Germaine Adelt

Diese eine Mail

(Meine e-Stories.de Story)

„Das Projekt muss um zehn Stunden stehen“, verkündete er fast zögernd.
Sie sah ihn an und lächelte. „Das ist ein Irrtum. In zehn Tagen ...“
„Leider nicht“, stöhnte er leise, „Möller hat angerufen. Der Investor kommt heute völlig unerwartet um 19:00 Uhr und will das Projekt bis dahin geliefert haben.“
Demonstrativ ließ er sich auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch fallen. „Was machen wir denn jetzt?“
„Lass mich nachdenken“, bat sie leise und beobachtete versonnen die Möwen durch das Fenster. Geduldig wartete er schweigend. Aus Erfahrung wusste er, dass ihre Prognosen immer zutrafen. So hoffentlich auch heute.
„Die Jungs wissen Bescheid?“, fragte sie, ohne ihren Blick zu lösen.
„Klar. Sie sind schon unterwegs.“
Ihr Schweigen machte ihn nervös, viel mehr jedoch fürchtete er sich vor ihrer Antwort. Doch dann sah sie fest in seine Augen. „Das kriegen wir hin.“
„Okay“, murmelte er. Zwar wusste er in diesem Moment nicht wie, aber sein Vertrauen in sie war in solchen Situationen schier grenzenlos.
Erst als er das Büro verlassen hatte, atmete sie hörbar durch. Es war eine sehr gewagte Prognose und fast zu viele Variablen, von denen zu vieles abhing. Dennoch war sie sicher. Mit Stefan und den Jungs war es zu schaffen.
Sie begann die ungelesenen Mails zu sichten. 67 an der Zahl. Ein eigentlich überflüssiges Tun in diesem Moment, aber sie brauchte einen freien Kopf. Und den bekam sie nur, wenn sie sich das jetzt antat, zumal die Programmierer, die sie liebevoll die Jungs nannte, noch nicht da waren.
Völlig unerwartet entdeckte sie eine Mail von Jörg und genauso unerwartet, bekam sie ein schlechtes Gewissen. Früher hatte sie immer mal wieder sporadisch Kontakt zu ihm. Einfach so mit ihm geplaudert um alles Mögliche. Wie lange hatte sie sich nicht bei ihm gemeldet. Sie schämte sich fast.
„Nicht lesen“, ermahnte sie sich selbst, „nicht jetzt“. Aber ihr Bauch war schneller und so las sie die Mail von dem Mann, der auf so sonderbare Weise, ihr Leben bestimmt hatte. „In diesem Herbst wird e-Stories 17 Jahre alt ...“
17 Jahre, war das lange her. Zugegeben, sie kam erst 4 Jahre später dazu. Dennoch, unglaublich wie die Zeit verging. Plötzlich purzelten ihre Gedanken kunterbunt durcheinander. Ohne Jörg, ohne e-Stories, wäre sie nicht hier. Nicht in dieser Stadt, nicht an diesem Schreibtisch. Sie musste schmunzeln. Unglaublich welche Erkenntnisse eine einzige Mail auslösen konnte.

