Steffen Herrmann

Der Barkley-Clan und das 25. Jahrhundert. Hochzeiten.

Sie robbte entschlossen durch die Stube und machte dabei blubbernde Geräusche.

Sie war ein Auto. Nach einigen Runden, sie wurde immer eleganter in den Kurven, erregte das metallene Dings ihre Aufmerksamkeit, das nahe eines Fensters an der Wand lehnte. Es war ein bisschen gross und glanzlos, sah aus wie ein dicker Stock mit einem kleinem Kopf, wie der verwunschene Prinz aus dem Märchen.

Jana unterbrach ihre Fahrt und beobachtete das Ding am Fenster eine Weile ganz genau. Es blieb reglos.

Sie richtete sich auf, stellte sich breitbeinig hin und rief in seine Richtung: „Hey!“

Jetzt hatte er gezuckt! Ein bisschen nur, aber sie hatte es gesehen. Es hatte den Kopf bewegt.

Sie rannte zu ihm rüber, mit stampfenden Schritten. Sie war klein, aber sie war eine Chefin.

Dort angekommen, baute sie sich vor ihm auf und schaute ihn mit der Strenge eines Kindes an.

„Hey!“

„Hallo Jana.“ antwortete der Roboter mit sanfter Stimme.

Jetzt kam Leben in ihn. Er bewegte seine dünnen Arme, die halb zu zucken und halb zu tanzen schienen. Und das Mädchen sah, dass er vier davon hatte.

„Warum hast du vier Arme?“

„Es ist eben so.“

„Ach.“

Er machte jetzt ein paar winzige Schritte, die Bewegungen der metallenen Beine waren erstaunlich geschmeidig. Sie beobachtete ihn unverholen.

„Mann, bist du dürr.“

„So ist es.“

„Wie heisst du?“

„Gar nicht.“

„Wie – gar nicht?“

„Ich habe keinen Namen.“

„Warum denn nicht?“

„Weil mir niemand einen gegeben hat.“

„Das ist ja schlimm. Doch wenn das so ist, werde ich dir einen geben.“

Sie trat einen Schritt zurück, legte ihren Kopf auf die Seite, dachte nach. Für eine Weile war es ganz still.

„Ich habe mich entschlossen.“ sagte sie schliesslich „Du wirst Theodor heissen.“

„Warum Theodor?“

„Weil“ Sie überlegte und sagte dann kokett wie eine kleine Prinzessin „Du wie ein Theodor aussiehst.“

Sie lief davon, um weiterzuspielen. Dann stoppte sie plötzlich und drehte sich wieder um.

„Theo“ rief sie. „Was kannst du?“

„Was soll ich denn können?“

„Wenn ich etwas hochwerfe, kannst du es dann fangen?“

„Ich denke schon.“

„Warte!“

Sie hastete in ihr Zimmer und durchwühlte ihre Puppenkiste. Nach kurzer Zeit entschied sie sich für ein Stofftier, einen kleinen Frosch, den sie prüfte, indem sie ihn mit ihren Händen malträtierte. Etwas entspannter kehrte sie zu ihrem neuen Freund zurück. Den Körper des Frosches zerquetschte sie dabei gnadenlos in ihrer Faust, nur seine etwas zu langen Beine baumelten frei umher.

„Fang!“ rief sie und schleuderte den Frosch von sich.

Plötzlich schoss ein Arm des Roboters nach vorn, so explosiv, dass Jana dieser Bewegung nicht einmal mit ihren Augen folgen konnte. Er umkrallte das Plüschtier, führte es zu sich zurück und drückte es an seine Brust. Das alles hatte nicht einmal eine halbe Sekunde gedauert.

„Mann, bist du schnell.“ murmelte sie bewundernd. „Das könnte ich nicht.“

„Bitte.“ Theo gab ihr das Spielzeug zurück.

„Noch mal.“ Jana wollte wieder werfen, das Plüschtier rutschte ihr aber halb aus den Händen und fiel taumelnd zu Boden. Theo hatte nicht einmal gezuckt.

„Warum fängst du nicht?“ fragte sie enttäuscht.

„Es war zu nahe an deinem Körper. Ich hätte dich verletzten können.“

„Ach so.“ Sie machte kurzzeitig einen verträumten, fast abwesenden Eindruck. Dann kam wieder Leben in sie.

