Hartmut Wagner

Hopsten: Sekundaner, Liebe, Wasserflöhe und Kuhfladen

lm Jahre 1962 war Ödipus Lustig bis in die Obersekunda des Fünfer mathematisch-

naturwissenschaftlichen Albert-Einstein-Jungengymnasiums vorgedrungen. Er hatte es bis

dorthin geschafft, ohne auch nur ein einziges Mal sitzen zu bleiben. Eigentlich sollte er die

Hindenburg-Realschule in Letmathe besuchen. Dort war er aber durch die

Aufnahmeprüfung gefallen. Seine Mutter hatte ihm vorher eingeschärft, unbedingt schön

zu schreiben. So schrieb er denn höchst wunderhübsch, aber auch so langsam, dass er

keine einzige der Prüfungsaufgaben beenden konnte.

Glücklicherweise gelang es dem Klassenlehrer an der Vierer Grundschule, Ödipus die

Teilnahme an der Nachprüfung des Gymnasiums zu ermöglichen. Er bestand mit Bravour,

da er seine Buchstaben zwar äußerst krumm und schief, dafür aber sehr schnell auf das

Papier kritzelte.

 

lm Nachhinein dankte Lustig seinem günstigen Geschick. In Letmathe hatte es ihm

nämlich ganz und gar nicht gefallen. Kein Wunder, wie sollte sich ein intelligentes Kind in

einer Schule wohl fühlen, die nach dem Steigbügelhalter Hitlers, dem Kommisskopf und

Krautjunker Hindenburg, benannt war?

Albert-Einstein-Gymnasium, das war doch was total Anderes! Ein Weltphysiker, Kämpfer

gegen die Nazipest und Freund Albert Schweitzers als Namenspatron!

lm Sommer des Jahres 1962 jedenfalls verbrachte Ödi mit seiner Klasse und dem

Biologielehrer Bolle Brubei eine Forschungswoche in der biologischen Station Hopsten.

Dieses Nest liegt wenige Kilometer nordwestlich Osnabrücks und unweit des

Mittellandkanals ziemlich am Ende der Welt. Reichhaltige Kuh- und Wiesenvorkommen

kennzeichnen die Landschaft. Die Schülergruppe bildeten ausschließlich Jungen, ganz

schrecklich, wo die Welt doch vor attraktiven Mädchen nur so wimmelte.

 

Die Oberstüfler erledigten vielfältige Aufgaben. So bestimmten sie zumindest zeitweise

gewissenhaft die Sichttiefe im Wasser eines nahen Kleingewässers. Dann zertrat Ödipus

mit seinem ungeschickten linken Fuß die dünne weiße Fliese, welche als Sichtscheibe

diente. Die Jungforscher hatten sie bis dahin von ihrem Ruderboot namens ,,Seewolf“ an

einer Leine im Wasser versenkt, bis sie nicht mehr zu sehen war. Knoten, die als

Markierungen das Seil teilten, gestatteten, die Sichttiefe zu bestimmen.

Ödi beichtete das Missgeschick notgedrungen dem Begleitpädagogen, der ärgerlich

blökte: ,,Schafskopf, wie kannst du nur so blöd sein! Die von der Station dürfen das

nicht merken. Sonst müssen wir das olle Ding bezahlen. Du nimmst die Scherben jetzt

und versteckst sie ganz unten im Geräteschrank!“

Lustig erledigte den erzieherisch ziemlich fragwürdigen Auftrag eifrig,

da er selbst mit Sicherheit als erster für mögliche Schadensersatzleistungen hätte gerade stehen müssen.

 

Von diesem Zeitpunkt an kreuzten die Halbstarken mit dem ,,Seewolf“ fast nur noch zum Spaß auf dem Hopstener Minisee.

Und wenn niemand die lädierte Sichtscheibe gefunden hat, liegt sie immer noch in ihrem Versteck.

