Irene Beddies

Was ist Glück?



Da saß sie wieder einmal auf der Mauer. Sie war den Hofdamen entwischt.
Die hohe Mauer umgab einen Park mit Bäumen samt einem Schloss.
Hierhin, neben dem Eckpfeiler der Mauer, verkroch sich Prinzessin Rosalie, genannt Lila,  immer, wenn sie das Beobachtet-Werden, das sie als Bespitzelung deutete, nicht länger ertragen konnte. Auf einem ausgeklügelten Weg durch wenig benutzte Räume des Schlosses und endlich durch den hinteren Kücheneingang gelang es ihr manchmal, ungesehen zu entwischen und sich hier zu verstecken. Niemand konnte sich vorstellen, dass die zarte Prinzessin gut auf Bäume klettern könnte und von da aus auf die Mauer gelangte.
 
Weit entfernt hörte Lila die Rufe der Hofdamen. Sie grinste schadenfroh und ließ die Beine lustig baumeln.
In das Rufen mischte sich plötzlich ein anderer Ton, ein Blöken von Schafen. Das kam von der anderen Seite der Mauer. Neugierig lugte  Lila unter den überhängenden Zweiges des Baums hervor. In gemächlichem Tempo näherte sich eine kleine Schafherde. Dahinter lief der Hirte und strickte an einem Strumpf. Als er unter ihr auf dem Weg war, warf sie einen kleinen Ast auf ihn.
Erschrocken blickte der Hirte sich um, da traf ihn erneut ein Ästchen. Ein helles Lachen ertönte über ihm. Es sah zwei baumelnde Beine, die Füße steckten in seidenen Schuhen, die Waden in feinen weißen Strümpfen.
„He du, wie machst du es, dass du im Gehen stricken kannst?“
„Das ist nicht schwer, ohne diese Arbeit würde ich mich langweilen. Meine Mutter verkauft dann die Strümpfe im Dorf.“
„Bist du glücklich?“
„Na ja, ich kenne nichts anderes als Schafe zu hüten und Strümpfe zu stricken. Ob das Glück ist, weiß ich nicht. Ich bin es jedenfalls zufrieden.“
„Wie heißt du?“
„Manuel. Und du bist die Prinzessin Rosalie?“
„Ja, schrecklicher Name, nicht wahr? Nenn mich wie alle Lila.“
„Warum sitzt du denn auf der Mauer?“
„Ich habe das ewige Rumkommandieren der Hofdamen satt und will meine Freiheit.“
„Dann lauf doch einfach weg und sieh dir das Leben außerhalb der Mauern an.“
„Das wage ich nicht, wo soll ich denn hin? Wie kann ich mich im Leben zurechtfinden? Ich habe nichts gelernt, womit ich mein Brot verdienen könnte. Ich bin dazu erzogen, einen möglichst reichen und mächtigen Mann zu heiraten.“
Damit war das Gespräch auch schon am Ende. Beiden fiel nichts ein, womit sie es hätten verlängern können. Der Hirt musste ein wenig rennen, um seine weiterziehenden Schafe einzuholen. Lila sah in die Landschaft und grübelte.  Sie beneidete den Hirten um seine offensichtliche Freiheit. Er konnte, ohne herumkommandiert zu werden, seines Weges gehen. Er hatte etwas zu tun, ja sogar zwei Dinge: Schafe hüten und Strümpfe stricken.
Sie dagegen hatte immer nur Langeweile im Warten auf einen Bräutigam, den ihr Vater ihr aussuchen würde. Und ob sie den dann mochte oder nicht… sie schauderte.

Am Abend schlich sie sich in die Küche, setzte sich auf einen Hocker und beobachtete die Köchinnen und Hausmädchen. Sie lauschte ihren Gesprächen. Was sie taten, konnte Lila nicht immer verstehen, denn die Dinge, die vorbereitet wurden, ekelten sie zum Teil: rohes Fleisch, tote Hühner, schmutzige Wurzeln, zischendes Fett. Die Gespräche interessierten sie mehr. Aber aus ihnen erfuhr sie nicht viel, die jungen Mädchen redeten über junge Männer, die Frauen über ungezogene Kinder und Brutalitäten der Männer. Da fiel der Name Manuel. Eine junge Küchenhilfe vertraute einer anderen an, dass ihr Bruder Manuel spät vom Schafehüten zurückgekommen sei. Er habe sie gefragt, ob sie glücklich sei. „Von wegen“, habe sie ihm geantwortet, „warum denn? Mutter erlaubt mir nicht, eine Weberin zu werden, obgleich ich die Küchenarbeit hasse.“
Lila wurde nachdenklich. Offenbar war sie nicht die einzige, die etwas anderes wollte als die Eltern für sie vorgesehen hatten. Sie beschloss, ihre Augen und Ohren offen zu halten und selbst einmal Beobachterin anderer zu werden.
In den nächsten Wochen hielt sie sich dicht bei den Hofdamen auf. Sie fand heraus, dass auch sie nicht glücklich waren. Zwei etwas ältere beklagten, dass sie zu wenig mit ihren Männern zusammenkommen konnten, weil sie den strengen Dienst der Erziehung der Prinzessin übernommen hatten. Eine junge klagte, dass sie zu wenig verdiene, wenn sie die aufwendige Garderobe, die für ihren Stand angemessen war, bezahlen und gleichzeitig ihre Eltern unterstützen musste. Außerdem gäbe es kaum Gelegenheit, einen jungen Adligen kennenzulernen, der sie heiraten würde.
Gab es nirgends einen glücklichen Menschen? Sie nahm allen Mut zusammen und fragte ihren Vater: „Bist du glücklich Papa?“ „Ach Kleines, das ist eine schwere Frage. Ich bin glücklich, dass ich dich habe. Ich werde unglücklich sein, wenn du heiratest und dann fort bist. Ich bin froh, wenn ich etwas für mein Land tun kann, was ihm gut tut, bin aber traurig, wenn ich sehe, dass ich es nicht allen recht machen kann. So ist das“, seufzte er, „im Leben gibt es kein ungetrübtes Glück. Aber vielleicht ist das gut so. Denke einmal darüber nach, Kind.“
 