„Jetzt pass aber mal auf, Theo!“ rief sie mit heller Stimme. Dann bückte sie sich, zählte konzentriert

bis drei und schleuderte den Frosch dann mit voller Kraft schräg nach oben. Sie verfolgte die Wurfbahn des Stofftiers, die erst in drei Metern Höhe, dicht unter der Zimmerdecke ihren Zenit hatte. Theo reagierte erst gar nicht, doch dann sprang er gleich einer übergrossen Grille unvermittelt empor, streckte seinen Arm weit nach vorn, ergriff das fliegende Spielzeug mit lässiger Präzision und landete sicher wieder auf seinen Füssen.

„Bravo!“ Jana war ausser sich. Sie klatschte in ihre Hände und trampelte mit den Füssen. „Bravo! Bravo!“

 

„Was ist da los?“

„Mama?“

Das Mädchen drehte sich um und sah ihre Mutter, die den Salon betreten hatte.

„Was machst du, Jana?“

„Ich spiele mit Theodor?“

„Wer ist Theodor?“

„Der da.“ Sie zeigte mit ihren Fingern auf ihn und grinste.

„Komm. Ich bringe dich in dein Zimmer. Da kannst du etwas anderes spielen.“

„Spielst du mit?“

„Später. Erst drinke ich einen Kaffee.“

„Und das kann dauern.“

Janas Zimmer sah chaotisch aus. Spielzeug lag überall verstreut, an manchen Stellen zu Haufen aufgeschüttet.

„Spiel schön. Ich komme dann.“

„Mama?“

„Ja, mein Kind?“

„Theo ist doch ein Roboter?“

„Ja sicher.“

„Lebt er?“

„Nein, es ist eine Maschine.“

„Können Roboter denken?“

Aminata überlegte. „Das kommt darauf an, was du unter Denken verstehst.“

„Gib mir eine Antwort!“

„Sagen wir mal so“ meinte sie nach einer Weile. „Roboter können keinen Schmerz fühlen und auch sonst nichts. Ihnen tut niemals etwas weh.“

Damit verliess sie ihre Tochter, die ins Grübeln gekommen war.

 

Zeit für den morgendlichen Kaffee. Sie schaufelte reichlich Pulver in den bauchigen Tonkrug und lauschte dem schon in die Jahre gekommenen Wasserkocher, der erst grollte, dann zischte und endlich blubberte. Gerade fertig geworden, sah sie Rebecca die Treppe herunterschlurfen. Ihre Freundin trug einen grauen Trainingsanzug und die Füsse steckten in hässlichen Filzschuhen, denen man von weitem ansah, dass sie staubig waren.

Aminata war barfuss, wie immer zu Hause. Dabei war es noch kühl, vor allem draussen.

„Ich bin gerade fertig.“ rief sie zu Rebecca „Setzen wir uns auf die Veranda.“

Sie gingen raus und machten es sich bequem.

„Das ist die schönste Stunde. Ich mag sie an keinem Tag verpassen.“

Rebecca war noch etwas mufflig. Sie schlurfte ihren Kaffee und wurde dabei allmählich wacher.

Die Sonne stand noch tief und warf lange Schatten. Zaghaft sandte sie die ersten Vorboten der baldigen Wärme.

„Schlafen noch alle?“ fragte Rebecca.

„Ausser Jana. Die habe ich in ihr Zimmer gebracht. Vielleicht macht sie ein Puzzle oder sie spielt Memory gegen sich selbst. Ich vermute aber eher, dass sie das Chaos bei sich vergrössert.“

„Sie hat immer Ideen.“

„Kann man so sagen. Sie hat sich heute morgen schon mit einem der Wächter angefreundet.“

„Mit einem Robot?“

„Sicher. Kinder haben da keine Probleme.“

„Ein intelligentes und sehr waches Mädchen. Du wirst noch viel Freude mit ihr haben.“

„Ich kann mich nicht beklagen. Wir kommen gut miteinander zurecht.“

Rebecca strich sich versonnen über ihren Bauch.

„Ich bin schon ganz gespannt darauf, wie meiner wird.“ seufzte sie.

