke ich sogar, dass er wie ein guter Engel über mir wacht und bei allen schweren Entscheidungen ungesehen bis zum heutigen Tag an meiner Seite weilt.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.07.2016.
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