Christina Gerlach-Schweitzer

Die Geschichte des Kaninchens Blue Bajou

                                                                                    Dies  ist eine rein fiktive Geschichte Sie  bezieht sich nicht auf ein reales Geschehen. Ähnlichkeiten wären rein zufällig


Das schwarze Kaninchen mit  dem  glänzenden Fell  und den  matt glänzenden Augen schaute mich durch den dünnen Draht seiner Käfigtüre an.  Seine  Box  lag in der unteren Reihe der  doppelstöckigen Stallanlage, irgendwo in der Mitte zwischen  den  anderen Fleischkaninchen. Seine Ohren waren innen braun-krustig belegt durch  eine  juckende Ohrräude. Wären Kaninchen hier paarweise  in ihren Abteilen untergebracht,  dachte ich, dann würden sie sich gegenseitig die Ohren auslecken und er hätte möglicherweise keine Ohrentzündung.  Dieses  Vier- Kilogramm  Kaninchen in  Box vierzehn nannte ich Blue Bajou. Ich klebte seinen Namen neben die Nummer des Käfigs. Er war ein  netter, friedlicher Kerl, der es, so wie die meisten seiner Kumpel hier,  gern hatte wenn man ihn streichelte oder ihm irgendwie  Beachtung schenkte. Er gehörte zu der Sorte  Kaninchen, die das Ohr auf derselben Seite hochstellen, auf der man sie am Unterkiefer  krault.   
 In den Nachbarkäfigen saßen aggressive Kaninchen.  Wenn man  ihnen Futter-. oder Wasser-schälchen in den Käfig  stellte, klopften sie mit den Hinterläufen laut  auf den Käfigboden und verharrten anschließend  gespannt und bewegungslos. Manchmal  knurrten sie auch  und kratzten mit den Vorderläufen  blitzschnell  in die Hand, die in ihren  Käfig eingedrungen war. Oft genug flogen die Schälchen dann in die Ecken der Käfige und das Futter kippte auf den Boden. Es gibt Menschen, die wissen nicht, dass  Kaninchen eigene Charaktere haben, dass es  auch bei Kaninchen mutige Persönlichkeiten gibt, ängstliche,  aggressive, neugierige oder  aber Tiere, die einfach nur in Ruhe gelassen werden wollen. Es ist wie bei den Menschen, einigen macht es  gar nichts aus wenn Kaninchen vor ihren Augen geschlachtet werden und andere brechen in Tränen aus und mögen dann das Fleisch der getöteten Tiere gar nicht mehr essen.
  Die meisten Kaninchen in diesem Stall mit Einzelhaltung wurden  gerne gekrault. Manche am  liebsten am Kieferwinkel, andere bevorzugten eine  Massage über der Wirbelsäule, wieder  andere wollten  sehr langsam und zart gestreichelt werden,  oder sie genossen es am meisten, wenn man sie  mit  den Fingerkuppen kreisförmig kraulte. Streichelte man sie  anders als sie es wollten, wurden sie unruhig   und setzten sich so lange um, bis man sie verstanden hatte. Als Aufforderung   stupsten sie die streichelnde Hand mit ihrer Nase an und senkten anschließend demütig ihren Kopf. Einige Tiere hörten gerne Schlaflieder während man sie streichelte.  Sie wurden dann  ganz ruhig und schlossen die Augen. Vielleicht haben diese Lieder eine eigene Rhythmik oder Tonlage, die  auch Kaninchen gut gefällt. Das wurde glaube ich noch niemals  in einem Tierversuch untersucht.
