Iris Klinge

Der Sinn des Lebens

erschließt sich nicht jedem und hat viele Facetten. Manche finden den Sinn schon früh, andere erst spät oder gar nicht, je nachdem sie unter einer traumatischen Kindheit oder andere schweren Schicksalsschlägen litten. Für wieder andere ändert sich der Sinn des Leben im Laufe der Jahre. Was in der Jugend erstrebenswert war, kann im Alter völlig unbedeutend sein.

Mit dreizehn fing ich an, täglich meine Erlebnisse in ein Buch zu schreiben, denn ich verstand mich und die Welt um mich herum nicht mehr. Mit einer eng befreundeten Klassenkameradin tauschten wir unser „Tagebücher“ regelmäßig aus, denn wir hatten Angst, dass sie von unseren Eltern gelesen würden. Ich fragte mich immer, was soll das Ganze? Bin ich im falschen Land geboren? Bei den falschen Eltern? Wenn ich alles aufschreiben würde, könnte ich vielleicht eines Tages begreifen, was bei mir nicht in Ordnung war, denn ich empfand mich anders als meine Freundinnen. Mit über 30 warf ich alle meine Tagebücher in den Rhein, denn ich hatte Angst, meine Familie könnte sie eines Tages entdecken und lesen. Niemand sollte von meinen Geheimnissen erfahren.

Die Pubertät war eine Zeit des Umbruchs. Ich lebte zwischen Feuer und Eis. Meine Mutter erdrückte mich mit ihrer Liebe zum „Einzigen, was ich habe“ (so ihre Worte, die mir noch heute nach 60 Jahren in den Ohren klingen). Mein Vater war viel zu alt für mich - 63 Jahre alt und 70 als ich endlich das Haus verlassen konnte. Ich empfand ihn als Despot. Ein einziges Mal verprügelte er mich vor meiner versammelten Geburtstags-Mannschaft, weil ich mich im Keller des Mehrfamilienhauses nebenan „herumtrieb“, wo ein paar nette Jungs uns Mädels Gesellschaft leisteten. Diese Demütigung vergaß ich ihm nie. Noch als Studentin hörte ich regelmäßig die Worte : „So lange du die Beine unter meinen Tisch stellst, hast du gefälligst zu tun, was ich sage“.

Schon sehr früh war mein einziger Wunsch, nur schnell von zu Hause weg zu kommen. Nach dem Abitur durfte ich zum ersten Mal für drei Monate als auPair nach Schottland reisen, weil Bekannte meiner Eltern uns diese Familie in Edinburgh vermitteltet hatten. Damals kostete ich zum ersten Mal das süße Elixir der Freiheit. Ich stellte mir vor, so schnell wie möglich auf eigenen Beinen zu stehen, einen Beruf zu haben und frei zu sein. Das war mein Ziel und der damalige Sinn meines Lebens.
Zwei etwas ältere Männer kreuzten damals meinen Weg und wollten mich partout festnageln, sprich heiraten. Doch mein Sinn stand überhaupt nicht nach einer festen Bindung, hatte ich doch gerade erst den Duft der Freiheit geschnuppert. Ich wollte studieren und einen Beruf ausüben. Da waren Männer nur ein Klotz am Bein.

Mitte zwanzig, nachdem alle meine Wünsche der Unabhängigkeit in Erfüllung gegangen waren, entwickelte sich das Bedürfnis nach einer eigenen Familie. Der passende Ehemann war schnell gefunden. Wir kannten uns weniger als drei Monate, als er mir einen Antrag machte, und ich „Ja“ sagte. In Wirklichkeit kannten wir uns überhaupt nicht - das holten wir dann in der Ehe nach.

Das erste Kind kam wenige Monate später ungewollt durch eine Fleischvergiftung zustande. Das zweite Kind kam bald hinterher. Der Sinn des Lebens war in jener Zeit die Familie. Wir hatten aufregende Jahre, weil wir durch den Beruf meines Mannes viel im Ausland lebten, und ich war erfüllt und glücklich.

Zurück in Deutschland und ohne weitere Pläne meines Mannes, eine neue Aufgabe im Ausland zu übernehmen, überfiel mich die Midlife Krise. Das aufregende Leben in Übersee sollte nun endgültig zu Ende sein. Ich wurde unzufrieden. Die Kinder mitten in der Pubertät, sehr anstrengend und fordernd, weil ich morgens an verschiedenen Botschaften als Dolmetscherin tätig war und das Mittagessen hoppla-hopp mit Tiefkühlkost auf den Tisch brachte.

Dieses Leben konnte doch nicht alles gewesen sein? Würde ich so enden wie meine Mutter, die immer meinte, sie würde alles anders machen, wenn sie nochmal auf die Welt käme?

Die Situation spitzte sich zu. Eines Tages verließ ich meine Familie ohne Vorwarnung und zog bei einer Freundin ein. Es war vor allem für die Kinder schlimm, die lange Zeit den Kontakt zu mir abbrachen.

Für mich begann die dritte Phase meines Lebens. Voller Neugier und Begeisterung konnte ich endlich die Welt weiter erkunden. Eine kleine Erbschaft meiner Mutter ermöglichte mir, unabhängig zu sein. Der Sinn des Lebens änderte sich: jetzt war es wichtig, die Grenzen meiner Möglichkeiten auszuschöpfen.

Eine kleine Wohnung in Teneriffa diente dazu, mit einem Wohnungs-Tausch-Programm alle fünf Kontinente zu bereisen und überall umsonst zu wohnen, während die Tauschpartner bei mir auf Teneriffa Urlaub machten. Hinzu kam, dass mein Sohn inzwischen Pilot geworden war und mir die sehr preiswerten „Stand-By“ Tickets besorgte.

Es war eine sehr turbulente Zeit, die ich niemals missen möchte. Heute bin ich etwas sesshafter geworden, doch noch immer zwischen den Kontinenten unterwegs, dadurch dass sich so viele Freundschaften entwickelt haben.

Am Ende meines langen Lebens möchte zufrieden sagen können, ich habe alles ausprobiert, bin oft an meine physischen und psychischen Grenzen gestoßen, habe vielen Menschen hier und in der Dritten Welt geholfen. Das war für mich der Sinn meines Lebens. Und ich möchte dankbar mit einem Lächeln auf den Lippen sterben.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.08.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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