Hartmut Wagner

Vampire in El Paso

Es ist vier Uhr morgens, ein Tag im Monat August des Jahres 1981, der
inzwischen wie soviel andere Erinnerungszeit unwiederbringlich und
unerbittlich in die Finsternis der Ewigkeit sackte und mittlenıveile fast schon
nicht mehr wahr ist.
Übertrifft dieser Anfangssatz, "Transzendentalbelletristik" reinsten Wassers,
nicht die meisten anderen Eröffnungssätze? Wenn sie ihn lesen, werden dann
nicht Entzückensschauer alle wortverliebten Leser überrieseln und wird nicht
jeder "inkompetenzkompensationskompetente" Schreiberling vor Neid
erblassen, wenn er optisch Zeuge derartiger Formulierungskunst wird? Doch
Spaß beiseite!
ln der Greyhoundstation El Pasos, der texanisch-mexikanischen Grenzstadt,
verlassen wir den riesigen, weiß-rot-blau gestrichenen Bus mit den auf beiden
Seiten aufgemalten Windhunden. Brütende Hitze schlägt uns entgegen,
unerträglich nach der Kälte im Greyhound, die eine hochtourig brummende
Klimaanlage erzeugte. Wir recken uns und entzerren unsere verkrampften
Arme und Beine. Dann staksen wir verschlafen in die Halle des
Busbahnhofes. Wir haben eine weite Fahrt hinter uns, vom Lake Ouachita in
Arkansas über Dallas, Abilene bis nach El Paso. Um Geld für
Übernachtungen zu sparen, schlafen wir nachts im Bus, der unermüdlich
unter dem endlosen nordamerikanischen Himmel dahin braust.
lm Greyhound verbringen wir allerdings nie mehr als zwei Tage
hintereinander. Dann kann man die nervige Klimaanlage, die einen ohne
dicke Jacke frösteln lässt, die getönten Busscheiben, die selbst die
sonnenhellsten Tage und Landschaften in geisterhaftes Licht tauchen, den
eigenen Schweiß und Mief samt dem des Sitznachbarn und die
eigentümlichen Desinfektionsdüfte aus der Bustoilette nicht länger ertragen
und ersehnt nichts mehr als eine Dusche und ein weiches Bett.
Offensichtlich benutzen vor allem ältere und ärmere Amerikaner die
Greyhoundbusse. Auf der Strecke von Nashville nach Little Rock im tiefen
Süden der Vereinigten Staaten begleiten uns viel mehr Schwarze als Weiße.
Zwei sehr sympathische, wohl erzogene, dunkelhäutige Knäblein fordern mich
auf mit ihnen Karten zu spielen. Ihr Vater liest in einer dicken Bibel.
Während Nashville neben Memphis und New Orleans als weiterer Brennpunkt
der südlichen Country-, Folk- und Jazzmusik weltweiten Ruhm genießt, galt
Little Rock, die Hauptstadt des Staates Arkansas, seit den 1960er Jahren der
Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings zur Gleichstellung der Schwarzen
lange Zeit als Rassistenzentrale und Stützpunkt des Kukluxklans, der
schwarzen-, juden- und katholikenfeindlichen Organisation fanatischer
Weißer. Heute kennt die Welt Little Rock vor allem als Heimatstadt des
ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, den ich für einen der besten Politiker
der USA halte, obwohl er gelegentlich seine kluge Frau Hillary mit hübschen
Praktikantinnen betrog und mittlerweile unverschämt hohe Redehonorare,
250000 Euro pro Auftritt, bezieht.
Übrigens übernachten wir mitten in Little Rock in unseren Schlafsäcken unter
einem Gebüsch neben dem Marktplatz. Am Folgetag besichtigen wir das
Kapitol und machen anschließend Halt auf einem Campingplatz am Lake
Ouachita.