 Ich schaute mir den  Stall mit den  Kaninchen gut an, weil ich ab morgen  meinen Onkel Miro vertreten sollte, der überraschend ins Krankenhaus musste. Für Rasenmähen, Äpfel- und Birnen-ernte   und für  die Versorgung des Kaninchenstalls  verdiente ich  mir etwas dazu.  Er verkaufte Bio-Fleisch an Restaurants und an private Kunden.  Zehn Euro das Kilo Fleisch . Ich liebe meine Tiere betonte er  immer wieder. Denen geht es bei mir tausendmal besser als in diesen  Zuchtanlagen, wo die Kaninchen dicht an dicht in Riesenkäfigen sitzen und sich nicht ein einziges Mal in ihrem Leben nach oben strecken können und wo die Drahtgitter unten die Pfoten zerschneiden. Die Deutschen kaufen aber  weniger Kaninchenfleisch als früher, meinte Onkel Miro. Es gibt ja jetzt viele, die gar kein Fleisch mehr essen. Das sei ja Quatsch aber man muss natürlich auf die Herkunft des Fleisches  achten. Die Tiere müssen  anständig gelebt haben. So wie meine Hunde, sagte er und Tränen stiegen ihm in die Augen, denn sein Ilex, der große schwarze Hund, war vor gar nicht langer Zeit gestorben. Als Futtervorrat für die Karnickel hatte Onkel Miro  mir  vorsorglich zwei Säcke Pellets hingestellt. In ein paar blauen Plastiksäcken war noch  Futterobst und Gemüse, das aber leider  nach drei Tagen zu faulen begann. Die Ratten  bedienten sich und die Katzen zerfetzten  die Säcke und verteilten  den Inhalt überall.
 An meinem ersten Arbeitstag, wirkte die Stalleinstreu in den Käfigen  sauber und trocken, aber schon einen Tag später hatten die Kaninchen den Dreck unter der frisch aufgelegten Strohschicht wieder frei gegraben und saßen , wie wohl vorher auch, feucht  und warm in einer Mischung aus  Stroh mit  Kot und Urin. Sie taten mir leid.  Drei Tiere hatten schlecht  heilende Wunden an den Unterseiten der Pfoten. Jetzt im heißen  Sommer krochen und schoben sich Fliegen einzeln und in Schwärmen  über den Unrat in  den heißen, dämmerigen Käfigboxen. Besonders die trächtigen Häsinnen litten unter ihnen und  der Hitze, die ihnen das Atmen erschwerte. Sie legten sich  auf die Seite um den vermutlich drückenden Bauch zu  entlasten. Große Kaninchenrassen kriegen viele Babys, kleine Rassen weniger, sagt  Onkel Miro und hier saßen viele  große Tiere.  Ein paar davon waren Deutsche Riesen in Gold. Wunderschöne Tiere, alle im oberen Stockwerk, direkt unter dem stickig heißen Wellblech- Dach.  In der oberen Käfigreihe  saß  auch ein Pärchen Meerschweinchen und in der Box daneben waren zwei Zwergkaninchen zusammen. Sicher Tiere, die die Leute Onkel Miro geschenkt hatten, weil die Kinder keine Lust mehr hatten sich um sie zu kümmern. Mein Onkel hatte  dann bestimmt wieder ein Riesengeschäft gewittert, denn die Leute verschenkten häufig das Tierzubehör zusammen mit den Tieren. Er würde bestimmt versuchen sie meistbietend weiter zu verkaufen. Blue Bajou hatte es etwas kühler, weil er in der unteren Reihe seinen Platz hatte, so wie die anderen kleineren braunen und schwarzen Fleischkaninchen. Es gab auch ein paar gefleckte Tiere im Stall. Hübsche Tiere, die  sicherlich recht preisgünstig gewesen waren, weil sie die Standards der Rasse nicht erfüllten. Die endeten dann in Onkel Miros Stall als Schlachtkaninchen.  Gehäutet   sehen die  alle gleich aus, meinte er.
In meiner Eigenschaft als neue  Stallwartin traute  ich mich  den braven Blue Bajou eines  Tages nach draußen in eine Art Gehege zu setzen,  das auf einer Wiese stand. Ich tat das  aus einer Laune heraus, weil  ich dachte, dass er und die anderen Kaninchen dieses Stalles  ihr ganzes Leben lang, bis zu ihrem Schlachttod niemals Gras sehen würden.  Blue Bajou und die anderen wären dann in diesen dunklen Stall hineingeboren  worden und würden  irgendwann  in diesem  Dunkel hier geschlachtet werden und sterben. Was haben diese Tiere  dann von ihren Leben gehabt?  Haben Tiere  eine Ahnung in ihren Genen einprogrammiert, dass es  eine Parallelwelt zu ihren Ställen geben muss?  Eine Welt aus Sonne, Gras, Lufthauch oder Freiheit, vielleicht sogar mit Mardern ? Eine Welt aus Freude und Spannung?