„Dein Bauch jedenfalls wird rund und immer runder.“

„Ach du. Ich fühle mich …. wie ein Zentrum. Als würde ich ein Wunder auf die Welt bringen.“

„Wie die Jungfrau Maria.“

„Hör doch auf!“ Rebecca war verärgert. „Seit wann bist du so spöttisch? Ich rede ernsthaft.“

„Ich auch. Jedes Kind ist ein Wunder.“

„Aber nicht alle in gleichem Masse.“

„Du solltest dich wieder einkriegen. Sonst wird die Enttäuschung dann zu gross.“

„Sag mal“ Rebecca schaute jetzt mit grossen Augen zu ihrer Freundin. „findest du das eigentlich gut, was wir machen?“

„Nein.“

„Nein?“ Jetzt fiel ihr erstmal nichts mehr ein. Dann regte sich Empörung.

„Aber du musst deinen Mann unterstützen!“

„Nein.“

„Doch! Er hat einen schweren Job und viele Feinde. Du musst ihm den Rücken stärken, das ist deine verdammte Pflicht.“

„Hör mal, Rebecca! Wir sind nicht deshalb ein Paar geworden, damit ich ihn toll finde oder mich für ihn aufopfere. Das bringt es nun gar nicht. Ich habe meinen eigenen Kopf und ich kann damit selber denken. Das stand nie zur Debatte und Hektor würde nie soweit sinken, als dass das ein Problem werden könnte.“

„Redet ihr denn miteinander?“

„Natürlich.“

„Ich meine, über seine Arbeit.“

„Kaum“.

Sie fielen in Schweigen, gegenseitig ein wenig voneinander abgestossen, Dann nahm Rebecca das Gespräch wieder auf.

„Nun hast du mich aber neugierig gemacht.“ sagte sie „Was denkst du nun konkret?“

„Das ist ziemlich einfach. Die Truppen vom genetischen Institut haben einen besonderen Keim in dich und die anderen Mädchen gepflanzt. Und daraus werden demnächst dann die lang erwarteten Supermenschen. Und dann? Was sollen diese superintelligenten Menschen dann machen?“

„Sie werden für sich und uns neue Tätigkeitsbereiche eröffnen.“

„Eben nicht. Es gibt ja trotzdem keine Arbeit.“

„Das kommt dann wieder. Sie sind intelligenter, als wir uns das vorstellen können und kreativ. Als unsere Nachfahren werden sie die Arbeitswelt zurückerobern.“

„Ich glaube da nicht daran. Vor hundert Jahren waren noch neun Prozent aller Menschen berufstätig, jetzt sind es kaum noch sechs.“

„Und in noch einmal hundert Jahren wird dieser Trend sich umgekehrt haben.“

„Nein. In Wahrheit ist es nämlich sehr simpel. Es gibt zwei grosse Player: Silizium und Kohlenstoff. Und Silizium hat gewonnen.“

 

Rebecca war nicht lange die einzige Schwangere in diesem Haus. Als René zehn Monate alt wurde, blieb Aminatas Regel aus. Bald zeigten sich auch die ihr schon bekannten Symptome und trotz der gelegentlichen Übelkeit freute sie sich. Sie behielt die Neuigkeit für sich und machmal nahm sie sich vor, solange zu schweigen, bis Hektor es bemerken würde.

Es quartierten sich auch mehrere Z-Schwangerschaften ein. Rebeccas Aufenthalt hatte sich rasch herumgesprochen, auch hatten die FoGi-Kontaktpersonen ihre Klienten besucht und mit ihnen die Risiken und die Optionen diskutiert. Zeitweise wohnten fünfundzwanzig Frauen im Haus Barkley, es mussten sich dann zwei, in Ausnahmefällen sogar drei von ihnen ein Zimmer teilen.

Hektor schien das zu gefallen. Er war fast durchgehend freundlich. Abends sass er dann inmitten der jungen Frauen mit den wachsenden Bäuchen und trank kühlen, fruchtigen Weisswein. Als Einziger. Er versuchte sich sogar im Smalltalk und machte einige Fortschritte dabei. 'Reden in Textbausteinen' nannte er das.

Die ungewöhnliche Situation lockte verschiedene Medien an. Immer wieder kamen Journalisten.