Dorthin gelangen wir in einem roten Pontiac, einem Straßenkreuzer, den
außer uns ein leicht angesäuselter jugendlicher Fahrer und zwei ebenso
junge, hübsche Damen im gleichen Zustand besiedeln. Sie unterhalten uns
mit lautester Radiomusik und grölen nur wenig leisere Begleitgesänge.
Auf unserem Campingplatz begegnen wir ganz wenig Schwarzen und vielen
Weißen. Er liegt in einem großen Wald. Ich sitze gern auf einer Holzplattform
am See. Lasse ich die Beine ins Wasser baumeln, knabbern kleine Fische
vorsichtig an meinen Zehen herum. Da wir nur mit Schlafsäcken ausgestattet
campieren, spendieren freundliche amerikanische Zelter uns armen
Schluckern ab und zu so dies und das, z.B. Dosencola. Außerdem sehen wir
in den stillen, sternklaren Sommernächten zahllose Sterne.
Einmal verlaufen wir uns auf einem Spaziergang und treffen zufällig eine
Gruppe weißer Männer, richtige Rednecks, in Deutschland nicht wegen ihrer
Menschlichkeit berüchtigt. Mörderische Langwaffen mit Zielfernrohr glänzen in
einem Gewehrhalter unmittelbar hinter dem Fahrerhaus auf der Ladefläche
ihres Pickups. Zum Fürchten!
Aber die "Hinterwäldler" erschießen uns nicht, sondern versorgen uns mit
köstlichem eiskalten Wasser und leckeren Blaubeeren, die unseren
Waldbeeren ähneln. Das Beste zum Schluss: Wir dürfen hinten auf den
Kleinlaster steigen und das Rednecktaxi bringt uns in kurzer Zeit zum
Zeltplatz. Die Tage am Lake Ouachita gehören zu den schönsten meines
Lebens. So sieht Glück aus!
ln der Halle des Greyhoundbahnhofs El Pasos hocken stoppelbärtige Alte mit
weichen Sombreros, breitkrempigen Texashüten, auf dem Kopf und
verknitterten Jeans an den Beinen in gelben Plastikstühlen. Die Greise
schauen sich das Programm des Münzfernsehens an. In allen größeren
Busstationen der Greyhoundlinie gibt es diese Sitzreihen mit angebauten
Kleinfernsehern, die gegen Münzeinwurf die schöne weite Werbewelt zeigen
und andere wichtige Informationen bieten. Zwei baumlange, athletische
Polizisten mit langen Gummiknüppeln und schweren Schusswaffen am Gürtel
spazieren selbstbewusst auf und ab, schon durch bloße Anwesenheit
wirkungsvoll, und kauen Kaugummi.
Phantastisch zurecht gemachte, auffällig geschminkte bejahrte
Amerikanerinnen mit bizarr geformten Brillen an glitzernden Gold- oder
Silberketten warten gleichmütig auf ihre Anschlussbusse. Zwischen ihnen
hüpfen fröhlich kleine Afroamerikanerinnen umher, deren hübsche Zöpfchen
mit bunten Bändern und Schleifen geschmückt sind. Einige schwarze
Soldaten in penibel gebügelten Uniformen und blank gewienerten Schuhen
verleihen der tristen, etwas gammligen Umgebung, typisch für die meisten
Greyhoundbahnhöfe, ein wenig Glanz.
Wir verstauen unsere Rucksäcke im Gepäckschließfach und beschließen,
bis zum Hellwerden noch ein wenig zu schlafen. Meine Nichte und ich
kringeln uns in zwei der Plastiksitze. Um neun Uhr weckt mich ein Besen, der
unsanft an mein Schienbein kracht. Der Besenschwinger, ein Schwarzer mit
in den Nacken geschobener Schirmmütze, murmelt: "Entschuldigung!"
Er manövriert den Besen ungelenk über den abgenutzten Fußboden, fegt
Kaugummipapier, Pappbecher und zerknüllte Zeitungen zusammen, um sie
danach in den Abfall zu befördern.
