Maike Opaska

Tibet (Fortsetzung)

Jede Reise in den Tibet hat für mich etwas Traumhaftes, denn jeder Tagesmarsch führt in eine andere Landschaft, ein anderes Klima, eine andere Vegetation. Die Intensität der Farben und Formen verändert das Bewusstsein und erschließt auch unzugängliche Tiefen des Erlebens.

Regen, Nebel und Wolken verwandeln den Urwald, Schluchten, Abgründe, Felsen und Berge in eine Welt von unheimlich wechselnden, unwirklichen Formen. Gewaltige Wasserfälle stürzen aus unsichtbaren Höhen in ebenso unsichtbare, bodenlose Tiefen. Wolken über und tief unter dem sich aufwärtswindenden Saumpfad, aus dunkler Tiefe aufwallend und wieder niedersinkend, hie und da Ausblicke von atemberaubender Großartigkeit eröffnend, um im nächsten Augenblick alles wieder auszulöschen, als ob es nie dagewesen wäre.

Bäume von majestätischen Ausmaßen erschienen mir stets wie vielarmige Riesen mit langen, grauen Moosbärten, von Lianen umschlungen und mit zarten, hellgrünen Girlanden behangen, die sich von Baum zu Baum schwingen. In den niedrigen Regionen sprießen vielfarbige Orchideen und Farne aus Baumstämmen und Ästen, während ein undurchdringliches Dickicht den Boden verhüllt. Wolken, Felsen, Bäume und Wasserfälle schufen ein Märchenland, wie es der Vorstellung eines romantischen chinesischen Landschaftsmalers entsprungen sein könnte.
Und während meines Bewunderns bewegte ich mich höher und höher an steilen Bergwänden empor und hinterließ eine Wolkenschicht nach der anderen. Was gestern noch mein Himmel war, lag heute schon zu meinen Füssen als ein weißes, brodelndes Wolkenmeer unter dem die Welt der Menschen verborgen lag. Es war wie eine Reise durch verschiedene Himmelswelten zu einem allen Vorstellungen entzogenen, fernen Jenseits.

Der Aufstieg schien kein Ende zu nehmen - selbst der Himmel schien nicht mehr die Grenze des Erreichbaren zu sein - und jeder Tagesmarsch enthüllte andersartige Landschaften, anderes Klima und andere Vegetationsarten.
Der wuchernde, feuchtwarme, von Blutegeln wimmelnde und des Nachts von Moskitos schwärmende, fieberschwangere tropische Urwald, in dem die Farne zur Größe von Bäumen wuchsen und Bambus wie grünes Feuerwerk, in elegant - gefiederte und graziös geschwungene Riesenstauden explodierte, wich den mehr nüchternen, aber umso freundlicheren Wäldern subtropischer und gemäßigter Zonen, in denen die Bäume ihre Individualität wiedergewannen und Blumen mit dem lichter gewordenen Unterholz und seinen blühenden Sträuchern wetteiferten bis schließlich die Blumen die Oberhand gewannen, um sich als leuchtend gelbe, orangefarbene und violette Teppiche unter den dunklen Nadelbäumen wetter-zerzauster alpiner Wälder auszubreiten.

Bald blieben auch diese hinter mir und meinem Träger zurück und wir traten in die subarktische Zone ein, in der nur noch Zwergkiefern, Latschen und Zwergrhonodendren neben Heidekraut, Moosen und Flechten in einer Umwelt titanischer Felsen, schneebedeckter Gipfel und tiefgrüner Seen überleben konnten, zwischen denen tiefhängende Wolken und plötzliche Sonnendurchbrüche ein wechselndes Spiel von Licht und Schatten schufen. Die Landschaft schien sich in einem Zustand dauernder Verwandlung zu befinden, als ob sie von Augenblick zu Augenblick neu erschaffen würde. Was noch vor eine Minute da war, war in der nächsten verschwunden und neue Formen traten an die Stelle der früheren.
Und dann kam das große Wunder, das mich stets von neuem ergriff, so oft ich die Grenzen Tibets auch schon überschritt: auf dem höchsten Punkt des Passes, auf den die Wolken in dunklen Massen zustürmten, öffnete sich der Himmel wie durch einen Zauberschlag, lösten sich auf und eine Welt leuchtender Farben unter einem tiefblauen Himmel enthüllte sich dem verwunderten Blick, während eine blendende Sonne die schneebedeckten Abhänge der anderen Seite aufleuchten ließ, daß das Auge vom Glanz geblendet war.