Bevor sie das Haus betreten durften, wurden sie von den Wachrobotern genau kontrolliert. Aminata amüsierte sich, wenn sie die penible Prozedur beobachtete. Die Tür ihres Hauses war gesichert wie eine Staatsgrenze des 20. Jahrhunderts. Hektor bemühte sich, die gängigen Verschwörungstheorien nicht unnötig flottieren zu lassen, doch es war nicht von der Hand zu weisen, dass es einen ziemlich agilen Terrorismus gab und sie eine ideale Zielscheibe abgaben. Speerspitzenprojekte, insbesondere genetische, zogen solche Mörder an wie Motten das Licht.

Mit der Zeit wiederholten sich die Fragen der Journalisten. Auch bemerkten sie, dass sie zunehmend zu einem Thema für den Boulevard wurden. Fünfundzwanzig Frauen, die sich im Haus eines Wissenschaftlers versteckten. Das war ein Thema, das reichlich Stoff vermuten liess, man suchte Geschichten: leicht verdauliche Cocktails aus Pikantem und Seriösem, das sich leicht zu epochaler Grösse aufblasen liess. Dazu noch ein Schuss Spannung und Gefahr. Als ein Fernsehssender dann eine Doku-Soap drehen wollte, zog Hektor die Reissleine. Er wies die Roboter an, niemanden mehr ins Haus zu lassen.

Alle brauchten ihre Ruhe. Die Bäuche wurden schwer und das Warten lang.

Insgesamt verlief diese Phase des Projekts im Sinne des FoGi-Instituts. Von den achtig Frauen verlor eine den Embryo im ersten Monat, drei trieben ab. Keine von ihnen war bereit, sich zu den Gründen des Schwangerschaftsabbruches zu äussern. Vielleicht waren sie unter Druck gesetzt oder bestochen worden, es blieb aber im Dunkeln. Interessanterweise verschwanden fünf der Frauen ganz. Man vermutete zunächst gewaltsame Entführungen, doch war es wahrscheinlicher, dass sie einfach untergetaucht waren. Womöglich waren sie vor dem wissenschaftlich-bürokratischen Apparat geflohen, der schon jetzt eine Belastung war.

Insgesamt wurden einundsiebzig Z-Menschen geboren, alle im März des Jahres 2403.

 

Wenig später kehrte Kemo heim. Eines abends stand er vor der Tür in Begleitung einer asiatischen Frau. Aminata freute sich sehr, nach so langer Zeit ihren Bruder wiederzusehen. Sie sprang auf ihn zu und umarmte ihn.

„Kommt herein! Ich freue mich so.“

Als die beiden ins Haus traten, fiel Aminata auf, wie gravitätisch Kemos Freundin lief. Als würde sie sich für eine Adlige halten. Sie schien etwas aus der Zeit gefallen. Auch ihr Kleid, zwar farbenfroh und voller Schmetterlingsmotive, war formvollendet und elegant und etwas zu schwer für das Klima der Wüste.

„Wie heisst Du?“

„Sei“

„Sie ist meine Gefährtin.“ sagte Kemo. „Wir lieben uns über alles.“

„Seit wann seid ihr hier?“

„Seit eben. Wir kommen direkt aus Japan.“

Eine Japanerin. Dazu passte dieser blasse Teint und der hochmütige Gesichtsausdruck. Wobei, in ihren Augen blitzte von Zeit zu Zeit Neugier auf, sogar etwas Lustiges.

„Herzlich willkommen in Afrika, Sei.“ begrüsste Aminata sie nun „Wie findest du es hier?“

„Oh, nach ein paar Stunden kann ich noch nicht so viel sagen. Gut, das Klima, die Landschaft … Der grösste Unterschied scheint mir indes der Raum zu sein. In Tokio drängen sich die Menschen zusammen, es ist noch immer so, seit Jahrhunderten.“

„Ich bin noch nicht gross weg gewesen. Aber ich kann es mir vorstellen.“

„Ja. Ich bin neugierig, welche Veränderungen das Leben hier für mich bereithält.“

„Wo ist denn dein Göttergatte?“ Kemo wechselte ungeniert das Thema.

„Oh, er ist oben und spielt mit den Kindern.“

„Es gibt mehrere? Du bist ein Wunder an Fruchtbarkeit.“ Er schaute auf ihren sich bereits rundenden Bauch und grinste.