Wir erheben uns, denn wir wollen in der Cafeteria nach etwas Essbarem
suchen, das nicht allzu teuer ist.
Zunächst aber beugen wir uns über eines der kleinen Trinkbecken, die überall
in den USA zu finden sind. Ein Druck auf den Knopf und ein dünner
Wasserstrahl sprudelt einem direkt in den Mund. Manchmal fließt das Wasser
eiskalt und schmeckt ausgezeichnet. Aber gelegentlich stört der Geschmack
des hinzugefügten Chlors, von dem die Amerikaner offensichtlich genug
besitzen.
ln der Cafeteria gibt es das Übliche: Kaffee und kalte Säfte aus Automaten,
lange, mehrstöckige Sandwiches mit Salat, Käse, Schinken, kleinere und
größere Salate unter Cellophan, Pfannkuchen mit Ahornsirup, Äpfel und
Bananen. Da wir das amerikanische Brot, das man bequem von
Unterarmlänge auf Fingerkürze pressen kann, nicht sehr verehren,
beschließen wir zunächst auf Quartiersuche zu gehen und dann unser
bewährtes, äußerst preisgünstiges Standardessen zusammen zu stellen.
Wir sparen nämlich nicht nur an Übernachtungen, sondern überhaupt an
allem. Einen großen Teil unseres Etats verschlingen die Fahrtkosten für den
Greyhound. Und mit 200 Restdollar den Lebensunterhalt für einen
sechswöchigen USA-Aufenthalt zu bestreiten, erfordert nicht nur schwarzen
Humor, sondern auch wirtschaftliche Fähigkeiten!
Unser Normalessen besteht aus Wassermelonen und Buttermilch. Es gibt
nichts Besseres als nach einem langen Fußmarsch die schweren Rucksäcke
unter einer schattigen Palme abzustellen, Melone und Buttermilch aus
braunen Papiertüten henıorzukramen, einen kräftigen Schluck zu nehmen
und in ein Viertel rotsaftigen Melonenfleisches zu beißen, während einem der
Saft den Mund hinunterläuft.
Seit unserer Landung in Toronto wenden wir einige Überlebenskünste an. ln
Springfield, Ohio, halten wir uns zwei Tage in einer Landkommune auf,
flechten Hängematten, ernähren uns von selbst gebackenem Brot, selbst
gemolkener Milch und sonstigen selbst produzierten Leckereien. Außerdem
lernen wir dort viele Leute kennen, die uns wichtige Tipps für unsere Reise
geben.
ln San Diego, California, im äußersten Südwesten der USA, essen wir
kostenlose, raffiniert zubereitete vegetarische Speisen und Harekrishna-
Anhänger unterweisen uns obendrein in buddhistischer Glaubenslehre.
Auch im Supermarkt sparen wir, weil wir fast nur Lebensmittel aus
Sonderangeboten erwerben. Das nutzt unseren spärlich gefüllten Geldgürteln
wahrscheinlich mehr als unserer Gesundheit. Einige äußerst klamme
Globetrotter reduzieren in den prächtigen, voll klimatisierten Läden Kosten
sogar auf gesetzwidrige Weise, indem sie möglichst unauffällig regelmäßig in
eine der Obsttüten des Einkaufswagens greifen und die ein oder andere
Weintraube herauszupfen und verspeisen. So vermindern sie zwei Pfund der
schmackhaften Früchte mit etwas Kaltblütigkeit und bei längerer Verweildauer
leicht auf ein einziges. Die Verkäuferinnen wiegen Obst und andere lose
Waren nämlich erst an der Kasse. Die Waage gehört zum Kassenpult, die
Kassiererin bedient sie. Und da sie nur das Obst und nicht den Käufer selbst
wiegt, fällt das kleinkriminelle Verhalten nur bei grober Ungeschicklichkeit auf.