Die Sekundaner untersuchten nicht nur die Klarheit stehender Gewässer, sondern auch

das reichhaltige tierische Leben darin. Dabei bedienten sie sich der zahlreich vorhandenen

Mikroskope, sehr nützlicher lnstrumente zur Untersuchung des Mikrokosmos. Eine Menge

junger Wasserflöhe erblickte in Hopsten zwischen zwei gläsernen Trägerscheiben vor den

Objektiven der Vergrößerungsgeräte das Licht der Welt.

 

Die fleißigen Teichbiologen pressten die Kleinlebewesen mit viel wissenschaftlichem Eifer,

aber sehr wenig menschlichem Zartgefühl brutal aus den Bäuchen ihrer bedauernswerten

Mütter in die unvollkommene Welt hinaus. Es war durchaus reizvoll, den Flohnachwuchs

aus den durchsichtigen Leibern seiner Erzeugerinnen flutschen zu sehen. Allerdings

konnte die ständige Geburtshelfertätigkeit für die Wasserflitzer den Forscherdrang Ödis

und seiner Wissenschaftlerkollegen nicht dauerhaft befriedigen.

So sorgte eines Tages ein besonderer Pfiffikus fur eine wissenschaftliche

Riesensensation. Lustig zerquetschte gerade fast liebevoll eine schwangere Wasserflöhin,

als sich ein paar Schritte von seinem Labortisch entfernt viele Mitschüler zusammen

ballten. Aus dem Gedränge und Geschubse erschollen erstaunte, begeisterte und

besorgte Stimmen: ,,Mann, was die zappeln! Und so viele! Wo sind die denn bloß her?“

„Lasst das nur Bolle nicht sehen!“ „Ach, der ist doch sowieso blind!

Außerdem sitzt er gerade vergnügt auf dem Scheißhaus.“

„Junge, Junge, darauf wäre ich jedenfalls nicht gekommen!“

 

Da musste Ödipus doch gleich mal nach dem Rechten schauen. Einige: ,,Lasst mich mal

durchs!“ und ein paar kräftige Ellenbogenstöße später drang er zum Mittelpunkt des

Geschehens vor. Dort saß Wotsch der Lispler vor seinem Mikroskop und lächelte so stolz,

als habe er gerade nobelpreiswürdige Neuigkeiten entdeckt oder im Dienst der

Wissenschaft einen lebensgefährlichen Selbstversuch unternommen. Wotsch gestattete

gnädig diesem oder jenem einen Blick durch das Okular. Allerdings nahm er immerhin kein

Geld für die anscheinend faszinierende Aussicht. Den optischen Knüller durften aber

selbstverständlich seine besten Freunde zuerst genießen.

Endlich blieben auch Lustig Einblicke in bisher verborgene Naturwunder nicht länger verwehrt. Er beugte sich, vom

huldvoll gnädigen Lispler fürsorglich geleitet über das Mikroskop und staunte: ,,Mensch,

das sind ja Tausende. Und wie die sich bewegen!“

Diese unendlich vielen, wimmelnden Kleinstorganismen bestanden Iediglich aus dicken

Köpfen und fuddeligen Fadenschwänzchen, mit denen sie unermüdlich umher

schlängelten. Ganz klar, sonnenklar! Das waren menschliche Samenfäden und nichts

anderes! Wotsch war aber auch zu allem fähig! Wie hatte er den ganzen Mist bloß vor das

Objektiv praktiziert?

Bevor Ödipus das fragen konnte, verwies ihn der Lispler, Direktor des Samenzirkus' und

wahrscheinlich auch dessen eigenhändiger Produzent, schon des Platzes. Wotsch dachte

sicherlich an die begrenzte Haltbarkeit seiner munteren Kinderlein. Er wollte sie möglichst

vielen lnteressenten präsentieren. Das musste rasch geschehen. Denn die vielköpfige

Schar potentieller Lispler würde in der lebensfeindlichen Umgebung nicht sehr lange

gedeihen.

