Hans K. Reiter

Panik

 

Es gefiel ihm nicht, was er sah. Aber so sehr er es liebend gerne nicht wahrgenommen hätte - es war zu spät dafür.

Wie jeden Abend hangelte er sich die Treppe hoch. Das Haus hatte keinen Aufzug. Einmal wollte der Vermieter einen Versuch unternehmen, ließ es aber dann bleiben, nachdem ihm die Hausgemeinschaft gesagt hatte, dass sie einen Aufzug nicht wolle und schon gar nicht bereit wäre, deswegen etwa noch mehr Miete zu bezahlen. Also schleppte er sich und zwei Getränkekisten notgedrungen hoch zum vierten Stock. Eine verfluchte Schinderei war das.

Er hätte gerne einen Aufzug gehabt. Aber was soll's. Es gab keinen. Die anderen hatten ihn damals gar nicht erst gefragt. Sie mochten ihn nicht, das war ihm schon lange klar. Er da oben im Vierten, mit dem schönen, gemauerten Balkon nach hinten hinaus, wo die Sonne von mittags bis zum Abend ihre sengenden Strahlen ablud. Die unter ihm hatten auch Balkone, schmale Teile aus Eisen, aber eben nicht so wie der seine.  Und das neideten sie ihm.

Jetzt sah er hinunter, wie er es so oft tat, und mit einem Mal war sein Blick gefangen. Und er sah, was er nicht sehen wollte und er bemerkte, dass auch sie ihn sahen. Ihre Blickte trafen sich. Kein Zweifel! Deutlicher konnte es nicht sein und ein kalter Schauder erfasste ihn.

Irgendwo weiter unten brüllte ein Fernseher, weiter oben erfüllte der Lärm kreischender Kinder den angehenden Abend. Aber er hörte es nicht, sah nur wie gebannt auf das Geschehen, unfähig irgendetwas zu tun.

Eine Tür im Haus schlug zu. Dann plötzlich Totenstille. Das Geschrei der Kinder verstummt. Unwirklich, dachte der Mann im Vierten. Es schien ihm, als sei alles Leben erstarrt. Unwillkürlich duckte er sich, wandte seinen Blick verstohlen nach rückwärts, gerade so, als würde von dort eine drohende Gefahr auf ihn lauern, aber da war nichts.

Sein Blick hetzte zurück, dorthin, wo er Widerwillen dieses Geschehen hatte aufnehmen müssen. Nichts! Du bist verrückt!, sagte eine Stimme. Prüfend glitt sein Blick über die Front des Hauses gegenüber. Nein, er konnte nichts Auffälliges feststellen. Sollte er sich geirrt haben, einem Trugbild erlegen sein? Seine Nerven! Zu lange allein. War es das?

Er schrak zusammen. Jemand schlug gegen die Tür, immer wieder. Hallo, aufmachen!, rief eine tiefe Stimme. Wie paralysiert gehorchte er der Aufforderung. Schritt für Schritt schlurfte er über den Flur auf die Türe zu. Stoßweise pulsierender Atem, unregelmäßig rasendes Herz. Noch zwei Schritte! Hallo, aufmachen!, und noch etwas sagte die Stimme, aber er hörte es nicht mehr. Röchelnd brach er zusammen, die Augen verdreht, den Mund aufgerissen, als wollte er noch etwas rufen, doch kein Laut drang mehr über seine Lippen.

Ich glaube, wir haben ihn wieder!, hörte der Mann jemanden sagen, dann nahm er verschwommen die Umrisse einer Gestalt wahr. Was ist los?,  wollte er fragen, brachte aber nur undefinierbares Gekrächze hervor. Für einen Augenblick nur, einem Wimpernschlag gleich vielleicht, vermeinte er das Gesicht der Gestalt zu erkennen. Horror machte sich in seinem Kopf breit. Der gleiche durchbohrende Blick von Gegenüber. Sie waren bei ihm, wollten sein Leben! Es ist zu Ende!, hämmerte die Stimme in ihm, zu Ende! Verzweifelt versuchte er sich aufzubäumen, aber es gelang nicht. Ein mattes Stöhnen entrang sich seiner Kehle, dann fiel sein Kopf zur Seite.

Reanimieren, sofort!, sagte jemand. Wegbleiben!, sagte er noch, dann jagte der Defibrillator seine Stromstöße unbarmherzig durch den leblosen Körper. Noch einmal, wegbleiben! Und wieder diese gnadenlosen Stöße! Warum lassen sie mich nicht in Ruhe? Warum tun sie mir so Gräßliches an?, fragte sich der Mann, der nichts als seine Ruhe wollte, oben im vierten Stock, auf dem gemauerten Balkon. Nur Ruhe, bitte, ich will doch nur meine Ruhe!

Er kommt wieder, Glück gehabt, sagte die Gestalt und legte den Defibrillator zurück in den Koffer, schloss den Deckel und gab den beiden Sanitätern die nötigen Anweisungen für den Transport ins Krankenhaus.

Gott sei Dank haben Sie mitbekommen, dass er sich da oben auf dem Balkon merkwürdig verhalten hat. Es hätte leicht zu spät sein können, so aber sind wir gerade noch rechtzeitig hier gewesen, sagte der Mann mit dem Koffer und hievte die Arzttasche in den Wagen, bevor sie zügig mit Blaulicht und Signalhorn abfuhren.

Der Mann fühlte, wie eine angenehme Müdigkeit von seinem Körper Besitz ergriff. Da hast du es noch einmal geschafft, sagte die Stimme beruhigend und ein Lächeln entspannte sein Gesicht.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.08.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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