Nach den nebel- und wolkenverhüllten Landschaften Sikkims ging es fast über menschliches Vermögen, so viel Farbe und Licht in sich aufzunehmen. Selbst die tiefsten Schatten hatten eine unerhörte Farbintensität und die vereinzelten weißen Sommerwolken, die eilig im samtblauen Himmel den fernen purpurnen Bergketten zu schwebten, verstärkten mein Gefühl der Unendlichkeit und Tiefe des Raumes und der Leuchtkraft der Farben.
Wie viele Wanderer und Pilger vor mir, umwandelte ich feierlich den mit Gebetswimpel geschmückten Steinhaufen, der den höchsten Punkt des Passes und die Grenze Tibets markierte, fügte einen Stein zu dem Haufen als Zeichen der Dankbarkeit, dass mich das Schicksal sicher an diesen Ort geleitet hatte und als ein Versprechen, in Zukunft den eingeschlagenen Pfad weiter zu beschreiten und nicht zuletzt als einen Segenswunsch für alle Pilger, die nach mir an diesem Ort vorbeikommen würden.

Während meines Abstiegs ins Tschumbi-Tal war ich von unbeschreiblicher Glückseligkeit erfüllt. Bald wich der Schnee der Passhöhe vielfarbigen Blumenteppichen und stolzen Tannenwäldern, in denen Schmetterlinge über die Blumen des Waldbodens gaukelten und Vögel in den sonnendurchstrahlten Lichtungen umherschwirrten. In der klaren Höhenluft fühlte ich mich selbst beschwingt wie ein Vogel und konnte kaum meine Freude bändigen, obwohl ich wusste, dass ich bald wieder in die dunkle Schattenwelt auf der anderen Seite des Passes zurückehren und in die dampfenden, tropischen Dschungel hinabsteigen müsste. Aber ich war von Zuversicht erfüllt, dass ich früher oder später über den fernen Horizont hinaus folgen würde, über dem die strahlende Pyramide des heiligen Berges Tschomolhari, dem Thron der Göttin Dorje Phagmo, verheißungsvoll zu winken schien.
Und bald fand ich mich auch wieder auf dem Karawanenpfad, der mich in unbekannte Regionen jenseits des Himalayas führte.
Diesmal war mein Ziel der nordwestliche Teil Tibets, eine Tour von Yarkand Sarai in Srinagar, der Hauptstadt Kaschmirs nach Kargil in Baltistan. Zuerst führte mich mein Weg nach Leh, der Hauptstadt von Ladakh.
Die Tour nach Leh hatte fast einen ganzen Monat in Anspruch genommen, hatte mir aber so Gelegenheit gegeben, mich den klimatischen Bedingungen anzupassen und abzuhärten, indem ich unter freiem Himmel ohne Zelt nächtigte. Mein einziger Schutz gegen Schnee und Regen war eine Filzdecke aus Kaschmir und mein Schlafsack.

Ich war bereits zu müde um zu erkennen, dass sich über die Hauptkette des Himalayas ein Gewittersturm legte, als ich mich in meinem Schlafsack verkroch. Als ich am Morgen unter meinem schweren, von einer dicken Schneeschicht bedeckten und steif gefrorenen Schlafsack hervorlugte, konnte ich keine Spur von Rahula, meinem tibetanischen Träger und Begleiter entdecken - bis er ziemlich reduziert und zähneklappernd einem weißen Hügel entstieg, den ich für eine Schneewehe gehalten hatte. Wir hatten keine Gelegenheit uns ein einfaches Mahl zuzubereiten und kämpften uns nun zwei Tage durch den Schnee. Glücklicherweise ist das Wetter im Himalaya vorwiegend trocken und sonnig, - ja die Sonne war sogar noch intensiver als in Indien, obwohl man es nicht so sehr merkte, weil die Luft sehr kalt war. Ohne Sonnenbrandschutzsalben würde jedoch die Haut und die Lippen vom Gesicht blättern und schmerzhaft aufspringen.
Nun, die Schwierigkeiten der ersten Wochen waren längst überwunden. Ich war in jeder Weise akklimatisiert als ich nach Tschagn-thang aufbrach, dem Land der blauen Seen, der gold- und kupferfarbenen Berge, der grünen Talgründe und der weiten Steppen, in denen die Nomaden des Nordens mit ihren Yak- und Schafherden und ihren schwarzen Yakkhaarzelten leben. Ich war begierig, nun in die Regionen jenseits der großen Schneeketten vorzudringen, die sich zwischen dem Oberlauf des Indus und dem Karakorum-Gebirge erstreckten.
Ein Pass von über 6000 m Höhe lag vor mir. Mein Träger und ich folgten einem breiten, sanft ansteigenden Tal. Die Sonne, die seit endlosen Wochen unbarmherzig auf die vegetationslose Berglandschaft herniedergebrannt hatte, war seit dem frühen Morgen hinter schweren, dunklen Wolken verborgen, und ein kalter feiner Regen peitschte mir ins Gesicht. Alles hatte plötzlich ein unheimliches, düsteres Aussehen und das Tal, das in das Dunkel der Wolken hinaufführte und von den Felszähnen benachbarter Berge flankiert wurde, erschien mir wie der offene Rachen eines vorzeitlichen Ungeheuers. Mit einiger Besorgnis dachte ich an die kommende Nacht und ob ich am nächsten Tag heil dem Rachen dieses gefürchteten Passes entrinnen würde können.
Ein Schneesturm würde wohl das Ende meiner Reise bedeuten.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.03.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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