 

Mittlerweile hatte Lehrer Bolle auf dem Klo munter und zufrieden ein ziemlich dickes Ei

gelegt. Nach gründlichem Händewaschen wünschte er, die Aktivitäten seiner Schüler zu

inspizieren. Er traute dem Ernst ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit nämlich keineswegs.

Die Jungen bemerkten sein Auftauchen nicht. Begeistert versuchten sie immer wieder, das

Wunder von Hopsten aus nächster Nähe zu betrachten.

Der Oberstudienrat für Biologie und Chemie rief laut: ,,Ja, was gibt es denn da so

unglaublich Interessantes? Das möchte ich doch auch gerne mal sehen. Lasst mich bitte

durch!“ Alle zuckten zusammen. Bolle Brubei! Ausgerechnet jetzt tauchte der auf. ,,Das

wird böse enden!“, dachten viele.

 

Aber sie hatten nicht mit der Gerissenheit und Geistesgegenwart Wotschs gerechnet. Der

schrie scheinbar bestürzt und erschrocken: ,,Och Herr Oberstudienrat, Herr

Oberstudienrat! Was machen Sie nur! Jetzt haben Sie das Mikroskop angestoßen und

das Präparat ist irgendwo da unter dem Schrank gelandet. Das waren so viele

Wasserflöhekinder wie noch nie!“

Alle lachten, ausgenommen Brubei: „Aber die seht ihr hier doch alle Tage. Und deswegen

macht ihr so einen Aufstand? lhr seid ja manchmal ganz schön hysterisch! Das sind doch

nicht etwa postpubertäre Schübe?“

,,Nein, nein! Das auf keinen Fall! Dieses Mal waren es aber besonders bewegliche und

besonders große Tiere. Leider ist jetzt alles durcheinander geraten und nichts geht

mehr“, bemerkte Ödipus scheinheilig. Bolle begütigte: ,,Ach, ist doch nicht so tragisch.

Vielleicht findet ihr schon bald wieder so was. Dann ruft mich aber bloß rechtzeitig.

Eventuell habt ihr da sogar eine ganz neue Art entdeckt.“

,,Das könnte allerdings sein“, fügte Wotsch kummervoll hinzu.

,,Wir wären sicher in der Zeitung erwähnt worden!“

Nach dem kurzen Wortgeplänkel löste sich die Menschentraube auf und bald herrschte

Überall diszipliniertes wissenschaftliches Treiben, das Bolle Brubei mit Wohlgefallen zur

Kenntnis nahm.

Da harter Arbeitseinsatz durch angemessene Freizeitbeschäftigungen auszugleichen ist,

soll schöpferischer Tatendrang nicht ausgelöscht und von unheilvollem Müßiggang

abgelöst werden, gestattete Oberstudienrat Brubei seinen Zöglingen eines Abends den

Besuch des Hörsteler Schützenfestes.

Der Flecken Hörstel liegt ganz nah bei Hopsten.

 

Die hoffnungsvollen Sekundaner nippten nur äußerst sporadisch am süßen Wein, der

neben anderen exotischen Getränken auch angeboten wurde. Stattdessen allerdings

schütteten sie wahre Sturzbäche herben westfälischen Bieres ihre jungen Kehlen hinunter.

Zudem bemühten sich die zeitweise beurlaubten Biologielehrlinge sehr zum

Missvergnügen der einheimischen Juniorbauern höchst intensiv um die nur spärlich

vorhandenen weiblichen Hörsteler und Hopstener Teenager.


Ödipus gelang es, eine 16 jährige blonde Schönheit namens Monika auf die überfüllte

Tanzfläche zu schleppen, die ihre blauen Augen von Zeit zu Zeit neckisch verdrehte und

eine hinten geknöpfte, ärmellose weiße Bluse zu einem blauen, man muss schon sagen,

sehr kurzen Rock trug.