Als er draußen im Gehege saß bewegte sich Blue Bajou  zögernd und  langsam. War er geblendet?  Es war   vermutlich das erste Mal, dass er in seinem Leben  frisches Gras sah, roch und es fühlte. Vielleicht sah er das erste Mal überhaupt irgendwelche Farben. Er blieb lange kauernd  sitzen, dann hoppelte er  zwei , drei Sprünge in Zeitlupe. Er rannte nicht herum und sprang auch nicht vor Freude in die Luft, so wie ich es erwartet hatte. Ich war  ein bisschen enttäuscht. Ich wollte gerne glauben, dass es ihm hier draußen gefiel, trotz seines zögerlichen Verhaltens. Ich beschloss in meiner Stallbetreuungszeit   von nun ab  alle Kaninchen  der Reihe nach probehalber  möglichst zweimal, nach  draußen setzen. Das ist man der Kreatur schließlich schuldig. Nur die, die beißen,  mich anknurrten oder kratzen würden, wenn ich sie raus nahm, schloss ich aus meinem Plan aus. Jedes Mal wenn ich Blue Bajou  nach so einem Ausflug wieder in seinen Käfig zurück getragen hatte,  kauerte er sich dort  still und bewegungslos hin. Ich war  verunsichert. Gefiel  ihm  das Raussetzen wirklich, oder wollte er lieber in Ruhe gelassen werden?  Wenn ich die anderen Kaninchen fütterte und ihn ignorierte,  richtete er sich  von nun an in seinem Käfig auf, krallte seine Vorderfüße in den Kaninchendraht und ließ die Krallen daran herabgleiten. Damit  machte er  laute, kratzende Geräusche, solange bis ich ihn fütterte.  Ich kannte dieses Verhalten von einigen der anderen Kaninchen, aber Blue Bajou hatte das bisher noch nie gemacht.
Als ich eines   Nachmittags zur routinemäßigen Kontrolle  in den Stall kam, war zu meiner Verwunderung die Käfigbox von Blue Bajou leer. Ich wusste noch nicht, dass Onkel Miro  am selben Vormittag  eilig aus dem Krankenhaus entlassen worden war, weil sie dort  Betten gebraucht hatten. Jetzt arbeitete er schon wieder in der angrenzenden Werkstatt. Ich vermutete  einen Augenblick lang, dass er Blue Bajou  geschlachtet hätte, aber dann sah ich das schwarze Kaninchen reglos und schnell atmend  unter seinem Stall auf der Erde liegen. Er hatte offenbar ein kleines Loch in den dünnen Kükendraht  seiner Käfigtüre gebissen und  sich  dadurch  dann aus dem Käfig heraus  gewunden. Dabei musste er irgendwie mit den Hinterläufen hängen geblieben sein und sich schwer  verletzt haben,  denn er konnte sie  offensichtlich nicht bewegen. Als ich Blue Bajou hoch nahm um ihn in seinen Käfig  zurück zu setzen hingen die Hinterbeine  schlaff herunter, ohne äußerlich sichtbare Verletzung. Warum hatte er ein Loch in den Küken Draht der Käfigtüre gebissen? War er aus seiner Box  ausgebrochen, weil er wieder nach draußen ins Gras wollte? Hatte er eine Art Freiheitsdrang verspürt oder war seine Flucht zu diesem Zeitpunkt einfach Zufall gewesen?  Ich wagte diese Frage kaum zu denken. Blue Bajou hatte etwa drei Jahre still und verhältnismäßig gesund in seinem Käfig gesessen und jetzt dieser Ausbruchsversuch,  der zur  Lähmung der Hinterbeine geführt  hatte. Eine Querschnittslähmung?  Was das meine Schuld?  Wieviel Schmerzen hatte er ?  Ich fühlte mich nicht gut.
