Heinz Lechner

Der Sitzplatz

Als ich vor Jahren meinen Arbeitgeber wechselte, bot es sich an, statt dem Auto nun die S-Bahn für das Erreichen der zukünftigen Wirkungsstätte zu benützen, da diese sich sehr nahe an einer Haltestelle befindet.
Meist ist dass eine gemütliche Sache. Man kann lesen, mit dem Smartphone wichtige Dinge tun, Menschen beobachten oder einfach nur ein Nickerchen machen. Ein Sitzplatz wäre dabei von Vorteil. Es kann aber auch vorkommen, dass der Wunsch danach unerfüllt bleibt. Heute zum Beispiel.


Aufgrund einer Störung oder des Ausfalles eines vorangegangenen Zuges war meine S-Bahn Abends bereits voller Passagiere, was sonst eigentlich nie der Fall ist. Früher wäre mir das egal gewesen, - dann stehe ich halt eine halbe Stunde. Aber diesmal bin ich aufgrund einer außergewöhnlichen Hitzewelle und altersbedingter schwindender Standhaftigkeit nicht im Stehplatzbereich geblieben, sondern durchgegangen in den Innenbereich zu den Sitzplätzen.
Ich stehe also im Gang und 16 belegte Sitzplätze befinden sich in meiner unmittelbaren Nähe. In dieser Position erhöhen sich die Chancen auf einen Sitzplatz immens! Möglichst unauffällig versuche ich alle 16 Personen im Blick zu behalten und abzuschätzen, wer wohl als Nächstes aussteigen könnte. Es ist hilfreich und meist auch gar nicht schwer, Touristen zu erkennen, denn die steigen gerne am Marienplatz aus oder um. Und so ist es nicht unklug, sich in deren unmittelbarer Nähe zu platzieren und sich etwas ungeschickt wirkend und möglichst breitbeinig aufzustellen um potentielle Angreifer von hinten auf Distanz zu halten. Immer bereit sich pantherhaft auf den nächsten freien Sitz zu werfen.
Für einen kurzen Moment kommt mir der Gedanke, einer der Sitzenden käme auf die Idee mich als Opfer einer guten Tat auszuwählen und aufzustehen um mir seinen Platz anzubieten. Als bald sechzig jähriger Mensch muss man damit rechnen.
Ich spüre Unruhe in mir, denn meinen Sitzplatz will ich mir selbst erkämpfen, ihn ehrlich verdienen und nicht angeboten bekommen. Dies wäre ein schwerer Rückschlag meiner sich in Erholung befindenden seelischen Verfassung, da ich schon mit den psychischen Leiden einer "Sitzplatzanbietung" zu kämpfen hatte und weiss, wie grausam dass sein kann.
Nächste Station ist Karlsplatz. Drei Leute stehen auf, drei Sitzplätze werden frei, drei jüngere, schnellere Menschen besetzen diese sofort. Bis ich schaue und begreife ist es schon zu spät. Wieder stelle ich fest, daß es mir Überwindung kostet, mich vorzudrängeln, es ist nun mal gegen meine Art. Außerdem hat scheinbar meine Reaktionsfähigkeit mit den Jahren etwas abgenommen. Ich fühle mich angeschlagen wie ein Boxer der einen sauberen Haken kassiert hat. Dass ging mir viel zu schnell ! Na gut, - in meinem Alter........
Blöd ist nur, daß mehr Leute ein - als ausgestiegen sind und der Gang nun mit noch mehr sitzplatzsuchenden, lauernden Hyänen bevölkert ist. Dummerweise hat sich genau neben mir eine sehr schwächlich wirkende, junge Mutter mit einem ca. 8jährigen kränkelnden Kind platziert. Der Anstand verbietet mir natürlich diesen braven Menschen den Sitzplatz zu klauen.Außerdem blickt mich dieses Kind mit großen, traurigen lidrandentzündeten Augen so mitleidserregend an, daß ich ganz automatisch ein schlechtes Gewissen bekomme wenn ich an die verwerfliche Schandtat denke, die mir im Sinn liegt. Ich befinde mich in einer Zwickmühle, - also moralisch gesehen.
Alles geht so schnell. Schon erreichen wir den Marienplatz, die Haltestelle mit der größten Fluktuation. Es sieht nicht gut aus. Ich bin total eingezwängt und habe innerlich bereits aufgegeben. Unter keinen Umständen möchte ich mich als sitzplatzgeilen alten Sack outen. Noch habe ich es nicht nötig.
Dann geschieht ein Wunder. Während der Zug einfährt stehen drei Personen die direkt vor mir sitzen gleichzeitig auf. Nun müssen sie warten bis die Bahn steht. Ich versuche mir nichts anmerken zu lassen, nicht laut zu jubilieren oder vor Freude zu glucksen. In dieser Situation ist es wohl unmöglich keinen Sitzplatz zu bekommen. Platz für die arme Mutter mit krankem Kind und mich, dem alten Mann! Die Leute strömen hinaus und ich lasse - gentlemanlike - die Mädchen ihren Platz einnehmen. Und wirklich im allerletzten Moment, in Gedanken schon sitzend, mit meiner Hand bereits das Tablet aus der Tasche holend, schlängelt sich ein Mensch der unbeachtet, rücklings von mir ebenfalls auf diese Chance wartend stand, an mir vorbei, blickt mich an mit den Worten "darf ich?" und macht sich ganz gemütlich auf dem vorgewärmten Sitzplatz breit, bevor ich verstand was geschah.