Dem Erforscher der Hopstener Tier- und Pflanzenwelt glückte es, alle fünf Finger der

rechten Hand behutsam durch die Lücken zwischen den rückwärtigen Blusenknöpfen zu

schieben und weichfeuchte, samtene Mädchenhaut sanft zu streicheln, die lautlos nach

Berührung schrie.

 

Einer der vorwitzigen Finger schaffte es sogar, unter das elastische Halteband des

Büstenhalters zu schlüpfen. Seine zarten Spitzen schimmerten deutlich durch die

hauchdünne Bluse und umgaben dekorativ die aufregenden Möpschen der Iändlichen

Tänzerin. Gelegentlich bewirkte das ausgelassene Tanzgetümmel mehr oder weniger

zarte Brust- zu Brust-Kontakte, die das Pärchen sehr fröhlich stimmten.

Auch südlichere Körperlandschaften kamen durchaus auf ihre Kosten.

Das Ödipussche linke Knie und der zugehörige Oberschenkel brachten es irgendwie fertig,

sich runden, weichen und nachgiebigen Mädchenbeinen anzuschmiegen.

Energisch klammerten sie. An ihrem oberen Verbindungsbogen strahlten sie eine unglaubliche Hitze aus,

Glutlava, über der sich ein vulkanischer Unterleib sacht wölbte.


Die Linke des Tänzers war mit der Rechten seiner Dame kompliziert verflochten zu einem

einheitlichen Streichel-, Drück- und Pressorgan. Haut glitschte nass an Nässe, sendete

Liebesgedichte ohne Worte und empfing sie auch.

Leider spielte die dörfliche Rumtata-Kapelle viel zu oft unromantische Karnevalshits. Die

,,Eingeborenen von Trizonesien“ samt zugehörigem ,,Schimmlaschimmlabumm“ und ,,Wer

soll das bezahlen“ plus der nötigen ,,Pinkepinke“ stießen aber bei der Mehrheit des

Publikums auf große Gegenliebe. Moni und Ödi jedoch hätten am liebsten den ganzen

Abend die Schmalzies ,,Are you lonesome tonight“ des Herrn Elvis oder ,,Geh'n sie aus im

Stadtpark die Laternen“ einer vergleichsweise unbekannten Schlagertussi namens Gitte Haenning gehört.

Zu diesen musikalischen Süßigkeiten wuchsen sie immer enger zusammen, wogten

ineinander verknotet zeitlupenartig hin und her, klebten aneinander und rieben

gegeneinander, ein einziges einheitliche Doppelwesen, das am liebsten für immer in

dieser wundervollen Zweifach-Einform geblieben wäre.

 

Die spärlichen Momente, in denen Lustig verschlungen mit Monika nicht fühlte, sondern

dachte, gebaren mitnichten brillante intellektuelle Ewigkeitsgedanken: ,,Himmel, Himmel,

Himmel! Weiber sind Weiber, bleiben Weiber und werden immer nur Weiber sein! Aber ich

will ewig verflucht und verdammt sein, wenn sich auf der Welt irgendetwas besser anfühlt,

irgendetwas besser duftet als Monika oder irgendetwas überhaupt schöner ist, als diese

Nähe! Jetzt halte ich eine Zauberfee in den Armen und vor einer Stunde kannte ich sie

noch nicht. Wie gut sie sich anfühlt. Wie gut fühlt sie sich bloß anl“

Während Ödi die Grundideen einer rustikalen Sexphilosophie entwickelte, vermengten

sich an der Iangen Theke des Schützenzeltes immer mehr Schüler mit immer mehr

Hopstener und Hörsteler Jungbauern, und zwar vor allem mit Fäusten und Händen. Einige

der Fremdlinge aus dem städtischen Fünf wiesen bereits kleinere oder größere Beulen

und längere oder kürzere Schrammen auf. Die eingeborenen Jungstiere dagegen wirkten

insgesamt noch relativ unbeschädigt. Die Thekenschlacht nahm an lntensität und

Lautstärke zu. Leere, halbleere oder volle Biergläser flogen durch die Gegend,

zerschellten auf dem Boden, an harten oder weichen Köpfen, je nach dem.

