Dies ist eine rein fiktive Geschichte Sie bezieht sich nicht auf ein reales Geschehen. Ähnlichkeiten wären rein zufällig
Das schwarze Kaninchen mit dem glänzenden Fell und den matt glänzenden Augen schaute mich durch den dünnen Draht seiner Käfigtüre an. Seine Box lag in der unteren Reihe der doppelstöckigen Stallanlage, irgendwo in der Mitte zwischen den anderen Fleischkaninchen. Seine Ohren waren innen braun-krustig belegt durch eine juckende Ohrräude. Wären Kaninchen hier paarweise in ihren Abteilen untergebracht, dachte ich, dann würden sie sich gegenseitig die Ohren auslecken und er hätte möglicherweise keine Ohrentzündung. Dieses Vier- Kilogramm Kaninchen in Box vierzehn nannte ich Blue Bajou. Ich klebte seinen Namen neben die Nummer des Käfigs. Er war ein netter, friedlicher Kerl, der es, so wie die meisten seiner Kumpel hier, gern hatte wenn man ihn streichelte oder ihm irgendwie Beachtung schenkte. Er gehörte zu der Sorte Kaninchen, die das Ohr auf derselben Seite hochstellen, auf der man sie am Unterkiefer krault.
In den Nachbarkäfigen saßen aggressive Kaninchen. Wenn man ihnen Futter-. oder Wasser-schälchen in den Käfig stellte, klopften sie mit den Hinterläufen laut auf den Käfigboden und verharrten anschließend gespannt und bewegungslos. Manchmal knurrten sie auch und kratzten mit den Vorderläufen blitzschnell in die Hand, die in ihren Käfig eingedrungen war. Oft genug flogen die Schälchen dann in die Ecken der Käfige und das Futter kippte auf den Boden. Es gibt Menschen, die wissen nicht, dass Kaninchen eigene Charaktere haben, dass es auch bei Kaninchen mutige Persönlichkeiten gibt, ängstliche, aggressive, neugierige oder aber Tiere, die einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen. Es ist wie bei den Menschen, einigen macht es gar nichts aus wenn Kaninchen vor ihren Augen geschlachtet werden und andere brechen in Tränen aus und mögen dann das Fleisch der getöteten Tiere gar nicht mehr essen.
Die meisten Kaninchen in diesem Stall mit Einzelhaltung wurden gerne gekrault. Manche am liebsten am Kieferwinkel, andere bevorzugten eine Massage über der Wirbelsäule, wieder andere wollten sehr langsam und zart gestreichelt werden, oder sie genossen es am meisten, wenn man sie mit den Fingerkuppen kreisförmig kraulte. Streichelte man sie anders als sie es wollten, wurden sie unruhig und setzten sich so lange um, bis man sie verstanden hatte. Als Aufforderung stupsten sie die streichelnde Hand mit ihrer Nase an und senkten anschließend demütig ihren Kopf. Einige Tiere hörten gerne Schlaflieder während man sie streichelte. Sie wurden dann ganz ruhig und schlossen die Augen. Vielleicht haben diese Lieder eine eigene Rhythmik oder Tonlage, die auch Kaninchen gut gefällt. Das wurde glaube ich noch niemals in einem Tierversuch untersucht.