Mir entwendet ein Räuber in einem der perfekten Einkaufszentren fast unser
Standardessen samt einiger sonstiger Schnäppchen. Ich fahre meinen
Warenkorb bis zum Gummifließband vor der Kasse und packe aus. Die
Käuferin rechnet alles zusammen. Ich bezahle. Da geschieht es. Wie der Blitz
rafft ein junger Mann das zusammen, wofür mir nun höchst knappe Dollar
fehlen. Mir schwant Übles. Was liest man in Deutschland nicht alles über
Kriminalität in Amerika! Ich renne schleunigst dem Bösewicht hinterher und
reiße ihm erbost die unrechtmäßige Beute aus den diebischen Händen. Er
sieht mich an wie einen entsprungenen lrren.
Ich kläre ihn in etwas ruhrpottigem Englisch darüber auf, dass die Sachen
nicht ihm, sondern mir gehören. So was! Die Verkäuferin muss das auch
gesehen haben. Doch die lächelt ganz gemütlichl Nicht zu fassen! Steckt die
etwa mit dem Kerl unter einer Decke? Nein, sie teilt mir amüsiert mit. "Das ist
kein Bandit, sondern mein Kollege. Er wollte Ihnen die Ware nur in eine
unserer Taschen packen.“
Die Leute an der Kasse zeigen durchweg heitere Mienen. Ich schäme mich,
ein wenig. Personal, das die Supemärkte beim Wiegen von Obst und
Gemüse einsparen, setzen sie für das Verpacken der Waren ein.
Vor dem Greyhoundbahnhof knallt die heiße texanische Sonne auf uns herab.
El Paso liegt inmitten braun verbrannter ausgedörrter Berge. Während
unseres Aufenthalts liegt ständig eine dicke Benzin- und Abgaswolke in der
Luft. Der Grenzort im wilden Westen der USA ist wie die meisten
amerikanischen Städte eine totale Autostadt. Am Anfang des
Siedlungsbereichs verk(n)oten sich spagettiähnliche Beton- und Asphalt-
schlangen. Von Westen nach Osten zerlegt eine brutalbreite Autoschneise
den Ort.
lm Zentrum El Pasos, das abends wie ausgestorben vor sich hin dämmert,
wachsen einige klotzige Bankhochhaustürme gesichtslos ins Blaue. Viele der
Wolkenkratzer tragen das bekannte gelb-schwarze Logo, das eigentlich vor
radioaktiver Strahlung warnt. Mir scheint, hier und an anderen
Riesengebäuden amerikanischer Städte soll es anzeigen: "An diesem Ort bist
du vor radioaktiven Strahlen geschützt." Offenbar herrscht bei den
Amerikanern große Angst vor einem atomaren Angriff aus dem Osten.
Bis auf die wenigen Palmen, den Brunnen und einige Tische nebst Bänken
einer kleinen Plaza, die der Verfasser des Reiseführers übertrieben als Park
bezeichnet, fallen mir im Zentrum der Stadt kaum Grünes, andere
Augenfreuden oder bürgergerechte Stadtmöbel auf.
lm Park suchen alte, abgezehrte Frauen in den Papierkörben nach Alu-
miniumdosen, die sie später verkaufen, um ihre spärllchen Einkünfte
aufzubessern. Greise Stadtcowboys mit hochhackigen Stiefeln, groß karier-
ten Hemden, lederbrauner Faltenhaut und Sombreros hocken gelangweilt im
Schatten. Ein Untergangsprophet predigt auf einem Tisch mit ausholender,
dramatischer Gestik und lauter Stimme das Weltgericht herbei. Aber niemand
achtet auf ihn. Obwohl auf allen Abfallbehältern lnschriften fordern: "Haltet
unsere Stadt sauber!", fliegt überall Papier und anderer Müll herum. Den
Stadtkern umgibt im Norden zu den Bergen ansteigend ein Halbkreis von
Wohnsiedlungen.