„Jetzt bist du dran, Kemo. Wie war es denn, jahrelang auf Reise zu sein?“

„Mal so, mal so.“

„Was hast du dabei gelernt?“

„Schon etwas“

„Was?“

„Ich sag es mal so.“ Er überlegte kurz. „Es ist überall dasselbe. Und doch verschieden.“

„Oder: Es ist überall verschieden. Und doch dasselbe.“

„Gibt es denn einen Unterschied zwischen diesen beiden Sätzen?“

„Ja.“

„Da muss ich erstmal darüber nachdenken, glaub ich.“

„Erzähl mal. Wo warst du? Was hast du gemacht? Du hast ja gar nichts von dir hören lassen, jahrelang.“

„Was ich gemacht habe? Ich habe mir die Welt angesehen. Spass gehabt. Nach Mädchen gesucht. Und eines kannst du wissen: Es gibt überall schöne Frauen. Die schönste von allen habe ich mit in die Heimat gebracht.“

Aminata schielte unwillkürlich zu Sei herüber. Deren Gesicht zeigte keine Regung, es wirkte wieder starr und hochmütig.

„Wo warst Du denn?“

„Also, ich bin zuerst die Ostküste hoch. Schon in Tansania bin ich hängengeblieben, ich hatte eine gute Zeit am Victoriasee. Dann ging es gemächlich weiter, in Ägypten war dann wieder Pause. Das war nicht schlecht dort. Ich hatte eine Freundin, von der ich mich nicht gut trennen konnte. Aber mit mir mitkommen wollte sie auch nicht, sie hing fest an ihrer Familie. Dann bin ich durch Europa getingelt, aber in diesem Kontinent hielt mich nirgendwo etwas. Die Leute machten oft einen frustierten Eindruck, keine Ahnung warum. Ich trieb dann weiter nach Osten, der einzige Ort, wo ich mich länger aufhielt, war die Mongolei. Da ist es ein bisschen wie hier, Wüste und Freiheit. Aber es geht dort schon etwas robuster zu. Ich habe Reiten gelernt und manches andere, über Dschingis Khan zum Beispiel, irre Geschichte. Die letzte Etappe war dann Japan, das seltsamste Land von allen. Da lernte ich dann Sei kennen und es war um mich geschehen.“

„Das war eine schöne Zusammenfassung.“ meinte Aminata, als der Redefluss verebbt war.

Hektor kam mit Jana die Treppe herunter. Das Kind schaute die Gäste mit grossen Augen an. Sie ging stumm zu Sei, reichte ihr artig die Hand. Dann näherte sie sich Kemo, der sie spöttisch anzusehen schien, sie drehte sich dann aber kurzerhand um und lief davon.

„Sie mag dich nicht.“ Aminata lachte.

„Doch. Sie wird mich über alles lieben.“

„Das glaube ich aber auch.“ Dann wandte sie sich zu Hektor. „Und René?“

„Er ist gerade eingeschlafen. Still und friedlich, wie meistens.“

„Das ist Sei, Kemos Freundin. Sie ist Japanerin.“ stellte Aminata den neuen Gast vor.

„Japan ist ein interessantes Land.“ bekannte Hektor. „Ich war zweimal dort bisher und es hat mich in jedem Fall beeindruckt. Neben Botswana ist es das einzige Land, das seine genetische Politik vollständig liberalisiert hat. So gibt es jenseits der kulturellen Unterschiede eine bemerkenswerte Allianz.“

Er schenkte sich Wein ein, stiess mit Sei an und schaute ihr intensiv in die Augen.

„Sei.“ sagte er. „Ich habe diesen Namen noch nie gehört.“

„Ich trage ihn aufgrund einer Dame, die vor mehr als tausend Jahren gelebt hat, im japanischen Mittelalter. Diese Frau hiess Sei Shonagon.“

„Und diese längst verflossenen Zeiten können uns noch etwas lehren?“

„Auf jeden Fall. Sieh, das Japan der Heian-Zeit war eine wohlgeordnete Welt, zumindest bei Hof. Es gab keine Kriege zu führen, kaum Gesetze zu erlassen. Der Kaiserhof war ein Ort des Komforts und des wohltemperierten Müssiggangs. In den engen Grenzen dieses Adelswelt war das Leben sehr verwandt mit dem unseren.“

„Komfort und Müssiggang. Interessant.“

„Nur dass heute die Menschen das nicht mehr für erstrebenswert halten.“

Hektor gefiel das Gespräch.