Als Lila wieder einmal auf der Mauer saß und grübelte, kam Manuel wie damals vorbei. Dieses Mal rief sie ihm zu, er solle einen Augenblick stehen bleiben.
„Kennst du einen Menschen, der uneingeschränkt glücklich ist?“, fragte sie rundheraus.
„Machst du dir immer noch Gedanken um das Glück, Lila?“
„Ja, Manuel, und bevor ich keine Antwort gefunden habe, kann ich nicht glücklich sein.“
„Dann komm doch für einen Tag mit mir und sieh, was du da erfahren kannst“, schlug der junge Hirt vor, „außerhalb des Schlosses, des Reichtums, des Verwöhnt- Werdens kommt dir vielleicht eine Erkenntnis.“
Sie verabredeten einen Tag, an dem Manuel eine Strickleiter mitbringen würde, damit sie ungesehen den Park verlassen und am Abend wieder betreten könnte.
 
Das Wetter war herrlich. Lila freute sich auf ihr Abenteuer. Pünktlich kam Manuel, warf die Strickleiter hoch und Lila kletterte an ihr hinunter. Sie hatte sich heimlich ein Kleid des Gesindes von der Wäscheleine genommen, ein Kopftuch aufgesetzt. Sie sah nicht viel anders aus als ein Mädchen vom Dorf.
Sie mussten sich eilen, der Herde zu folgen. Dabei stellte Lila fest, dass sie mit ihren seidenen Schuhen auf dem holprigen Pfad nicht mithalten konnte. „Zieh sie aus und lauf barfuß!“ Das ging besser, aber als sie die Schafe eingeholt hatten, wurde der Pfad enger und endete bald am Rand einer Heide. Lilas Füße taten ihr weh und fingen an zu bluten.
„Das ist nur ein momentanes Unglück“, tröstete Manuel sie, „jetzt brauchen wir nicht mehr viel zu laufen. Die Schafe fressen hier den ganzen Tag und abends kommen sie auf meinen Pfiff wieder zusammen, um im Dorf in ihre Ställe zu trotten.“
Die beiden jungen Leute setzten sich ins Heidekraut und sahen sich an. Viel zu sagen wussten sie anfangs nicht, bis Manuel aus einem Tuch sein Mittagessen herausholte.
„Komm, Lila, iss auch etwas, ich habe die letzten Tage das Essen für dich gespart.“ Lila schaute misstrauisch auf das, was ein Mittagsmahl sein sollte: dunkles Brot, das sie noch nie auf dem Tisch im Schloss gesehen hatte, vier kleine weiße Käse, ein Stück Speck und ein paar getrocknete Apfelringe.
„Und das ist ein Mittagsmahl?“, fragte sie beklommen. „Wo ist denn der Braten? Gibt es nichts zu trinken?“
„Doch, zu trinken gibt es genug, dazu müssen wir dann ein kleines Stück weiter zu einer Quelle.“
Lila blieb nichts übrig, als von den wenigen Speisen zu probieren. Die Neugier, die ein Teil von ihr war, ließ ihr zudem keine Ruhe. Sie wollte ja schließlich wissen, wie man glücklich war. Sie nahm ein Stück Brot. Außer dass es ziemlich grob und hart war, merkte sie einen intensiven Geschmack, der ihr sehr angenehm vorkam. Dann versuchte sie es mit dem Käse. Er schmeckte zwar etwas fremd, doch sehr würzig. Sie erkannte, dass die grünen Punkte im Käse gestoßene Kräuter waren. Zum Schluss nahm sie etwas vom Schinken, von dem Manuel ihr eine Scheibe abgeschnitten hatte.
Jetzt kam ein Gespräch in Gang über die Essgewohnheiten bei den Familien im Dorf  und ihrer im Schloss. Manuel staunte, was alles zu Mahlzeiten verarbeitet wurde, wie sie auf goldenen Tellern aufgetragen wurden und welche Tischsitten Lila lernen musste, um ihrer Erziehung Genüge zu tun. Hier brauchte sie nur zuzulangen und ihre Hände im Kraut vom Fett zu säubern.
Während sie sich unterhielten, strickte der junge Hirt unermüdlich, ohne hinsehen zu müssen, an einem langen Strumpf für den Winter.
Als sie durstig wurden, wechselte das Paar den Platz zur nahen Quelle. Lila trank begierig das frische Quellwasser und steckte ihre Füße in den beginnenden Bach, um sie zu kühlen. Sie fühlte sich sehr zufrieden und frei. Sie legte sich ins Gras und sah den ziehenden Wölkchen nach. Dann schlief sie ein.
Am späten Nachmittag weckte sie ein gellender Pfiff. Die Schafe versammelten sich um Manuel. Er half Lila auf. Langsam, denn die Schafe waren satt und träge geworden, wanderten die beiden jungen Leute den Pfad zurück, ohne ein weiteres Wort zu sprechen. Kurz vor der Mauer nahm Lila ihre Schuhe auf und zog sie an. Die Leiter baumelte im Wind. Manuel hatte Mühe, sie am unteren  Ende zu fassen, so dass Lila die Mauer hinaufklettern konnte. Oben angekommen, dankte sie Manuel und bat ihn, die Leiter bei ihr zu lassen.
 