Etwas kümmerliche Rasenflächen, - deutsche Kleingärtner wären entsetzt,-
schmücken dort typisch amerikanische, leicht gebaute Holzhäuser. Veranden
vermehren häufig die Nutzfläche. Sie umgeben oft das ganze Haus und
bieten Raum für Schaukelstühle und Hängematten. Blumen und blühende
Klettergewächse bilden meist einen herrlichen Sichtschutz.
Früher verstand ich nie, warum in den USA bei Wirbelstürmen so viele
Häuser weg fliegen und als Sperrmüll landen. Während ich sie und vor allem
einige sehr zarte Rohbaugerippe in diesem Viertel El Pasos betrachte,
begreife ich sofoıt warum.
Angst flößen einem die vielen großen Hunde in den Vorgärten ein, meist
zähnefletschende Schäferhunde, die Passanten lauthals ankläffen.
lm Ganzen wirkt El Paso wie viele Städte im amerikanischen Westen, un-
wohnlich, irgendwie provisorisch, ein Bisschen wie eine Goldgräberstadt.
Wir machen uns auf den Weg ins Kulturzentrum, ein riesiger brauner
repräsentativer Prachtbau, der auch ein Informations- und Touristikbüro
beherbergt.
Hinter dem Empfangspult lehnt eine zeitlose Blondine mit perfektem Makeup
und jener Sekretärinneneleganz, der man in amerikanischen Cities häufig
begegnet. Sie mustert unsere nicht ganz fleckenlose äußere Erscheinung
kritisch, hat sicherlich im Physikunterricht nicht aufgepasst, als es um
optische Täuschungen ging und interessiert sich höchstwahrscheinlich auch
nicht für das erkenntnistheoretische Problem, inwieweit menschlichen
Sinneswahrnehmungen zu trauen ist.
Offensichtlich erwartet die Dame eine Frage nach dem billigsten Schlafplatz
unter einer der nächsten Brücken. Wir erkundigen uns: "Haben Sie ein
angenehmes und preisgünstiges Hotel für uns." Sie nennt drei. Das “De
Soto" und das "Grand Hotel“ verlangen Teuerpreise. Wir wählen das
"McCoy". Das Kulturzentrum interessiert uns. Wir schauen uns ein wenig
darin um. Eine Glastür gibt den Blick auf ein junges Mädchen im einteiligen,
knappen Badeanzug frei, das zusätzlich einen weißen Zylinderhut mit roter
Schleife und weiße Highheels trägt. Eine rote Schärpe, diagonal um den
jugendlichen Körper geschlungen, unterstreicht das ansehnliche Bild. Auf ihr
lesen wir: "Miss Dallas". Ein freundliches Winken seitens der Schönheitskönigin. Wir
durchschreiten erfreut das gläserne Portal und begeben uns umgehend zu ihr.
Wann hat man schon einmal Gelegenheit, zu einer so appetitlichen Adeligen
Kontakt aufzunehmen? Sie schenkt uns ein strahlendes amerikanisches
Misslächeln und erklärt uns: "Gerade findet hier die Generalprobe zur Wahl
der Miss Texas statt."
Wir folgen ihr in einen großen klimatisierten Theatersaal. Auf dessen Bühne
tummeln sich gerade "Miss San Antonio", "Miss Houston" und einige andere
"Misses" aus größeren texanischen Städten. "Miss Dallas" verlässt uns leider
und gesellt sich zu ihnen.
ln den nur spärlich gefüllten Sitzreihen unterhalten sich außer uns noch einige
durchaus vorzeigbare Mitdreißigerinnen. Der Glanz der spärlich bekleideten
Stadtfeen überstrahlt allerdings jenen unserer Sitznachbarinnen, wenn auch
nur knapp. Trotzdem traut man auch ihnen etwa zehn oder fünfzehn Jahre
zurück liegende Misswürden durchaus zu.
Auf der Bühne kommandieren vier Herren mit dem Gebaren ausgebuffter
Hollywoodregisseure den munteren Damenreigen generalstabsmäßig und
zeigen, wie richtige Bewegungen dynamischer Schönheitenformationen
aussehen. Die vier Frauendompteure tragen höchst "seriöse" Beinkleider in den
Farben: Rot, Gold, Silbern, Grün.
