Engelbert Blabsreiter

Jahreswechsel

So verlockend stehen sie da im Eingangsbereich des Supermarktes, die Berge aus Kartons mit Knallkörpern und Silvester-Raketen jeglicher Art und Größe. 
Schon auf der Verpackung zeigt sich bildlich die Explosionskraft der verschiedenen Systeme in grandiosen Farb-und Leuchteffekten.
Der Preis ist sensationell niedrig und sie ist geneigt, dieses Jahr bei dem explosiven Vergnügen mitzumachen.
Aber…. soll sie wirklich Geld dafür ausgeben denkt sie sich, als sie einen der Kartons in der Hand hält, und was soll das Ganze eigentlich?
Nur weil früher die Germanen einmal  jährlich an diesem Tag böse Geister vertreiben wollten und dieser Brauch sich über die Jahrhunderte gehalten hat?
Böse Geister? Also bei den  „bösen Geistern“ die sie kennt, glaubt sie nicht, dass sie sich mit ein paar Raketen oder Böller vertreiben lassen werden.
So überkommt sie ein seltsames Gefühl, als sie einen der Kartons mit der Aufschrift „Bengalisches Feuer“  in der Hand hält.
Einige kurze, lautstarke und sicher sehr effektvolle Momente mit feuerspeienden Lichtern die aus dem Karton herausschießen werden? Und was dann?
Wie lange wird dieses  „Bengalische Feuer“  brennen? 30 Sekunden oder vielleicht 60 ? Dafür soll sie die 50 Euro ausgeben, die sie sich so mühsam verdient hat?
Tiere aller Art werden an der brachialen akustischen Gewalt der Knaller, Raketen und Heuler leiden, so dass ihre Angst und ihr Schmerz für den Beobachter leicht zu erkennen ist.
Trotzdem wiederholen wir das Schauspiel jedes Jahr, denkt sie sich beim Anblick der Bilder auf dem Karton.
Jedes Jahr verunglücken viele Menschen durch die Verwendung dieser Explosivstoffe und haben oft den Rest ihres Lebens unter den Folgen zu leiden und ich soll das ganze Spektakel auch noch mitfinanzieren fragt sie sich jetzt?
Es wird stinken und der ganze Dreck liegt dann in den Grünflächen, Wiesen und Straßen. Die Luft wird mit den Stoffen aus der Verbrennung des Schwarzpulvers geschwängert sein und schadet dann Mensch und Tier.
Ein fataler Umstand für Menschen die an COPD oder Asthma leiden, oder deren Immunsystem angegriffen ist erinnert sie sich. So wurde es jedenfalls in einer Fachzeitschrift die sie neulich gelesen hat angeprangert.
Strontium, Cäsium, Kobalt, Barium, Arsen und viele andere hochgiftige Stoffe sinken langsam auf den Boden herab und finden sich  im Schnee und später im Grundwasser wieder hieß es.
10 000 Tonnen Silvesterknaller werden damit jedes Jahr in Deutschland in die Atemluft pulverisiert, so las sie damals, ein Teil dieser Stoffe wird sicher den Weg auch in ihren Körper finden.
Was richten wir denn da an, für etwa 120 Millionen Euro jedes Jahr nur an Silvester denkt sie sich?
Soll ich wirklich 50 Euro zu diesem alten Brauch beitragen, oder reicht es vielleicht schon zum Jahreswechsel das gigantische Feuerwerk in Sydney, im weit entfernten Australien im Fernsehen anzusehen und das Geld für sinnvollere Zwecke zu verwenden?

Die junge Dame an der Kasse schaut sie lächelnd mit einem fragenden Blick an, als sie mit dem immer noch leeren Einkaufswagen an ihr vorbei fährt.
Hat sie vielleicht ihre Gedanken erraten, als sie nachdenklich vor dem Berg aus Feuerwerkskörpern stand und sich ratlos an ihrem Hinterkopf kratzte ?
Fest entschlossen fährt sie mit dem leeren Einkaufswagen aus dem Gebäude.

Sie sieht in diesem Moment ein Foto vor sich, das in ihrem Zuhause auf dem Arbeitstisch steht  und aus dem ein Mädchen überglücklich aus dem bunten Bilderrahmen heraus lächelt.
Ein Mädchen, für das sie seit vielen Jahren die Patenschaft übernommen hat.  Sambehir ist ihr Name und sie lebt bei ihrer Tante in einem kleinen schrecklich armen Dorf in West Afrika. Aus dem kleinen unterernährten Mädchen von damals, mit eingefallenen Wangen und megadünnen Ärmchen ist eine ganz besonders hübsche junge Frau mit  wunderschönen großen dunklen Augen geworden. Man sieht ihr an, dass es ihr jetzt gut geht und sich auch ihr ganzes Dorf positiv entwickelt hat.
Erst das Klappern des leeren Einkaufswagens auf dem Pflaster vor dem Supermarkt erweckt sie wieder aus ihrer fernen Gedankenwelt.

Als sie dann im Auto sitzt, nimmt sie den 50€-Schein aus der Geldbörse und legt ihn in ihre Hand, ballt eine Faust und küsst demonstrativ die geballte Faust mit dem Schein darin.
Der Schein wird wie all die anderen seinen Weg nach West Afrika zu ihrer Sambehir finden und dort für einen sinnvollen Zweck verwendet werden, das weiß sie jetzt ganz genau.
Zum Beispiel zum Bau von einem Brunnen der nicht mehr drei Stunden Fußmarsch von ihr entfernt ist.
Zur Erstellung von zusätzlichen Toiletten, die für hygienischere Verhältnisse sorgen werden.
Zu Schreibmaterial für die Kinder die sich keinen Schreibblock oder Stift leisten können, aber begeistert am Schulunterricht teilnehmen möchten. Und, und, und…. für so vieles mehr wie zur Hilfe für Selbsthilfe. Mit einigen anderen Spenden wird damit den Bewohnern des Dorfes die Chance gegeben in ihrer Heimat zu bleiben. In einer Heimat die sie trotz aller Probleme lieben.

Daran wird sie denken, mit einem Lächeln auf dem Gesicht, wenn es zu Silvester irgendwo blitzt und kracht und alle anderen die bösen Geister vertreiben wollen. Böse Geister, die sich die Menschen teilweise selbst geschaffen haben.
Und sie wird wissen, das neue Jahr mit einer aus ihrer Sicht guten Tat begonnen zu haben, über die sie sich das ganze Jahr und nicht nur für 60 Sekunden freuen kann.
 
©Engelbert Blabsreiter

 

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.01.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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