„Was haben denn diese famosen Adligen die ganze Zeit gemacht, so von morgens bis in die Nacht?“ fragte er.

„Sie haben Feste zelebriert. Und ihre Liebschaften gepflegt. Anstatt einfach rumzumachen. Und das Leben genau beobachtet, die Natur, die Menschen. Und Gedichte geschrieben. Sie sich gegenseitig zugesandt, vorgelesen.“

„Du scheinst diese Art von Kultur zu bewundern.“

„Ja. Ich schreibe auch Gedichte.“

„Rezitiere eines davon.“

„Gut. Welches kommt mir grad in den Sinn? Dieses:

November, endlich.

Nasses Laub liegt auf den Wegen.“

„Es ist kurz.“

„Ja.“

„Und es passt nicht in unsere Gegend.“

„Nein. Ich schrieb es auf einer Europareise.“

„Sei. Es ist dein erster Besuch bei uns. Aber ich möchte dir etwas gestehen.“

„Gut.“

„Ich schreibe auch.“

„Was schreibst du? Gedichte.“

„Nein.“

„Was?“

„Gene.“

Sie verzog ihr Gesicht, unzufrieden, dass das Gespräch eine Wendung ins Spöttische genommen hatte. Aber Hektor hatte es nicht mal so gemeint gehabt.

„Was heisst denn Lesen?“ begann er zu erkären. „Lesen ist nichts als die Vorbereitung des Schreibens. Wir lesen die Empfindungen der Menschen und schreiben Gedichte oder Romane. Wir lesen die Prozesse des Denkens und schreiben Programme. Schliesslich lesen wir die Natur selbst und schreiben Gene.“

„Man kann auch die Natur lesen und dann wissenschaftliche Artikel schreiben.“

„Sicher. Das ist ja auch ja so gemacht worden, Jahrhunderte lang. Der Punkt ist, dass damit der Prozess keine Erfüllung findet. Es wird von einer fruchtbaren Ebene gelesen und in eine unfruchtbare geschrieben. Man muss in den Topos schreiben, aus dem man liest. Das leistet die reine Wissenschaft nicht.“

 

Kemo und Sei gaben bald bekannt, dass sie heiraten würden. Kemo bat Aminata um Wertscheine für die Feier. Wertscheine waren das kümmerliche Relikt des einst omnipotenten Geldes. Es erhielten nur diejenigen, die einen Arbeitsvertrag hatten und sie liessen sich gegen Güter und Diestleistungen tauschen, die nicht frei verfügbar waren. In diesem Fall handelte es sich um Elefanten. Sei hatte die Idee gehabt, die Zeremonie mit einer Prozession auf dem Rücken dieser Dickhäuter zu beginnen.

Hektor hatte nie Verwendung für diese Papiere gefunden. Obwohl er reichlich davon erhielt, musste Aminata erst suchen, wohin er sie verkramt hatte. Sie gab ihrem Bruder alles, was sie fand.

 

Füur Aminata verlief die Zeit ohne grosse Veränderungen. Jetzt, wo die Mädchen ausgezogen waren, konnte sie die Intimität ihrer Familie geniessen. René war ein ruhiges, zufriedenes Kind. Er konnte sich bereits konzentriert einer Tätigkeit widmen, als er gerade ein Jahr alt war. Und Jana war quicklebendig.

Rebecca kam öfter zu Besuch. Sie hatte ein gesundes Kind zur Welt gebracht, einen Jungen. Er war auf den Namen Leonard getauft und so nannte ihn ihre Mutter auch, niemals Leo.