Ich schaute mir den Stall mit den Kaninchen gut an, weil ich ab morgen meinen Onkel Miro vertreten sollte, der überraschend ins Krankenhaus musste. Für Rasenmähen, Äpfel- und Birnen-ernte und für die Versorgung des Kaninchenstalls verdiente ich mir etwas dazu. Er verkaufte Bio-Fleisch an Restaurants und an private Kunden. Zehn Euro das Kilo Fleisch . Ich liebe meine Tiere betonte er immer wieder. Denen geht es bei mir tausendmal besser als in diesen Zuchtanlagen, wo die Kaninchen dicht an dicht in Riesenkäfigen sitzen und sich nicht ein einziges Mal in ihrem Leben nach oben strecken können und wo die Drahtgitter unten die Pfoten zerschneiden. Die Deutschen kaufen aber weniger Kaninchenfleisch als früher, meinte Onkel Miro. Es gibt ja jetzt viele, die gar kein Fleisch mehr essen. Das sei ja Quatsch aber man muss natürlich auf die Herkunft des Fleisches achten. Die Tiere müssen anständig gelebt haben. So wie meine Hunde, sagte er und Tränen stiegen ihm in die Augen, denn sein Ilex, der große schwarze Hund, war vor gar nicht langer Zeit gestorben. Als Futtervorrat für die Karnickel hatte Onkel Miro mir vorsorglich zwei Säcke Pellets hingestellt. In ein paar blauen Plastiksäcken war noch Futterobst und Gemüse, das aber leider nach drei Tagen zu faulen begann. Die Ratten bedienten sich und die Katzen zerfetzten die Säcke und verteilten den Inhalt überall.
An meinem ersten Arbeitstag, wirkte die Stalleinstreu in den Käfigen sauber und trocken, aber schon einen Tag später hatten die Kaninchen den Dreck unter der frisch aufgelegten Strohschicht wieder frei gegraben und saßen , wie wohl vorher auch, feucht und warm in einer Mischung aus Stroh mit Kot und Urin. Sie taten mir leid. Drei Tiere hatten schlecht heilende Wunden an den Unterseiten der Pfoten. Jetzt im heißen Sommer krochen und schoben sich Fliegen einzeln und in Schwärmen über den Unrat in den heißen, dämmerigen Käfigboxen. Besonders die trächtigen Häsinnen litten unter ihnen und der Hitze, die ihnen das Atmen erschwerte. Sie legten sich auf die Seite um den vermutlich drückenden Bauch zu entlasten. Große Kaninchenrassen kriegen viele Babys, kleine Rassen weniger, sagt Onkel Miro und hier saßen viele große Tiere. Ein paar davon waren Deutsche Riesen in Gold. Wunderschöne Tiere, alle im oberen Stockwerk, direkt unter dem stickig heißen Wellblech- Dach. In der oberen Käfigreihe saß auch ein Pärchen Meerschweinchen und in der Box daneben waren zwei Zwergkaninchen zusammen. Sicher Tiere, die die Leute Onkel Miro geschenkt hatten, weil die Kinder keine Lust mehr hatten sich um sie zu kümmern. Mein Onkel hatte dann bestimmt wieder ein Riesengeschäft gewittert, denn die Leute verschenkten häufig das Tierzubehör zusammen mit den Tieren. Er würde bestimmt versuchen sie meistbietend weiter zu verkaufen. Blue Bajou hatte es etwas kühler, weil er in der unteren Reihe seinen Platz hatte, so wie die anderen kleineren braunen und schwarzen Fleischkaninchen. Es gab auch ein paar gefleckte Tiere im Stall. Hübsche Tiere, die sicherlich recht preisgünstig gewesen waren, weil sie die Standards der Rasse nicht erfüllten. Die endeten dann in Onkel Miros Stall als Schlachtkaninchen. Gehäutet sehen die alle gleich aus, meinte er.
In meiner Eigenschaft als neue Stallwartin traute ich mich den braven Blue Bajou eines Tages nach draußen in eine Art Gehege zu setzen, das auf einer Wiese stand. Ich tat das aus einer Laune heraus, weil ich dachte, dass er und die anderen Kaninchen dieses Stalles ihr ganzes Leben lang, bis zu ihrem Schlachttod niemals Gras sehen würden. Blue Bajou und die anderen wären dann in diesen dunklen Stall hineingeboren worden und würden irgendwann in diesem Dunkel hier geschlachtet werden und sterben. Was haben diese Tiere dann von ihren Leben gehabt? Haben Tiere eine Ahnung in ihren Genen einprogrammiert, dass es eine Parallelwelt zu ihren Ställen geben muss? Eine Welt aus Sonne, Gras, Lufthauch oder Freiheit, vielleicht sogar mit Mardern ? Eine Welt aus Freude und Spannung?