„Was ist passiert?“
Atemlos stand Jan vor ihr, den Fahrradhelm noch in der Hand. Er musste sein Fahrrad zu Höchstleistungen getrieben haben, um jetzt schon im Büro zu sein.
„Das Leben“, sagte sie knapp, „entweder das Projekt steht bis heute 19:00 Uhr, oder wir sind draußen.“
„Also meinen Part kriege ich hin. Wird zwar eng, aber schaffe ich“, er zögerte. „Aber du kannst doch den Rest nicht allein stemmen.“
Sie war regelrecht gerührt. Dieser Mann, der jünger war als ihre Kinder, sorgte sich um sie.
„Ich schaffe das schon. Mach du lieber dein Zeug.“
Frech salutierte er: „Ja Ma'am!“
„Ist Alexander auch da?“
„Ja, der ist gerade drüben bei Stefan, um sich letzte Instruktionen zu holen.“
„Okay“, murmelte sie und ging los eine Zigarette zu rauchen. Ihre größte Schwäche, die jedoch von allen geduldet wurde. Wenn sie sich diesen Freiraum nahm, war es oft der Auftakt unmöglich erscheinende Dinge zu bewältigen.
„Hast du Jörg schon erreicht?“
Es war Stefan, der hinter ihr stand.
„Jörg?“, fragte sie ungläubig. Vermutlich dachte sie schon laut vor sich hin.
„Jörg Willert.“
„Ja klar. Er wollte die Texte gleich herüberschicken, vielleicht sind sie schon auf meinem Rechner.“
Er lachte. „Natürlich. Warum frage ich dich eigentlich?“
Nie hatte er es bereut, sie in seine Firma zu holen. Damals, als er die Firma erst gründen wollte. „Die Jungs sind instruiert. Hast Recht, müsste klappen?“
„Soll ich die Texte von Willert noch einmal querlesen?“ fragte sie.
„Nein lass mal. Das hebe ich mir für Notfälle auf. Bist doch eine Schriftstellerin.“
Schriftstellerin. Wie sich das aus seinem Mund anhörte. Genauso ungewohnt wie Autorin. Damals als sie ihren ersten Text auf e-stories veröffentlichte. Voller Ehrfurcht verfiel sie fast in Demut. Zwei Nächte lang hatte sie überlegt, ob sie es wagen sollte. Und dann noch mit den Vorschusslorbeeren 'Autorin' im Gepäck. Wie das so ist im Leben, hatte sie im Internet etwas völlig anderes gesucht, als sie auf die Seite von e-stories stieß. Und ihr reifte mehr und mehr der Gedanke, nicht nur für die Schublade zu schreiben, sondern eben auch mal für die Kritiker, die da lauerten. Und derer waren viele. Welche Impulse sie da erhalten hatte und wie viele sie auch anderen gab. Einfach unglaublich. Es bildete sich eine regelrechte Gemeinschaft heraus. Zugegeben, auch auf anderen Portalen. Aber den Ursprung bei e-stories hatte sie immer wieder lachend erwähnt. Irgendwann hatte sie ein Autorentreffen organisiert. In Frankfurt/Main natürlich, wenn dann mit Stil. Ein schönes Treffen war es, damals im Sommer 2009. Was sie davon mitnahm, waren die schönen Gespräche und die Berufe, die viele im Leben hatten. Der Klempner, der Schriftsetzer, die Hebamme. Viel mehr noch faszinierte sie die Erzählung eines Autors, seine Schwester sei von Beruf Sargmalerin. Erstaunlich, was es alles so gab im Leben.
„Wirklich alles in Ordnung?“ Stefan sah fast besorgt aus.
„Klar.“
„Ich brauche dich heute mehr denn je.“
Sie schenkte ihm ein süffisantes Lächeln. „Ich habe alles im Griff. Versprochen.“

Ins Büro zurückgekehrt, saß Alexander vor seinem Rechner und erhob kurz seinen Blick aus den Programmierzeilen. „Selbst wenn wir das schaffen. Das muss alles noch in Druck. Wie soll das so gehen?“
„Keine Sorge, kostet mich ein paar Anrufe. Na ja hoffe ich“, lachte sie.
„Wen du so alles kennst, kaum zu glauben. Wie lange bist du eigentlich schon hier?“
„Seit Ewigkeiten ...“
Das war so nicht korrekt. Sieben Jahre waren es. Fast auf den Tag genau, kam sie zum ersten Mal in diese Stadt, um hier ihren Ehemann beerdigen lassen zu müssen.
„Ihr schafft das?“, fragte sie noch einmal nach.
„Klar“, antwortete Alexander und widmete sich wieder den Programmierzeilen.
Und so telefonierte sie mit Leuten, denen sie fast Unmögliches abverlangte. Aber warum auch immer, meinten viele: „Für dich? Klar, kein Thema!“
Unentwegt waren ihre Gedanken bei Jörg, bei e-stories, an die unglaubliche Komplexität der Ereignisse. Damals, als die Polizei bei ihr in der Tür stand, im Oktober 2009, um ihr zu erklären sie sei nun Witwe. Und auf Grund der Umstände, die da waren, habe erst einmal die Staatsanwaltschaft die Hand drauf. Völlig überfordert war sie mit den Ereignissen. Sie, die als Kämpferin galt, als Macherin. Man gab ihr nicht die Zeit, sich klar zu machen, dass sie ihre große Liebe, den Vater ihrer Kinder, ihren Berater, ihren Liebhaber von einer Sekunde auf die andere verloren hatte. Einen Seelsorger stellte man ihr zur Seite, den sie erst wegschicken wollte, Atheistin wie sie ist. Doch dann erkannte sie, es war ein Rettungsassistent und seit jeher hatte sie ein Faible für diese Berufsgruppe. Vermutlich, weil sie selbst einst für kurze Zeit in diesem Beruf tätig war. Und in dieser verhängnisvollen Nacht, erklärte dieser Mann ihr, dass die Seebestattung, die sie für die Liebe ihres Lebens vorgesehen hatte, vermutlich nicht machbar war. Gesetze und Bestimmungen, die in Deutschland nun einmal galten. Er hätte zu Lebzeiten den Wunsch schriftlich äußern müssen. Und statt sich ihrer Trauer hinzugeben, plante sie in jeder Nacht eine kriminelle Karriere einzuschlagen. Sie war bereit Urkunden zu fälschen und wenn das nicht half, die Urne dann irgendwann vom Friedhof zu entwenden, um die Asche heimlich in die offene See zu schütten. Ihr Lebensgefährte, der nun plötzlich nicht mehr da war sollte seinen Wunsch erfüllt habe, egal um welchen Preis.