Rebecca erzählte viel vom Leben in dem Dorf. Sie musste nicht immer dort sein, es war schliesslich kein Gefängnis. Aber es gab einige Regeln und zu denen gehörten auch Anwesenheitspflichten. Im Dorf gab eine Reihe von Wissenschaftlern: Psychologen, Pädagogen, Genetiker. Jede Woche

musste sie mit dem Baby in die medizische Station. Dort wurde ein kompletter Gehirnscan durchgeführt, dabei jede einzelne neue Synapse dokumentiert. Auch war der Wohnbereich komplett durch Kameras überwacht, jede Regung im Gesicht des Babys wurde aufgezeichnet. Das Ziel dieses Aufwandes bestand in einer Weiterentwicklung der neuronal-behavouristischen Korrespondenzmodelle. Da ging es darum, wie sich also von einer neuronalen Struktur auf ein entsprechendes Verhalten und Fähigkeiten schliessen liess oder auch umgekehrt. Dabei stellten die Wissenschaftler auch Hypothesen auf, oft die nahe Zukunft betreffend. Diese Prognosen waren von der Art: 'In den nächsten zehn Tagen wird er das erste Mal seine Mutter anlächeln.' In der Sprache der Wissenschaft wurde eine solche Formulierung zu einer Quelle von Komplexität. Nicht nur, dass es mehrere Kategoriensysteme für das Lächeln gab, in jedem von ihren wurden Dutzende Arten des Lächeln unterschieden, die als Reaktion von situativen Kontexten auftraten, welche wiederum ihre eigenen Klassifikationen hatten.

Als Leonard drei Monate alt war, zeigte man ihr einmal sein Dossier. Rebecca war beeindruckt. Und auch abgestossen. Für einen Moment war ihr so, als würde man ihr Kind in eine Datenwüste verwandeln und seines Wesens berauben.

 

Die Elefanten trafen am Tag vor der Hochzeit ein. Es war eine ganze Herde. Eine Kolonne von Trucks, in denen auch die vielen Sänften und die Jockeys transportiert wurden, brachte die Grosstiere. Viele Schaulustige waren gekommen, auch Aminata mit ihren Kindern.

„Schau mal Mama, Elefanten! So viele!“ rief Jana. Und René schaute mit grossen Augen und offenem Mund. Die Jockeys waren bereits in ihren Uniformen, sie sahen gut aus.

Die Arbeit wurde durch Roboter erledigt, mehreren Zügen von weissen Androiden. Sie leiteten die Elefanten die Rampe herunter, sicherten das Gelände, rollten Wasserfässer aus den Trucks und tränkten die Tiere. Dann begannen sie mit der Fütterung.

 

Am nächsten Morgen stand Aminata beizeiten auf. Sie schminkte und kleidete sich sorgfältig. Auch Hektor hatte sich in Schale geworfen. Sie riefen einen Wagen und liessen sich zu Kemos Haus fahren. Dort waren schon viele Gäste, es ging nervös zu. Auffällig viele Japaner waren dabei, sie schienen ein ganzes Flugzeug gechartert zu haben, dachte Aminata. Die Japaner standen in Gruppen beisammen, sichtbar getrennt von den Einheimischen. Alle waren sie tadellos gekleidet und sie wirkten streng.

Dann kam Sei die Treppe herunter. Sie sah wunderschön aus.

„Sei, ein Familienfoto!“ rief jemand.

Die Angehörigen bewegten sich gemessen zum Photographen. Es waren viele: Eltern, Grosseltern und Urgrosseltern, alle lebten noch und alle waren gekommen. Dazu noch zwei Ur-urgrossmütter.

Man stellte sich auf. In der Mitte war Sei in ihrer voll erblühten Schönheit, flankiert von ihren Eltern. Die Aufstellung hatte die Form eines stumpfen Pfeiles, links die Frauen, rechts die Männer. Alles war streng nach Alter geordnet: je jünger, desto näher war man am Zentrum platziert. Die beiden Greisinnen in ihrer uralten Würde setzten sich auf Holzbänke direkt vor die Braut.

Es war ein interessantes Bild. Aminata dechiffrierte die Verwandtschaftsbeziehungen in den Gesichtszügen und das dezente Spiel der Alterungszeichen, die von Generation zu Generation markanter wurden.

Androiden reichten Wasser und trockenes Brot. Hektor kaute stumm, er hatte hier noch gar nicht geredet. Er schien mit etwas beschäftigt zu sein, wie oft. 'Er meditiert sich wieder durch seine Gene' dachte Aminata.

Endlich kamen die Elefanten. Es war eine lange Reihe, die trägen Dickhäuter wurden von feschen Jockeys geführt. Auf ihren Rücken trugen sie prächtige Sänften.