Vor der Bühne schießen einige Reporterinnen geschäftig Fotos. Auch die
Kameras des lokalen Fernsehsenders fehlen nicht. Wer weiß, vielleicht
erfasst eine den künftigen Star der nächsten Telenovela?
Die Damen schreiten von links oder rechts aus dem Hintergrund nach vorn.
Sie tänzeln mit kreisenden Hüften zum Mikrophon in der Bühnenmitte und
hauchen ihre Namen und Herkunftsorte. Die Zylinderhüte sind in exakt
abgezirkelten Bewegungen zu schwenken. ln einer Hand rotiert ein
Stöckchen. Währenddessen klatschen die vier Choreographen in den
unauffälligen Hosen den Rhythmus und stampfen dazu mit den Schuhen
donnernd auf den Bühnenboden. Wieder und wieder folgt der gleiche Ablauf.
Alle Teilnehmerinnen üben so eifrig, als gälte es das Bolschoi-Ballet zu
übertreffen. Die Zeremonienmeister verlangen ihnen alles ab und sind noch
lange nicht zufrieden. Endlich hat auch die einzige Schwarze, etwas fülliger
und nicht ganz so lächelfest wie ihre Kolleginnen, den richtigen Dreh heraus.
Wir verlassen die ästhetische Darbietung und gehen zum McCoy-Hotel.
Mit mehreren Stockwerken erhebt es sich strahlend weiß gestrichen an einer
verkehrsreichen Kreuzung. Seine Fassade besitzt altertümlichen Charme,
den besonders die unmodernen nach oben verschiebbaren Holzfenster und
die runde, über eine Ecke gebaute Form des Gebäudes bewirken. lm Mc-
COY wollen wir zwei Tage bleiben, ein Doppelzimmer kostet 10 Dollar.
Die Halle des Hotels verwischt schlagartig den guten äußeren Eindruck. Sie
versammelt zerschlissenes Mobiliar unterschiedlichen Stils aus allen
möglichen Epochen. In wackligen Sesseln undefinierbarer Farben hocken
abgerissene, stoppelbärtlge Gestalten wie verwegene Desperados aus einem
ltalowestern. Wir warten einige Minuten Endlich erscheint hinter der ziemlich
ramponierten Empfangstheke eine verwitterte Alte. Zimmer sind noch frei,
keine weiteren Formalitäten, keine unangenehmen Fragen nach Pässen
oder ähnlichem bürokratischen Kram.
Ein ältliches Zimmermädchen fährt mit uns in einem gefährlich ächzenden
Fahrstuhl die zwei Etagen zum Zimmer hoch. Es liegt an einem langen,
finsteren Gang, dessen Boden ein löchriger, muffiger Teppich bedeckt. Über
der Zimmertür gähnt eine Klappenöffnung, groß genug, um einen Menschen
durchzulassen. Der Textilfußboden in unserem Raum wirkt, als könne er bei
empfindlichen Personen Fußpilz auslösen. Die Fenster führen auf einen
hässlichen Hinterhof, dessen Asphaltdecke Schmutz und Müll bedecken.
Aber es gibt ein herrliches breites Bett und eine funktionsfähige Nasszelle.
Die Toilette allerdings liegt ein Stockwerk tiefer nur über unheimliche Gänge
erreichbar. Trübe Funzeln beleuchten sie spärlich.