 

Moni und Ödi bekamen von der bedrohlichen Wende eines sehr heiteren und zumindest

ziemlich kultivierten Festes nichts mit. Sie tanzten, tanzten und tanzten, knutschten,

knutschten und knutschten, aber nicht mehr Iange. Mit Ietzter Kraft hatte die eingekesselte

auswärtige Biologenmannschaft die Reihen der einheimischen Mistschaufler und

Traktorfahrer durchbrochen und raste nun in wilder Flucht quer über die Tanzfläche zum

Ausgang. Monika und Ödipus mussten ihre höchst angenehme, Iiebevolle und friedliche

Beschäftigung abrupt unterbrechen. Trotz innigster Halteversuche trennte der rasende

Mob aus Schülern und Junglandwirten das glückliche Pärchen, dessen Entknotung noch

vor wenigen Sekunden unmöglich erschien.


Es ging getrennt zu Boden. Böswillige Wüteriche schubsten, stießen und traten seine zwei

Hälften, eine bessere und eine schlechtere, hier- bzw. dorthin. Moni und Ödi sahen sich

nie wieder. Welch trauriges Ende einer hoffnungsvollen Leidenschaft! Aber sie vergaßen

einander nie, bis an ihr Lebensende nicht. Und wenn es einer oder einem von ihnen später

einmal ganz besonders dreckig ging, dann sahen sie manchmal in der Erinnerung die oder

den jeweils anderen in der ganzen Vitalität, Pracht und Schönheit der ferneren und

ferneren Jugend. Und fast alles war wieder gut.

 

Nach mehrmaligen recht harten Schlägen auf Vorder- bzw. Hinterkopf begriff Ödipus

endlich, was um ihn herum gerade vorging: Ein Krieg zwischen Stadt und Land. Er nahm

allmählich eine sehr unerfreuliche Entwicklung für die Sekundaner. Sie waren erstens in

der Unterzahl und zweitens, jedenfalls teilweise, lntellektuelle. Die verstehen bekanntlich

mehr von These samt Anti- und Syn- als vom Faustkampf. Deshalb ergriffen sie

schleunigst ruhmlos die Flucht. Lustig schloss sich wenig heldenhaft an, aber erst, das

muss der Autor zu Ödis Ehre berichten, nachdem er das Mädchen Monika, das sich,

,,HmmmmmOoooo0hAaaaaah!“, so himmlisch-teuflisch gut anfühlte, trotz schärfster Blicke

nirgends entdeckte.


Die kräftig verprügelten und bis auf unwesentliche Ausnahmen ebenso kräftig

angesäuselten Vertreter kleinstädtischer Zivilisation sammelten sich zu einem

Zwischenstopp auf einer der vielen Hopstener Kuhweiden, froh ihren Häschern knapp

entkommen zu sein, wenn auch stark ramponiert. Der Vollmond erleuchtete gespenstisch

die malerische Szene.

 

Da man vieles doppelt und manches trotz vollmondlicher Belichtung überhaupt nicht sah,

herrschte grolle Unklarheit über den Rückweg in die biologische Station. Trotz

schwerzüngiger Diskussionsbeiträge war Einigkeit über die Wegrichtung nicht zu erzielen.

Guido von Sack alias Beutel lallte: ,,Ooohwei, ich fahr jetzt mit der Straßenbahn nach Hause, schawolll“

Einige wollten nirgendwo hin und legten sich zu einem oder

mehreren Schlummerstündchen auf die gemütliche, weiche Wiese nieder. Der Holländer unter ihnen,

Hein ten Tal, fabulierte vor dem Einschlafen noch in leicht stockender Redeweise:

,,Hamann, mit einem Schlag sieben ortsansässige Kuh- und Schafhirten

zu Boden gestreckt! Wrrg! Müsst ihr erst mal nachmachen!

