Sven Eisenberger

Querelles

Endlich einmal wieder als Aktivist unterwegs, findet der Mensch doch erst im Widerstand zu sich selbst. Ich klebe Plakate auf die Fensterscheiben eines seit längerem unbewohnten, obwohl in sehr gutem Zustand befindlichen Hauses aus der Zeit um 1900. Hintergrund: dieses exzellent gelegene Haus wurde von einer Gruppe von Immobilienspekulanten erworben und soll bald abgerissen werden, um einem weiteren Mahnmal kapitalistischer Renditegier zu weichen. Ein geschätzt gleichaltriger Dachdecker kommt des Wegs und belehrt mich darüber, dass das, was ich da tue, strafrechtlich den Tatbestand der Sachbeschädigung erfülle. Ich antworte aus dem Stand, dass es mich erstens nicht interessiere, was er in seinem mutmaßlich belegten Abendkurs des juristischen Einmaleins jüngst gelernt habe, und dass zweitens die eigentliche, von weitaus größerer Tragik gezeichnete Sachbeschädigung erst noch bevorstehe, wie ich hier plakatierte. Drittens empfehle ich ihm, doch einmal praktisch zu denken, wie man es von seinesgleichen doch nun im Besonderen erwarten dürfe: im Falle des dem Untergang geweihten Altbaus habe er schließlich viel mehr Dachfläche zu decken als im Falle des projektierten Neubaus. Als ich dann noch hinzusetze, dass solcherlei unerbetene Dummschwätzerei recht eigentlich den im Falle sensibler Geister höher zu bewertenden Tatbestand der Körperverletzung erfülle, stehen wir kurz vor Handgreiflichkeiten.
Die um sich greifende Blockwartmentalität selbst in weniger gentrifizierten Wohnbezirken, die allgegenwärtige diffuse Angst vor dem nächsten Einbruch – übrigens auch bei Leuten, die kaum Stehlenswertes besitzen – verhindert den Nahblick auf den drohenden Abbruch der räumlichen Entfaltungsmöglichkeiten der ästhetischen Geschmacksbildung und sozialer Beziehungen. Brechtisch gewendet: Was ist der Einbruch in ein Haus gegen den Einbruch in den öffentlichen Raum? “Glaubst du Pfeife wirklich, dass hier billiger Wohnraum entstehen soll? Das wird eine uninspirierte Einheits-Gewerbeimmobilie, die zu Höchstpreisen vermietet wird. Monopoly, alles klar!?” Als sich noch zwei rüstige Rentner hinzugesellen, um dem in Argumentationsnot befindlichen Handwerker zu Hilfe zu eilen, stehe ich kurz davor, aktenkundig zu werden. “Wegen Leuten wie Ihnen ist 1956 die KPD verboten worden!” Na, das ist doch einmal ein überraschender Referenzpunkt: ich hatte eher mit einem RAF-Bezug gerechnet, doch nun anachronistsiche Verhaltenskritik seitens eines Altlinken. Nachdem ich mich wieder gesammelt habe, antworte ich: “Das Jahr stimmt, der Rest leider nicht, Sie Hobby-Historiker! Aber jetzt weiß ich endlich, warum die Linke in dieser Republik nie eine reelle Chance hatte. Irgendwie erinnern Sie mich an meine Ex-Freundin: Erst dummes Zeug reden und hinterher heulen.” Als ich unter wüstem Protest der Anwesenden soeben mein letztes Plakat aufgeklebt habe, erscheint die Staatsmacht in Gestalt eines lokalen Abschnittsbevollmächtigten, welcher auf den Mini-Volkssturm unmittelbar beruhigend einwirkt. Ich erkläre ihm mein Tun, und zu meiner zweiten großen Überraschung findet er zu einer salomonischen Konfliktlösung: “Leute, das Haus soll in vier Wochen abgerissen werden, ist also praktisch schon eine Bauruine. In dem Fall sollte es gestattet sein, auch noch eine Sterbeanzeige zu plakatieren, solange die Eigentümer keine Anzeige erstatten.” Ich wusste, es gibt sie noch, wenn auch viel zu selten: die guten Polizisten, die man sich gerne als Schiedsrichter für jedes Bundesligaspiel wünschte!