Lange hing die Leiter bei Wind und Wetter, bis sie so abgewetzt war, dass sie zu Boden fiel und verrottete. Lila hatte es aufgegeben, nach dem perfekten Glück zu fragen. Sie hatte eingesehen, dass es glückliche, freie Momente gab, dass es ebenso unausgefüllte, sogar bedrückende Momente geben konnte.
Eines Abends sprach sie mit ihrem Vater über Glücklich-Sein und erzählte ihm alles, was sie darüber in den letzten Monaten erfahren zu haben glaubte. Der König schmunzelte, streichelte ihr über das Haar.
„Deine Nachforschungen sind nicht vergebens gewesen, Lila. Du hast etwas gelernt, das alle Menschen lernen sollten: das Leben ist keine gerade, ebene Sache. Wenn es nichts Trauriges oder Bedrückendes gäbe, könnte niemand das Glück spüren. Du wirst eine gute und gerechte Königin werden.“
 
© I. Beddies
 
 

Vorheriger TitelNächster Titel
 

Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Irene Beddies).
Der Beitrag wurde von Irene Beddies auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.07.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

Die Autorin:

Bild von Irene Beddies

  Irene Beddies als Lieblingsautorin markieren

Buch von Irene Beddies:

cover

In Krollebolles Reich: Märchen von Irene Beddies



Irene Beddies hat in diesem Band ihre Märchen für Jugendliche und Erwachsene zusammengestellt.
Vom Drachen Alka lesen wir, von Feen, Prinzen und Prinzessinnen, von kleinen Wesen, aber auch von Dummlingen und ganz gewöhnlichen Menschen, denen ein wunderlicher Umstand zustößt.
In fernen Ländern begegnen dem Leser Paschas und Maharadschas. Ein Rabe wird sogar zum Rockstar.
Auch der Weihnachtsmann darf in dieser Gesellschaft nicht fehlen.

Mit einer Portion Ironie, aber auch mit Mitgefühl für die Unglücklichen, Verzauberten wird erzählt.

Möchtest Du Dein eigenes Buch hier vorstellen?
Weitere Infos!

Leserkommentare (1)

Alle Kommentare anzeigen

Deine Meinung:

Deine Meinung ist uns und den Autoren wichtig!
Diese sollte jedoch sachlich sein und nicht die Autoren persönlich beleidigen. Wir behalten uns das Recht vor diese Einträge zu löschen!

Dein Kommentar erscheint öffentlich auf der Homepage - Für private Kommentare sende eine Mail an den Autoren!

Navigation

Vorheriger Titel Nächster Titel

Beschwerde an die Redaktion

Autor: Änderungen kannst Du im Mitgliedsbereich vornehmen!

Mehr aus der Kategorie "Kinder- und Jugendliteratur" (Kurzgeschichten)

Weitere Beiträge von Irene Beddies

Hat Dir dieser Beitrag gefallen?
Dann schau Dir doch mal diese Vorschläge an:

Am Grab von Irene Beddies (Zwischenmenschliches)
Johannes (eine Geschichte vom Sterben und Leben) von Christa Astl (Kinder- und Jugendliteratur)
Erinnerungen an 1944 (Zweiter Teil) von Karl-Heinz Fricke (Autobiografisches)

Diesen Beitrag empfehlen:

Mit eigenem Mail-Programm empfehlen