Zwei Meter lang waren die alle mindestens! Auuhhh! Jetzt kotz ich erst Mal!“

 

Ödi hatten die aufregenden Ereignisse stark ermüdet. Er wollte nur noch von Monika

träumen. Deswegen ließ er sich neben Pickel Elvis nieder. Der hieß so wegen einiger

Pubertätsfurunkel und seiner Elvistolle, die er mit Brisk, einer damals gebräuchlichen

Pomade, immer sorgfältig zu einer fettigen Welle formte.

 

Lustig träumte, er läge mit Monika in einem luftigen Wolkenbett und sähe auf die

Hopstener Biostation hinab, über die eine riesige schneeweiße Sichtscheibe segelte. Er

dehnte und reckte die Glieder im Schlaf. Dabei rollte er ruhelos hin und her, seufzte und

stöhnte wollüstig. Pickel Elvis schreckte mehrfach hektisch auf.

Schließlich, so gegen fünf Uhr morgens, träufelte ein gräulich kühler Nieselregen die

biwakierenden Schützenfestbrüder aus dem unruhigen Alkoholschlaf. Einige hatten über

Nacht ein wenig Farbe abbekommen, auch Ödipus. Sie sahen aus, als habe ein

betrunkener Malermeister Klecksel an ihnen unterschiedliche Techniken zum Auftrag

grüner Farbe ausprobiert.

 

Was hatte sich da ereignet, etwa Magie? Dann stand Hopsten vielleicht eine ökonomisch

überaus erfolgreiche Zukunft als Wallfahrtsort bevor. Aber nein! Der Ursprung der

nächtlichen Landkunst war doch zu offensichtlich. Die Alkohol-, Liebe- und

Schlägereigeschwächten hatten sich schlaftrunken an einer Kuhtränke niedergelassen, die

aus einer mit Wasser gefüllten Badewanne und einer über und über mit Kuhfladen

bedeckten Wiese bestand. Was an ihnen fest und innig klebte, konnte man bestenfalls auf

den ersten Blick mit Farbe verwechseln. Die schmutzige Brühe

in der ausrangierten Badewanne wirkte alles andere als einladend.

So zogen die übernächtigten Biopraktikanten es vor, zunächst auf ein Bad zu verzichten.

Sie zottelten angeschmiert und deprimiert wie die Soldaten der

großen Armee Napoleons auf ihrem Rückzug aus Moskau der biologischen Station entgegen.

 

lnzwischen hatte der helle Tag fast alle ernüchtert und nur noch einige beharrten

hartnäckig darauf, dass dort, wo ein Baum wuchs, zwei Bäume ihre Zweige in den Himmel

reckten und wo ein einziger Ödipus des Weges humpelte, zwei Lustigs der Station

entgegen rumpelten.

 

So gegen sechs Uhr erreichte der Elendszug sein Ziel. Dort sorgte der aufgebrachte

Oberstudienrat Bolle Brubei für sehr unfreundliche Worte. Der Pädagoge trug einen

b|auweiß gestreiften Pyjama. Dessen eines Hosenbein war bis zur etwas mickrigen, aber

recht behaarten Wade aufgekrempelt und ganz und gar zerknittert wie sein menschlicher

Inhalt.

 

,,Was fällt euch ein? Ich wollte schon die Polizei holen! Wie seht ihr denn aus?

Unter der Dusche ist alles voll gekotzt. Nie wieder Iasse ich euch auf ein Schützenfest

gehen, ihr besoffenen Trauerklöße! Und du“, damit wandte er sich an Ödipus, ,,hast dein

Konto total überzogen. Sichtscheiben zertrampeln, bis oben voll, stinkend und in Kuhmist

getunkt nach Hause kommen. Das reicht jetzt aber! Du machst sofort die Kotze weg! Und

zwar restlos und vollkommen. Die anderen waschen sich und gehen umgehend ins Bett!