„Läuft bisher“, sagte sie knapp zu Stefan, als der am Büro vorbeiging sich einen weiteren Kaffee zu holen. „Die Druckdaten müssen bis 17:00 Uhr raus. Wenn es gebunden sein soll, dann spätestens 15:00 Uhr.“
„Klasse. Und wie ...“, demonstrativ winkte er ab. „Ich will das gar nicht wissen.“
Manchmal ertappte sie sich selbst bei der Frage, wie sie das alles hinbekam. Aber es war kein Vergleich zu dem, was die Überforderung ihrer Person anging. Damals im Oktober '09.
Fast mechanisch hatte sie im Internet nach den entsprechenden Formularen recherchiert und dann verzweifelt versucht, die Unterschrift zu fälschen. Es wollte ihr nicht gelingen, so dass für sie nur noch der Urnendiebstahl als Szenario in Frage kam. Doch dann erinnerte sie sich an die Sargmalerin und in ihrer Verzweiflung schrieb sie den Autoren an: „Hilf mir. Hilf mir, ihm diesen letzten Wunsch zu erfüllen.“
Dieser meldete sich sehr zeitnah, drückte ihr sein ehrliches Mitgefühl aus und erklärte dann: er würde sich selbstredend um alles kümmern. Kurz danach stand die Seebestattung, wie auch immer. Details wollte sie gar nicht wissen. Und so reiste sie in die Stadt, die sie bis dahin per Zufall nie betreten hatte, um auf dem Meer von ihrem Weggefährten Abschied zu nehmen.

„Ich bin fertig!“, verkündete Jan stolz. „Kann ich dir helfen? Was soll ich jetzt machen?“
„Etwas essen“, sagte sie knapp. „Wer weiß, was noch kommt.“
Er nickte. „Okay. Mach ich.“
Die Möwen schrien laut vor dem Fenster und schien, als wollten sie die Erinnerung zurückholen. Stundenlang konnte sie diesen Vögeln zuhören und es war, als könne sie das Geschrei beruhigen, so absurd das klang. So auch damals, als sie zum Zug ging, um diese Stadt wieder zu verlassen, die nun eine so große Bedeutung für sie bekommen hatte. Auch da sah sie sehnsüchtig den Möwen nach und beschloss einfach, in dieser Stadt zu bleiben. Ihr Leben, das sie bis dahin geführt hatte, war vorbei. Soviel war sicher, ob nun beruflich oder privat. Sohn und Tochter gerade aus dem Haus, hielt sie nichts mehr. Also zog sie allein in diese Stadt, um ganz mutig einen Verlag zu gründen. Mit e-stories Autoren hatte sie als Herausgeberin schon ein Lyrikband veröffentlicht und somit eine ungefähre Ahnung, was da auf sie zukam.

