Raffael Scherer

Wiederauferstehung

Ich habe mich oft gefragt, was gewesen wäre, wenn ich einfach nichts getan hätte, wenn ich einfach stumm sitzen geblieben wäre und die Dinge hätte passieren lassen.

Ich war gerade auf dem Weg nach Hause, ein wenig erschöpft von der Arbeit. Ich saß im Zug, meine Monatskarte in der Tasche, einen lauwarmen Kaffee, wie er an dem alten Kiosk am Bahnhof, wo man schon von weit draußen den Geruch von Tabak und Fett in der Nase hatte, verkauft wurde, in der Hand. Auf dem Tischchen vor mir lag ein Bahnmagazin, die erste Seite aufgeschlagen, schon darauf wartend, dass man sie weiterlese, umblätterte oder wenigstens wegräumte. Der Kontrolleur, der auf mich zukam, sah alt und müde aus, er musterte meine Karte mit einem Nicken und setzte sich auf einen Platz, eine Sitzgruppe weiter, da sonst keiner mit uns das Abteil teilte, von einem Pärchen am anderen Ende abgesehen. Er hatte seinen Arm um sie geschlungen und schaute vertieft in sein Buch, das er mit der anderen Hand festhielt, während die Frau abwechselnd auf ihr Handy sah und an ihren Fingernägeln herumspielte. Ich blätterte in dem Magazin vor mir und stieß auf ein Kreuzworträtsel. Da ich jedoch keinen Stift bei mir hatte, blätterte ich lustlos weiter und beobachtete beiläufig, wie die Frau auf den Kontrolleur zukam und ihn nach irgendeiner Zugverbindung fragte, worauf dieser, sein Blick hatte sich ein wenig aufgehellt, eine genaue Beschreibung auf seinen Notizblock kritzelte. In Gedanken sehnte ich mich nach einem Stift, das Kreuzworträtsel wieder aufgeschlagen. Mittlerweile war ihr Mann ihr gefolgt und stand stumm daneben, den Zeigefinger zwischen die Buchseiten geschoben. Die Frau stellte noch eine weitere Frage, worauf noch eine weitere Seite des Notizblocks beschrieben wurde. Der Mann sagte ,,Ja, genau, das ist gut.“ und widmete sich wieder seinem Buch an seinem Platz am Fenster.

Ich war mir nicht sicher was genau es war, aber irgendetwas schien mit dem Kontrolleur passiert zu sein. Sein Stift schien über das Papier zu fliegen, er hatte begonnen zu lächeln. Die Frau schien über die Auskunft sichtlich erleichtert, ja, es war fast so als würde ihr eine schwere Last abgenommen werden, ich bilde mir fast ein, dass sie größer geworden war, auf jeden Fall schien sie aufrechter zu stehen. Ich nahm einen Schluck meines Kaffees und begann im Takt der vorbeifahrenden Strommasten mit dem Finger auf den Tisch zu tippen. Der zweite Notizzettel war bereits voll und hing ausgerissen zwischen den Fingern des Kontrolleurs, der immer euphorischer mit der Dame redete, was diese zwar fröhlich, aber nicht lauter werdender erwiderte.

Er überreichte ihr den Zettel mit seiner hoch gestreckten Rechten, die Frau ergriff ihn mit ihrer Linken, ihre Fingerkuppen berührten sich, ihre Blicke tief in dem Kopf des anderen, nur kurz unterbrochen durch schnelles Umblicken zu dem Lesenden am Fenster.

Sie verharrten in dieser Position für ein paar Sekunden, ihr Lächeln unbeholfen, wie es in ihrem Alter sehr selten zu sehen ist, so als würden beide nicht mit Worten, nur mit Blicken ausdrücken, was sie meinten, die Münder jedoch offen und für alle Worte der Welt bereit.

,,Haben Sie einen Kugelschreiber?“ fragte ich den Kontrolleur und hielt ihm das Kreuzworträtsel hin. Ich konnte zusehen, wie die beiden wie von einem Zug überrollt zusammenzuckten. Die Gesichtszüge des Kontrolleurs, die für einen Moment entgleist waren, formierten sich zu einem routinemäßigen Lächeln, die Frau betrachtete, den rechten Mundwinkel angespannt, ihre Schuhspitzen. ,,Aber selbstverständlich, solang ich ihn wiederbekomme.“ Die Frau nickte noch einmal und begab sich wieder zu ihrem Mann am Fenster, ihr Handy in der rechten Hand fest umschlossen. Der Kontrolleur schien nun wieder müde geworden zu sein, er setzte sich und seufzte, die Augen fast geschlossen. Und doch war er nicht mehr der selbe Mann, der zuvor meine Fahrkarte kontrolliert hatte. Er besah beiläufig mein Kreuzworträtsel, das ich mittlerweile waagrecht größtenteils ausgefüllt hatte. ,,Auf so einer Zugfahrt kann es schon sehr langweilig werden, nicht wahr?“, bemerkte er, und im Takt der vorbeifahrenden Strommasten tippte sein Finger auf das Tischchen.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.08.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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