Um acht Uhr ist Frühstück! Und wer nicht pünktlich da ist, der bestimmt auf unserer

heutigen Exkursion alle Gräser, die wir finden! So wahr ich Bolle, äh, Franz Brubei heiße!“

 

Da niemand etwas einfiel und jeder wusste, wie er aussah, antwortete keiner auf Bolles

Fragen. Nur Lustig grummelte unzufrieden, als sein Lehrer Mageninhalt erwähnte, der

statt hinten vorne heraus gekommen war.

 

Während die anderen sich säuberten, reinigte Ödipus die Dusche. Er entwickelte eine

besondere Putztechnik. Der Duschstrahl erreichte nämlich nicht alle Ecken. Deswegen

holte der übermüdete, liebeskranke Sekundaner die langen Watstiefel Bolles aus einer Besenkammer.

In diese praktischen Gefäße goss er dann Wasser, das er anschließend über die übel

riechende Pampe aus halbverdauten Pommes, Currywürsten und Dortmunder Kronenbier

schüttete, bis sie gurgelnd im Ausguss der Dusche verschwand.

 

Dann nahm er unter einer von Kotze und Gestank befreiten Dusche ein heißes Bad. Die

restliche Stunde bis zum Frühstück gedachte er, in seinem schönen warmen Bett zu

verbringen. Es war das untere einer Doppelstock-Liege. Oben schlief Pickel Elvis. Der

sägte so gewaltig, als beabsichtige er, in einer einzigen Nacht alle Riesenbäume des

afrikanischen Regenwaldes zu fällen.

 

Ödipus hob die Bettdecke, ruhte kurz auf dem Bettrand und ließ sich nach einem tiefen

Seufzer erlöst hintenüber fallen. Einen Sekundenbruchteil danach schnellte er entsetzt

empor. Zum zweiten Mal in dieser anfangs höchst romantischen Nacht haftete an ihm

widerliche, stinkende Materie, ein Albtraumstoff.

 

Es handelte sich um genau den, welchen der Schüler soeben aus der Dusche entfernt

und das Sägewerk über Ödipus vor nicht allzu Ianger Zeit als nur halb verarbeitete

Antriebssubstanz entsorgt hatte.

Der riss jetzt der disharmonisch pfeifenden und prustenden

Imitation des berühmtesten amerikanischen Rocksängers

das unbefleckte Kopfkissen unter der Tolle weg und ersetzte es durch sein eigenes von oben bis unten Bekotztes.

Dann endlich fiel Lustig in einen zwar tiefen, aber nur äußerst kurzen Schlaf, den ein

kasernenhaft lauter Weckruf Bolle Brubeis rücksichtslos beendete.

 

Bald nach dem Schützenfest bestieg die Forschergemeinschaft einen Bummelzug, der sie

bis Münster brachte. Die Fahrt vom Hauptbahnhof in die Kleinstadt Fünf dauerte nicht

mehr lange.

 

Schon kurze Zeit später betrachtete die Welt die Hopstener Forschungsexpedition unserer

Sekundaner nur noch als winziges Mosaiksteinchen der Wissenschaftsgeschichte, wenn

überhaupt.

 

Pickel Elvis allerdings bekam noch einige Wochen danach in regelmäßigen

Abständen heiße Liebesbriefe einer Hopstener Küchenhilfe namens Maria. Da er nicht

Josef hieß, fühlte er sich zu nichts verpflichtet, besonders nicht zu menschlichem Anstand.

Deswegen las er die poetisch-zarten Geständnisse und gefühlvollen Erinnerungen

großsprecherisch und angeberisch laut dem gesamten Klassenverband vor. Der brach

einschließlich Ödipus' in meckerndes, wieherndes Blödlachen aus.

 

Später, als Erwachsenen, tat das Ekelgelächter einigen leid,

auch dem Vorleser und seinem ehemaligen Unterlieger.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 04.01.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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