Neben mir  trat  Onkel Miro in den Stall, warf mir einen vernichtenden Blick zu, während ich mich um Blue Bajou kümmerte, drehte sich um ohne ein Wort zu sagen  und verließ das Grundstück. Er glaubte wohl, dass ich die Käfigtüre der Stallbox versehentlich offen gelassen hatte, so dass das Kaninchen  deshalb aus dem Käfig entkommen war. Das Loch in der Türe der  Box hatte er nicht gesehen. Ich verschloss es mit Drahtresten. Dann lagerte ich das arme schwarze Tier sorgsam auf trockenes, sauberes Heu, schob seine Hinterläufe zurecht,  stellte ihm ein  niedriges Trinkschälchen vor das Maul, denn er konnte ja nur noch den Oberkörper aufrichten, suchte ein paar Löwenzahnblätter und wartete bis er sie gefressen hatte. Anschließend  verließ auch ich das hilflose verletzte Kaninchen. Es war mittlerweile so dunkel, dass man nichts mehr sehen konnte.
Am nächsten Morgen war mein Onkel schon vor mir beim Stall. Ich musste mit ihm sprechen.  Er stand wieder in seiner Werkstatt. Kein Kaninchen war gefüttert. Blue Bajou lag immer noch an derselben Stelle im Käfig wie gestern. Ich schaute mir seine Hinterläufe an. Kaninchen versuchen ihre Schmerzen  sehr, sehr lange zu verstecken.  Die Beine und der Po lagen in frischen Urin und Kot, weil er sich ja nicht bewegen konnte. Der Onkel kam, sah sich das an und drehte sich um, um weg zu gehen. Ich hielt ihn fest. Sachlich erklärte ich ihm dass er jetzt entweder  einen Tierarzt holen oder das Kaninchen schlachten müsse.“ Es tat mir sehr  weh das zu sagen, denn ich wusste, dass er keinen Tierarzt holen würde.  Wir standen  direkt neben dem Tier als ich das sagte und ich glaube, dass Tiere  den Inhalt einiger Gespräche erfühlen können. Ich war  sehr traurig. Onkel Miro  drehte sich von uns weg und verließ wieder  wortlos den Stall. Ich wusch das Kaninchen so gut es ging.  Zwischen den feuchten Hinterläufen war es  fast heiß. Ich legte  erneut trockenes Heu unter das Tier und zwischen die Beine und stellte ihm Essen und Trinken in erreichbare Nähe. Dann verließ ich ihn. Ich hoffte dass Onkel Miro ihn abends schlachtete aber am nächsten Morgen war die Lage unverändert. Am übernächsten Morgen, Onkel  Miro stand wie immer in der Werkstatt, entdeckte ich eine kleine Wunde am Po des Tieres. Wieder bat ich den Onkel das Tier zu töten aber er lehnte wieder ab. „Der erholt sich noch“, meinte er, ohne dass er ihn sich wirklich angeschaut hatte.  Einen  Tag später konnte man das Fell über der Wunde weg klappen. Die Seitenränder waren brüchig und rissen einfach  ab. Man konnte die Ränder mit dem schwarzen Fell einfach  wegwischen. Die Wunde war jetzt doppelt so groß geworden. Plötzlich sah ich zu meinem  Entsetzen, dass sich unter den Rändern der Wunde und in der dunklen Tiefe einzelne fette, schmutzig- weiße Larven ringelten. Mit Handschuhen und sammelte ich sie ab. Es dauerte eine Weile, denn es kamen immer mehr, irgendwo aus der Tiefe.  Nachdem  die Wunde gesäubert war, gab ich Blue Bajou zu essen und zu trinken und bettete ihn wieder trocken. Er  leckte er mir die Hand. Nie zuvor hatte das  ein erwachsenes Kaninchen  in diesem Stall bei mir getan. Er wusste, dass ich versuchte ihm zu helfen so gut ich konnte. Wir waren Freunde geworden.  Ich veranlasste seine Tötung.  Ein Foto von ihm steht auf meinem Schreibtisch.    
Bei Tierversuchen an den Universitäten  geht es oft genug  ebenso grausam zu. Vorsätzlich.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.08.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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