Nach dem Duschen unternehmen wir einen Stadtrundgang. Uns fallen die
vielen Schilder auf, die für "Loans", "Kredite", werben und andere, die
spendenwilligen armen Schluckern für einen Liter Blut fünf Dollar
versprechen. Wir erblicken eine Brücke zwischen El Paso, Texas, und Ciudad
Juarez, Mexiko, und entschließen uns zu einem Abstecher in die mexikanische
Schwesterstadt, die damals noch nicht als Drogenkapitale und eine der
gefährlichsten Städte der Welt verrufen ist wie zum gegenwärtigen Zeitpunkt,
dem 23.1.2012., an dem ich diese Story abschließend formuliere. Die Brücke
besitzt an beiden Enden Zollhäuschen, an denen man einige Cents für den
Übergang entrichten muss. Vom Rio Grande, dem Grenzfluss, sind wir
schwer enttäuscht. Wir sehen kaum etwas von dem wilden, großartigen
Gewässer, das man aus Wildwestfilmen kennt. Stattdessen plätschert ein
ärmliches, lehmiges Wässerchen durch eine mickrige Betonrinne.
Nach dem verschlafenen El Paso erscheint uns Ciudad Juarez sehr
lebendig. Dort brodelt ein Markt, auf dem Kisten voller Obst, Gewürzen, Eiern,
exotische, verführerische Düfte vor sich hin brutzelnder Teigwaren und
safiiger Fleischstücke, außerdem zahlreiche Eis- und Limonadestände die
Besucher zum Kauf verführen. Überall huschen zerlumpte lndianerjungen
herum, die Kaugummi oder Lose verkaufen.
An einem großen Platz ragt neben dem Polizeigebäude eine Kathedral hoch.
Auf ihren Stufen erbetteln lndianerinnen mit Kleinkindern in den Armen milde
Gaben. Aber die Frommen übersehen die Bettler meist.
Wir stärken uns in einer mexikanischen lmbissbude in Form einer
Holzbaracke mit scharfem, undefinierbarem Fleisch in roter Soße und
mexikanischem Bier. Dann treten wir in einem voll gepackten Bus den
Heimweg an.
In El Paso enıverben wir noch einige Kleinigkeiten in einem Supermarkt, der
sicherlich Mexikanern gehört, denn dort kaufen meist ihre Landsleute. Es
fehlen die Klimaanlage und die sterile amerikanische Sauberkeit. Vor dem
Laden sprich uns ein ärmlich gekleideter Indianer auf Englisch an: "Wollt ihr
Geld verdienen?" Wir tragen abgewetzte Reiseklamotten. Vielleicht glaubt er
deswegen, wir könnten eine Handvoll Dollar ganz gut gebrauchen. Und das
stimmt ja auch. Wir fragen: "Wie denn?" Auf leichte Art Geld zu verdienen,
davon träumen alle Naivlinge. Aber das schäbige Äußere des lndianers
verheißt keinesfalls eine üppige Goldader. Wir vermuten hinter seiner Frage
eher ein unredliches Ansinnen. Nach einigem schwer verständlichen
spanenglischen Gestammel: "Amigosl Madre mia! Mucho dinero for blood
without work! Todo very sure!" "Freunde! Meine Mutter! Viel Geld für Blut
ohne Arbeit! Alles sehr sicher!", teilt der etwas verdächtige Sendbote
obskurer Vampire uns mit: "Más l not explicar because of no have bastante
palabrasl" "Mehr ich nicht erklären, weil von nicht haben genug Wortel“ Aber
mit umständlicher, fast artistischer Gestik und Mimik sowie weiterem halb
verständlichen Sprachgeholper bringt er uns soweit, ihm zu folgen. Während
seiner kommunikativen Anstrengungen schweifen seine Blicke begehrlich
über unsere relativ teuren Fotoapparate.
Wir sind zwei, jung und kräftig. Obendrein benötigen wir Geld. Zudem ist der
lndianer vielleicht gar kein Gauner.
Er führt uns zunächst über eine breite verkehrsreiche Straße, in der
Benzingestank wabert, dann in ein schmutziges Viertel in der Nähe der
Grenze.
Auf den Balkonen ungepflegter Häuserblocks lärmen Kinder und bunt
schaukelt Wäsche träge in stickigen Hitzeschwaden.
