Marianne Chauvistre

Vielleicht...

Mit quietschenden Bremsen fuhr der Zug ein. Die Türen öffneten sich, und Menschen strömten auf den Bahnsteig. Sie kamen mir entgegen und verstellten den Blick auf den haltenden Zug, wobei mir auch ein dichter Regenschleier die Sicht erschwerte. Es regnete nämlich fast ununterbrochen. Doch das war mir egal. Ich war gekommen, um ihn – meinen noch nicht Geliebten - abzuholen. Wo blieb er nur? Aber dann tauchte er im Menschenpulk auf, und ich konnte ihn sehen. Kurz darauf stand er direkt vor mir und schaute mich lächelnd an. Mein forschender Blick umfasste zärtlich sein Gesicht und blieb an seinen Augen haften. Und wieder einmal musste ich feststellen, dass mir seine blauen Augen gefielen, sehr sogar.
- Schon lange war es her, seit wir uns gesehen hatten, aber seine blauen Augen waren mir unvergesslich geblieben. -
Wie von mir ersehnt, nahm er mich in seine Arme und küsste mich. Und obwohl seit unserem Abschied soviel Zeit vergangen war, erkannten meine Lippen seinen Mund wieder.

Weil es noch immer regnete, fuhren wir mit dem Taxi zu mir nach Hause. Zum ersten Mal war er in meiner kleinen Wohnung und schaute sich alles an. Besonders interessierten ihn meine Bilder, meine Bücher und wohl auch mein Bett.

Ich verschwand im Bad, um mich ein bisschen frisch zu machen. Dann ging ich mit nackten Füßen in die Küche, um Kaffee zu kochen. Den fertigen Kaffee brachte ich in zwei Tassen ins Wohnzimmer, wo sich mein Besucher mittlerweile schon auf der Ledercouch niedergelassen hatte. Ich stellte die Tassen auf dem Tischchen ab und setzte mich neben ihn. Wir saßen sehr dicht beieinander auf der kleinen alten Couch, in der wir fast versanken. Ich spürte seine Lippen auf meinem Mund, verlangend drängte ich mich an ihn. Ich wollte ihm ganz nahe sein...

In diesem Augenblick erwachte ich aus meinem Tagtraum. Das alles stimmte ja gar nicht! Es hätte vielleicht so sein können, wenn er...ja, wenn er tatsächlich gekommen wäre. Aber er war nicht erschienen, hatte im letzten Moment abgesagt.
Zu viel Arbeit und zu wenig Zeit, hatte er sich am Telefon entschuldigt.
Überzeugend und gelassen, wie ich meinte, hatte ich ihm versichert, dass ich das verstehen würde und dass es ja nicht so schlimm wäre. Wir könnten uns doch vielleicht ein anderes Mal sehen, hatte ich noch gesagt. Er hatte mir recht gegeben und hinzugefügt, dass er mich so bald wie möglich besuchen würde, nur eben nicht heute.

Und nun saß ich alleine hier auf meiner alten, blauen Ledercouch und versuchte, ihn mir herbei zu träumen.

Aber trotz aller Träumerei fand ich die Situation eigentlich nur beschissen und unbefriedigend.
In Wirklichkeit verstand ich nämlich nicht, wie ihm seine Arbeit wichtiger als unser Treffen sein konnte. Schließlich hatten wir es ja schon vor zwei Wochen vereinbart.
Und entgegen meiner großspurigen Versicherung am Telefon war es sogar sehr schlimm für mich, dass er nicht gekommen war. Ihm machte es wahrscheinlich nicht so viel aus, dass unser heutiges Treffen ins Wasser gefallen war, während es für mich fast ein Desaster war.
Aber ich hätte mir eher die Zunge abgebissen, als dies preiszugeben. Schließlich hatte ich ja auch meinen Stolz.

Bisher hatte zwischen ihm und mir das Wörtchen "vielleicht" eine unangemessen große Rolle gespielt, denn in der Tat hatte es bei all unseren Verabredungen und Vereinbarungen fast immer nur "vielleicht" geheißen.
Nur einmal war aus dem "Vielleicht" ein "Tatsächlich" geworden. Ja, einmal hatten wir uns getroffen, und das war zumindest für mich wunderbar gewesen. Sofort war mir klar gewesen, dass er für mich Mr. Right war, der Mann, zu dem ich gehören wollte.
Ob und welche Gefühle er mir entgegengebracht hatte, konnte ich damals und auch später nicht sagen, da er sich völlig undurchschaubar gegeben hatte. Ich hatte aber gehofft, dass er es mir bei unserem nächsten Treffen, also heute, verraten oder zumindest andeuten würde.

Mittlerweile jedoch nahm ich an, dass er für mich nicht annähernd so intensiv fühlte, wie ich für ihn. So musste ich mich wohl damit abfinden, dass ich weitaus mehr Gefühle investierte als er.
Aber musste ich das wirklich?
Sollte ich vielleicht - schon wieder dieses bescheuerte Wort - aus alldem die Konsequenz ziehen und den Kontakt zu ihm beenden?
Aber es erschien mir nicht möglich, diese Überlegung wirklich an mich heran zu lassen, geschweige denn sie in die Tat umzusetzen.
Denn noch brachte ich nicht die Kraft auf, mich von ihm zu lösen, wollte es im Grunde auch nicht.
Trotz allem hatte ich meine Hoffnung auf eine ihn und mich erfüllende Beziehung noch nicht vollends begraben können..

Also würde ich abwarten müssen.

Vielleicht geschah noch etwas, was uns einander näher bringen würde.
Vielleicht mochte er mich ja doch. Vielleicht wollte er mich auch. Vielleicht sogar in dem gleichen Maße, wie ich ihn...

Vielleicht aber war das nur eine Wunschvorstellung, die nie eintreffen würde.
Vielleicht war alles ganz anders, und ich irrte mich gewaltig.

Ach ja, vielleicht...

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 03.12.2016. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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