Als er draußen im Gehege saß bewegte sich Blue Bajou zögernd und langsam. War er geblendet? Es war vermutlich das erste Mal, dass er in seinem Leben frisches Gras sah, roch und es fühlte. Vielleicht sah er das erste Mal überhaupt irgendwelche Farben. Er blieb lange kauernd sitzen, dann hoppelte er zwei , drei Sprünge in Zeitlupe. Er rannte nicht herum und sprang auch nicht vor Freude in die Luft, so wie ich es erwartet hatte. Ich war ein bisschen enttäuscht. Ich wollte gerne glauben, dass es ihm hier draußen gefiel, trotz seines zögerlichen Verhaltens. Ich beschloss in meiner Stallbetreuungszeit von nun ab alle Kaninchen der Reihe nach probehalber möglichst zweimal, nach draußen setzen. Das ist man der Kreatur schließlich schuldig. Nur die, die beißen, mich anknurrten oder kratzen würden, wenn ich sie raus nahm, schloss ich aus meinem Plan aus. Jedes Mal wenn ich Blue Bajou nach so einem Ausflug wieder in seinen Käfig zurück getragen hatte, kauerte er sich dort still und bewegungslos hin. Ich war verunsichert. Gefiel ihm das Raussetzen wirklich, oder wollte er lieber in Ruhe gelassen werden? Wenn ich die anderen Kaninchen fütterte und ihn ignorierte, richtete er sich von nun an in seinem Käfig auf, krallte seine Vorderfüße in den Kaninchendraht und ließ die Krallen daran herabgleiten. Damit machte er laute, kratzende Geräusche, solange bis ich ihn fütterte. Ich kannte dieses Verhalten von einigen der anderen Kaninchen, aber Blue Bajou hatte das bisher noch nie gemacht.
Als ich eines Nachmittags zur routinemäßigen Kontrolle in den Stall kam, war zu meiner Verwunderung die Käfigbox von Blue Bajou leer. Ich wusste noch nicht, dass Onkel Miro am selben Vormittag eilig aus dem Krankenhaus entlassen worden war, weil sie dort Betten gebraucht hatten. Jetzt arbeitete er schon wieder in der angrenzenden Werkstatt. Ich vermutete einen Augenblick lang, dass er Blue Bajou geschlachtet hätte, aber dann sah ich das schwarze Kaninchen reglos und schnell atmend unter seinem Stall auf der Erde liegen. Er hatte offenbar ein kleines Loch in den dünnen Kükendraht seiner Käfigtüre gebissen und sich dadurch dann aus dem Käfig heraus gewunden. Dabei musste er irgendwie mit den Hinterläufen hängen geblieben sein und sich schwer verletzt haben, denn er konnte sie offensichtlich nicht bewegen. Als ich Blue Bajou hoch nahm um ihn in seinen Käfig zurück zu setzen hingen die Hinterbeine schlaff herunter, ohne äußerlich sichtbare Verletzung. Warum hatte er ein Loch in den Küken Draht der Käfigtüre gebissen? War er aus seiner Box ausgebrochen, weil er wieder nach draußen ins Gras wollte? Hatte er eine Art Freiheitsdrang verspürt oder war seine Flucht zu diesem Zeitpunkt einfach Zufall gewesen? Ich wagte diese Frage kaum zu denken. Blue Bajou hatte etwa drei Jahre still und verhältnismäßig gesund in seinem Käfig gesessen und jetzt dieser Ausbruchsversuch, der zur Lähmung der Hinterbeine geführt hatte. Eine Querschnittslähmung? Was das meine Schuld? Wieviel Schmerzen hatte er ? Ich fühlte mich nicht gut.