Aus dem Nichts heraus donnert und blitzt es plötzlich. Innerhalb weniger
Minuten verwandelt ein Wolkenbruch die Straßen in eine Fluss- und
Seenlandschaft. Verbeulte Straßenkreuzer durchqueren sie mit behäbigem
Nicken und schieben ansehnliche Bugwellen vor sich her.
Pitschnass erreichen wir eine halbverfallene Bruchbude. Eine Lampe glimmt
karg über der Haustür und erhellt schwach ein Schild: "Pedro Villas und Co.,
Gesellschaft für Blutspenden", wohl eine jener zwielichtigen Blutbanken, die
in El Paso und Ciudad Juarez anscheinend Hochkonjunktur haben, gemessen
an dem Vorkommen der Gebäude, die ähnliche Hinweise tragen.
Der lndianer deutet auf das Schild und meint: "Liter 5 Dollar." Na ja, immer-
hin! Vielleicht serviert man uns wenigstens noch ein reichliches Essen wie
nach freiwilligen Blutspenden in Deutschland. Aber Vorfreude auf einen
unerwarteten Geldsegen? Davon kann angesichts des fragwürdigen Gesell-
schaftssitzes kaum die Rede sein. Doch warten wir ab!
Wir tasten uns mit dem lndianer ein unbeleuchtetes, übel riechendes
Treppenhaus empor und landen in einem Verschlag, der einer Hundehütte
gleicht, dem Wartezimmer. Der lndianer verschwindet und nach kurzer Zeit
tritt ein riesiger, dürrer Mexikaner ein. Er bleckt die großen Zähne, bringt aber
trotzdem kein Lächeln zu Stande.
Durch die geöffnete Tür erkennen wir ein düsteres Behandlungszimmer, voll
gestopft mit Blutflaschen und Nadeln. Alles wirkt so schmutzig wie der Kittel
des Mexikaners. Er bittet uns noch etwas zu warten. Er hat noch Kundschaft.
ln dem dämmrigen Raum sitzen zwei elend herunter gekommene Indianer,
die unserem Fremdenführer ähneln. Sie schwanken auf ihren Sitzen hin und
her. Eine ungeheure Schnapsfahne weht bis ins Wartezimmer.
Wir erwägen, angesichts der schauderhaften Realität lieber auf die fünf
Dollar zu verzichten.
Da erhebt sich einer der Indianer und torkelt uns entgegen. Gerade noch so
eben findet er Halt auf einer der instabilen Sitzgelegenheiten neben uns.
Doch unmittelbar danach plumpst der blutleere Patient auf die dreckigen
Bodenfliesen. Gleichzeitig dringt lautes Stöhnen lang gezogen aus dem
Nebenzimmer.
Es ist aus mit unserer Beherrschung! Finanznot und Geldgier? Alles
vergessen! Blut gegen Geldl? Niemals! Wir schleichen uns von dannen und
tappen leise das Treppenhaus hinunter. Ich stolpere, lande mit großem
Getöse auf einer defekten Stufe, rapple mich aber schnell wieder auf.
Der Mexikaner brüllt. "Bleibt doch!" Wir hören nicht auf ihn. Er flucht:
"Maricones! Ojos de culo! Puercos!" "Schwule! Arschlöcher! Schweine!" Die
Schimpfkanonade nützt nichts!
lm McCoy erzählen wir abends einem jungen Amerikaner von unserm
Abenteuer. Er meint: "Oh, guys! Da habt ihr Glück gehabt. Schon wegen der
Hygiene! Manchmal zapfen die aber auch einfach mehr Blut ab. Deswegen
verkaufen meist nur Erniedrigte und Beleidigte, Trunkenbolde und
Obdachlose, Blut. Die Blutkäufer saugen die Ärmsten der Armen wortwörtlich
bis aufs Blut aus."
Wir sind noch einmal davon gekommen.




 

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Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Hartmut Wagner).
Der Beitrag wurde von Hartmut Wagner auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 15.01.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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