Leichtsinnig wie ich war und im Gefühl der Vorfreude hatte ich meine linke Seite einen Spalt geöffnet, so daß eine Person durchbrechen konnte. Wieder war es eine Entscheidung, die in Sekundenbruchteilen getroffen werden musste.
Jeden anderen Menschen hätte ich barsch abgedrängt, ihm entrüstet erklärt, daß wohl ICH - als Abteilältester - an der Reihe wäre Platz nehmen zu dürfen. Aber hier handelte es sich um eine äußerst attraktive, ziemlich erschöpft wirkende junge Frau in einem dünnen, raffiniert ausgeschnittenem Kleidchen, die umständlich mit einer schweren Gucci Tasche im Arm mit der Handhabung ihres Mobiltelefons Probleme hatte, gestresst und genervt von einer anstrengenden Einkaufstour. Da konnte ich natürlich nicht Nein sagen, was mir jeder Mann meines Alters bestätigen wird können, der je solch einen süßen Augenaufschlag erleben durfte. Gnädig senkte ich den Blick und ließ sie durch. "Natürlich" erwiderte ich fast schon schuldbewusst in freundlichstem Ton und innerlich fluchend auf meine scheißgute Erziehung.
Später wurde mir klar, dass es gar keiner Antwort bedurft hätte, dass es gar nicht nötig gewesen wäre zu antworten. Die Worte: "darf ich?" waren auch nicht als Frage gedacht, sondern nur eine so dahin gesagte leere Floskel. Genau so gut hätte sie auch sagen können: " aus dem Weg! " oder: "verzieh dich!"
Wie selbstverständlich und natürlich ohne zu antworten begab sie sich auf "meinen" Platz und hantierte nun sitzend mit ihrem scheinbar äußerst kompliziert zu bedienendem Mobiltelefon weiter. Irgendwie stolz auf mich aber doch auch mit steigender Gewissheit darüber, ein absoluter Vollidiot zu sein stand ich eine halbe Stunde neben ihr, ertrug ihr penetrantes, aber sicherlich sehr teures Parfüm und eine Unterhaltung über die Darmträgheit eines Hundes namens Fifi, welches sie mit einer Freundin am Handy führte. Fest nahm ich mir vor, das Gesicht dieser Person im Gedächtnis zu behalten.
Als sie endlich ihr unsägliches Telefonat beendet hatte, begann sie in ihrer Tasche zu kramen. Sie holte ein etwas zerknittertes Romanheftchen heraus, legte es auf ihren Schoß, glättete es routiniert mit ihrem Handrücken und begann zu lesen. Als sie das Heftchen kurz wendete konnte ich die Titelseite des Machwerks erkennen.
"Todeskampf am Yuma-Pass" stand in grossen typischen Groschenroman-Lettern drauf. In grellen Farben war eine typische Wildwestszene zu erkennen. Reiter auf galoppierendem Pferd vor dem berühmten Monument Valley.
Meine Meinung über diese Frau änderte sich schlagartig. Aus anfänglicher Antipathie wurde grenzenlose Bewunderung und mein Ärger mit ihr war sofort verflogen. Den Rest der Fahrt verbrachte ich damit, - auch weil mir direkt neben ihr stehend nichts anderes übrig blieb - ihr verträumt in den bezaubernden Ausschnitt zu blicken. Ich konnte mich der magischen Anziehungskraft dieser Körperteile nicht entziehen. Natürlich schämte ich mich etwas, so geglotzt zu haben, es gehört sich ja nicht. Aber in meinem Alter muss man gnädig mit mir sein, denn dieser Anblick ist ja auch nichts anderes als eine imposante Landschaft oder einen bezaubernden Sonnenuntergang zu erblicken. Oder nicht ?
Jetzt fiel mir auch ein, dass ich eigentlich glimpflich davongekommen war.Hätte diese Dame mein wahres Alter erkannt, Mitleid mit mir bekommen und mir den Sitzplatz überlassen, wäre ich in ein tiefes schwarzes Loch gestürzt. Tagelang hätte ich mich quälen müssen mit der sonst so gern verdrängten Tatsache den Zenit meines Lebens schon längst überschritten zu haben.

So hatte die Fahrt doch noch ein versöhnliches Ende. Zufrieden stellte ich trotz meiner Niederlage fest, um einen Sitzplatz noch kämpfen zu müssen und nahm mir vor, beim nächsten Mal meine linke Flanke besser zu sichern.


 







 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 24.11.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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