Das Aufsteigen wurde von Androiden organisiert. Es gab genaue Anweisungen, wer wo seinen Platz hatte. Als Schwesterfamilie des Bräutigams wurden die Barkleys zum sechsten Elefanten geführt.

Jana war völlig aus dem Häuschen und als sie endlich in der sanft schaukelnden Sänfte sass, jauchzte sie vor Freude und plapperte unentwegt.

Es wurde eine längere Tour, der Festsaal war mehr als zehn Kilometer entfernt. Sie liefen auf dem so genannten Wüstenweg, immer wieder rannten Kinder aus den Häusern und jubelten ihnen zu. Die Alten sassen auf ihren Veranden, manche winkten.

 

Für Aminata war es das erste Mal seit Janas Geburt, dass sie auf ihre gesamte Familie traf. Ihre älteren Brüder hatten sich nicht aufraffen können, sich René anzusehen. Sie hatte wieder dieses komische Gefühl, wenn sie mit ihren Angehörigen sprach. Gewiss, ihr Vater war nett und ihre Mutter freundlich. Und die Brüder, sie waren eben da. Aber es war immer diese Aura von Leere, von Fadheit. Es waren Gesichter, die nichts ausdrückten. Nur mit Kemo war es anders. Verlor das Leben seinen Geschmack, wenn man keine Aufgabe hatte?

 

Die Feier gewann langsam an Fahrt und auf den Abend hin wurde es immer lauter. Auch die Japaner wurden zunehmend gelöster. Sie waren nun beschwipst, befreiten sich von ihren Jackets und den Kravatten. Sie knöpften ihre Hemden auf. Sie begannen, sich unter die Afrikaner zu mischen. Man lachte zusammen und trank Brüderschaft. Dann veranstalteten sie ein traditionelles Karaoke. Viele sangen schief, einige erstaunlich gut. Auch Aminata wagte sich ans Mikrofon, zusammen mit Jana, sie gaben ein Kinderlied zum besten. Es wurde auf die Tische geklopft und in die Hände geklatscht, es wurde laut.

Und als die Band zu spielen anfing, dauerte es nicht lange, bis die Tanzfläche sich füllte.

 

Es war Nacht geworden, draussen begann es kühl zu werden, am Himmel leuchteten die Sterne. Die Trommeln hatten begonnen. Aminata gring raus und reihte sich in die Gruppe der Frauen ein. Sie tanzte wieder wie ein junges Mädchen, nach so langer Zeit! Sie hatte zu viel zu Hause rumgesessen,

dachte sie.

Stundenlang machte sie mit und als sie wieder hereinging, noch schwitzend und ausser Atem, hatte sich der Saal schon merklich geleert. Sie fand Hektor an einem Tisch sitzen, in einer kleiner Männergruppe. Sie setzte sich auf seinen Schoss, umarmte ihn und kraulte seine Haare. Er erwiderte ihre Zärtlichkeiten.

„Du schwitzt am ganzen Körper“ sagte er. „Ich mag das.“ Er drückte seine Nase an ihre Achselhöhle und beschnupperte sie.

„Mein Liebling.“ hauchte sie „Ich weiss schon, wer als nächstes heiratet.“

„Ach ja?“

„Wir.“

„Wir? Aber es ist unnötig, zu heiraten. Es bedeutet nichts.“

„Doch, es bedeutet etwas. Wir sind eine Familie. Und wir werden heiraten.“

Er überlegte etwas.

„Na gut.“ meinte er schliesslich „Vielleicht ist das ja eine gute Idee.“

„Und nun, mein Lieber“ sagte sie „werden wir tanzen. Du kannst nicht den ganzen Abend hier herumsitzen. Und nüchtern bist du auch noch.“

„Ich tanze zu schlecht“ wollte er sie abwimmeln.

„Komm.“

Sie zog ihn hoch und hüftsteif, wie er war, begann er mit der Mutter seiner Kinder zu tanzen. Mit der Zeit wurde er gelöster und als sie, Stunden später, Wange an Wange über das Parkett glitten, fühlte er eine zarte Erregung, eine tiefe Zuneigung, wie schon lange nicht mehr.

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.10.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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