Natürlich war sie mit dem Verlag nach 4 Jahren grandios gescheitert. Niemand wollte Bücher mit Lyrik oder Kurzgeschichten. Aber sie hatte den Schritt nie bereut. So viele Menschen hatte sie kennengelernt. Autoren, deren Texte sie verlegte. Drucker, die für sie die Erzählbände herstellten. Programmierer, die für sie die e-Books fertigten. Sprecher, für die Hörbücher.
Dass sie selbst seit Jahren eine Schreibblockade hatte, fiel nicht weiter auf. Zu groß die Anzahl ihrer Werke, die sie im Laufe der Jahre geschrieben hatte. Eine Schreibblockade, die sie in dieser verhängnisvollen Nacht im Oktober erlitt und die sie auch nicht zu überwinden suchte. Ihr größter Kritiker, ihr Berater war nicht mehr da. Und etwas zu veröffentlichen, ohne dass er es gelesen hatte, kam für sie einem Verrat gleich. Als sie dann noch per Zufall erfuhr, dass eine Kurzgeschichte von ihr als Prüfungsfrage im Deutsch-Abitur verwendet wurde, war das der Grund, den sie brauchte. Keine Zeile würde sie mehr schreiben. Sie war außer sich, wie man es wagen konnte, ungefragt ihre Werke zu benutzen. Dann auch noch für Prüfungen in der Schule. Niemals hätte sie das zugelassen. Fast zynisch hatte sie das zuständige Schulamt angeschrieben. Eine Antwort hatte sie jedoch nie erhalten. Sie schmunzelte erneut. Jörg musste unbedingt erfahren, dass e-stories selbst für Prüfungsfragen durchforstet wurde.

„Verdammt!“, fluchte sie ungewohnt laut und verwundert sahen die Jungs auf.
„Der Drucker will mal wieder nicht“, erklärte sie entschuldigend. „Aber das Anschreiben muss raus und ich habe schon alles versucht ...“
Fast gleichzeitig ließen die Jungs alles stehen und liegen, um sich um das Problem zu kümmern. Sie hörte Worte und Begriffe, die sie nicht einmal ansatzweise verstand. Wieder musste sie lächeln und erinnerte sich an den Tag, als Stefan unbedingt mit ihr reden wollte. Es hatte sich herumgesprochen, dass sie aus dem Bürogebäude ausziehen würde, da sie ihren Verlag aufgab. Und so erzählte er ihr, dass er eine neue, speziellere IT-Firma gründen wolle. Brav hörte sie seinen Ausführungen zu und wünschte ihm ehrlich alles erdenklich Gute, obwohl sie von all den Fachbegriffen knapp die Hälfte verstand. Dann endete er mit dem Wunsch sie einstellen zu wollen. Noch heute hört sie sich auf ihn einreden. Sie, die knapp wusste wie ein HTML-Befehl aussehen konnte, war gänzlich ungeeignet. Doch er ließ nicht locker. Er brauchte jemanden wie sie, die sich mit Firmengründungen auskannte, mit Ämtern und Rechnungswesen. Die zu organisieren wusste und ihm den Rücken freihielt. Für den speziellen IT-Bereich hatte er ohnehin seine Programmierer. Und so sagte sie zu, ohne lange zu überlegen. In Kenntnis seiner ehrlichen Person und sie hatte es keinen Tag lang bereut.

„Wie weit bist du?“, fragte Stefan erwartungsvoll.
„Fast fertig, ich fahr noch schnell zu Möller und dann ist es geschafft.“
„Klasse!“ er machte eine Pause. „Die haben zu einem großen Essen geladen. Du kommst doch auch?“
„Ich hab' nichts anzuziehen!“, murrte sie demonstrativ.
„Bitte ...“
„Och nö. Ich hab auf so was keine Lust.“
„Bitte, mir zu liebe“, er flehte fast.
Sie atmetet hörbar durch. „Wann und wo?“
„Im Atlantic um 21:00 Uhr. Wenn du erst später kommst, ist das auch okay.“
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Sie würde pünktlich sein.
Aber zuallererst würde sie Jörg eine Mail schreiben. Eine sehr lange Mail und ihm erzählen, wie sehr er ihr Leben beeinflusst hatte, ohne es zu ahnen.

 

 

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Germaine Adelt).
Der Beitrag wurde von Germaine Adelt auf e-Stories.de eingesendet.
Die Betreiber von e-Stories.de übernehmen keine Haftung für den Beitrag oder vom Autoren verlinkte Inhalte.
Veröffentlicht auf e-Stories.de am 05.11.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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