Etwas anders gelagert, weil fern des ungehobelten Straßenmilieus angesiedelt, aber dennoch vergleichbar, weil Bräsigkeit keine Standesgrenzen kennt, ist die folgende Begebenheit. Sie führt direkt ins Zentrum vieler gesellschaftlicher Problemfäden, in die die Republik seit Jahren hilflos eingesponnen ist. Wenn der alte obrigkeitsstaatliche Geist noch irgendwo in diesem Lande lebendig ist – nein, die Bundeswehr besitzt vergleichsweise demokratische Strukturen –, dann sicher im deutschen Schulwesen: ausgerechnet dort, wo die Erziehung zur Mündigkeit Teil des staatlicherseits erteilten Arbeitsauftrags sein soll. Da passt es, dass zusätzlich der Sinn für Ironie - immer noch humanistische Königsdisziplin - Lehrerkollegien im generationellen Wandel leider zusehends abhanden gekommen ist. Es wurde zwar nicht offen ausgesprochen, aber in den Augen der schulischen Verantwortungsträger, denen gegenüber ich mich später für meine Einlassung zu verantworten hatte, war zu lesen, dass ich mich durch meinen Wortbeitrag überdies der “vorweihnachtlichen Ruhestörung” schuldig gemacht hatte. So etwas gilt offenbar nicht nur an Konfessionsschulen als schwerwiegendes Sakrileg.
Was war vorgefallen? Ich hatte auf der letzten Lehrerkonferenz des Jahres in ironischer Überzeichnung allen Halbernstes vorgeschlagen, sämtliche Fehlentwicklungen bzw. -entscheidungen, unter denen diese Schule seit geraumer Zeit spürbar litt, mit einem Schlage zu beenden und einer einfachen, aber folgerichtigen Gesamtlösung zuzuführen: Lasst uns die Schule ganz einfach in eine Aktiengesellschaft umwandeln! Ich hatte wenig Mühe, überzeugend darzulegen, welche unmittelbaren Vorteile daraus erwüchsen. Akute Finanzierungsprobleme in einigen Bereichen könnten unmittelbar beseitigt werden; am Ende des Jahres gäbe es einen verpflichtenden Rechenschaftsbericht, der ein Maximum an Transparenz garantiere; der Vorstand könnte bestätigt werden oder auch nicht, mithin werde ein Höchstmaß an Mitbestimmung erreicht (Überprüfung der These, dass Kapitalismus und Demokratie sich symbiotisch zueinander verhalten); alle Lehrenden könnten Aktionäre werden und hätten es somit selbst in der Hand, für ein Fallen oder Steigen des Aktienkurses zu sorgen; und hinsichtlich des Generaltrends der Ökonomisierung von Schule lägen wir dann sicher europa-, ja gar weltweit ganz vorne, so dass uns alle Medienvertreter die Türen einrennen würden und wir uns über eine erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit auch keine Gedanken mehr würden machen müssen. Letztlich hatte ich nur einen absurden Gedanken, der einer leidvoll verfahrenen Gesamtsituation geschuldet war, zu Ende gedacht; ernst war mir die Absicht, einem lethargischen Kollegium auf drastische Weise die Augen zu öffnen für die Notwendigkeit, die vielzitierte “lange Bank” erheblich zu verkürzen. Empörung und Entsetzen bei denjenigen, die ihre persönliche Fortbildung im Bereich “Menschenkenntnis” noch nicht abgeschlossen hatten, waren indes größer als der erhoffte Erkenntnisimpuls. Quelle bêtise!
Den Weg zur Wahrheit wanderst Du allein – bliebe noch hinzuzufügen: Den Weg durch den Morast des Stumpfsinns auch!

 

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