Neben mir trat Onkel Miro in den Stall, warf mir einen vernichtenden Blick zu, während ich mich um Blue Bajou kümmerte, drehte sich um ohne ein Wort zu sagen und verließ das Grundstück. Er glaubte wohl, dass ich die Käfigtüre der Stallbox versehentlich offen gelassen hatte, so dass das Kaninchen deshalb aus dem Käfig entkommen war. Das Loch in der Türe der Box hatte er nicht gesehen. Ich verschloss es mit Drahtresten. Dann lagerte ich das arme schwarze Tier sorgsam auf trockenes, sauberes Heu, schob seine Hinterläufe zurecht, stellte ihm ein niedriges Trinkschälchen vor das Maul, denn er konnte ja nur noch den Oberkörper aufrichten, suchte ein paar Löwenzahnblätter und wartete bis er sie gefressen hatte. Anschließend verließ auch ich das hilflose verletzte Kaninchen. Es war mittlerweile so dunkel, dass man nichts mehr sehen konnte.
Am nächsten Morgen war mein Onkel schon vor mir beim Stall. Ich musste mit ihm sprechen. Er stand wieder in seiner Werkstatt. Kein Kaninchen war gefüttert. Blue Bajou lag immer noch an derselben Stelle im Käfig wie gestern. Ich schaute mir seine Hinterläufe an. Kaninchen versuchen ihre Schmerzen sehr, sehr lange zu verstecken. Die Beine und der Po lagen in frischen Urin und Kot, weil er sich ja nicht bewegen konnte. Der Onkel kam, sah sich das an und drehte sich um, um weg zu gehen. Ich hielt ihn fest. Sachlich erklärte ich ihm dass er jetzt entweder einen Tierarzt holen oder das Kaninchen schlachten müsse.“ Es tat mir sehr weh das zu sagen, denn ich wusste, dass er keinen Tierarzt holen würde. Wir standen direkt neben dem Tier als ich das sagte und ich glaube, dass Tiere den Inhalt einiger Gespräche erfühlen können. Ich war sehr traurig. Onkel Miro drehte sich von uns weg und verließ wieder wortlos den Stall. Ich wusch das Kaninchen so gut es ging. Zwischen den feuchten Hinterläufen war es fast heiß. Ich legte erneut trockenes Heu unter das Tier und zwischen die Beine und stellte ihm Essen und Trinken in erreichbare Nähe. Dann verließ ich ihn. Ich hoffte dass Onkel Miro ihn abends schlachtete aber am nächsten Morgen war die Lage unverändert. Am übernächsten Morgen, Onkel Miro stand wie immer in der Werkstatt, entdeckte ich eine kleine Wunde am Po des Tieres. Wieder bat ich den Onkel das Tier zu töten aber er lehnte wieder ab. „Der erholt sich noch“, meinte er, ohne dass er ihn sich wirklich angeschaut hatte. Einen Tag später konnte man das Fell über der Wunde weg klappen. Die Seitenränder waren brüchig und rissen einfach ab. Man konnte die Ränder mit dem schwarzen Fell einfach wegwischen. Die Wunde war jetzt doppelt so groß geworden. Plötzlich sah ich zu meinem Entsetzen, dass sich unter den Rändern der Wunde und in der dunklen Tiefe einzelne fette, schmutzig- weiße Larven ringelten. Mit Handschuhen und sammelte ich sie ab. Es dauerte eine Weile, denn es kamen immer mehr, irgendwo aus der Tiefe. Nachdem die Wunde gesäubert war, gab ich Blue Bajou zu essen und zu trinken und bettete ihn wieder trocken. Er leckte er mir die Hand. Nie zuvor hatte das ein erwachsenes Kaninchen in diesem Stall bei mir getan. Er wusste, dass ich versuchte ihm zu helfen so gut ich konnte. Wir waren Freunde geworden. Ich veranlasste seine Tötung. Ein Foto von ihm steht auf meinem Schreibtisch. Bei Tierversuchen an den Universitäten geht es oft genug ebenso grausam zu. Vorsätzlich.
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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Christina Gerlach-Schweitzer).
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.08.2016.
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