Renate Strang

Benedikts Traum

Die äußere Hülle ist zerbrochen. In einem Meer von Eierschalen und Dotter erblickt Benedikt das Licht der Welt. Tief füllt er seine Lungen mit der klaren Luft des Frühsommers, beglückt von ihrer wohltuenden Wärme und dem vielversprechenden Duft. Voll Vorfreude auf das Leben blickt er erwartungsvoll in den hellen Sonnenschein. Die ungewohnte Helligkeit schmerzt seine an Dunkelheit gewöhnten Augen. Er schließt sie schnell, um sie gleich wieder einen Spalt zu öffnen. Er ist glücklich. Endlich ist er frei. Schon lange hat Benedikt auf diesen Augenblick gewartet. In seinem kleinen Kerker hat er von der Welt geträumt, von seinen kommenden Abenteuern, seinem Freund dem Wind und dem Zug nach Süden mit seinen Artgenossen.

Benedikt räkelt sich wohlig, spürt wie die Sonne sein verklebtes Daunenkleid bescheint, wie sich jedes einzelne Federchen aufrichtet, nach Licht und Wärme strebt. Neugierig schaut er sich um in seiner Welt. Sie ist noch sehr beengt und reicht kaum über den Nestrand hinaus. Sein Herz jubelt beim Anblick des Blätterwerks der Bäume, das seine Sehnsucht nach der Ferne weckt. Er bewundert die bunten Blüten, die ihre Kelche weit den Schmetterlingen und Insekten öffnen, damit im nächsten Jahr neues Leben entsteht. Sein Blick folgt den weißen Federwölkchchen am blauen Himmel, die frei und unbeschwert ihre Bahnen ziehen. „Bald werde ich bei euch sein!“ Er lauscht dem Rauschen des Windes und weiß, dass er in ein paar Wochen auf seinem Rücken reiten wird. „Trag mich in die Freiheit des Himmels und der Sterne.“

In jeder Nacht seit seinem Schlüpfen träumt Benedikt davon, in die Welt hinaus zu fliegen. Mal sieht er sich als dunklen Punkt am fernen Horizont, der sich die Welt Flügelschlag für Flügelschlag erobert. Ein anderes mal

spürt er den Wind in seinem Federkleid, fühlt wie der Aufwind ihn gen Sonne schraubt und grenzenlose Freiheit schenkt.

Am Tag lauscht er den Geschichten der Stare, die von wahren Wundern da draußen erzählen. Von schönen und von erschreckenden Dingen. Von Häusern so hoch wie der Himmel, Wiesen so grün wie die Blätter der Bäume und Blumen so gelb wie die Sonne. Sie erzählen von Früchten, so herrlich süß wie die Speisen der Götter, von Tau auf duftenden Rosen und von Nebeln, die in der Morgendämmerung aus den Mooren aufsteigen. Sie erzählen von Menschen, die Vögeln im Winter Futter geben und im Sommer ihren Liedern lauschen.

Sie erzählen aber auch von Menschen, die Vögeln nachstellen, sie fangen und ihnen oft sogar das Leben nehmen. Sie berichten von Tauben in Verschlägen und Legehennen in dunklen Ställen. Ihm schaudert bei solchen Erzählungen. Und er ist voll Mitleid für die Artgenossen, denen das Schicksal Ketten statt Freiheit gab.

Die weit gereisten Stare berichten auch von Maschinen in der Luft, denen man ausweichen muss, von Fahrzeugen auf dem Land, denen schon manch ein Artgenosse zum Opfer fiel und von Mühlen im Wind, deren Lied den Tod verheißt. Das alles und viel mehr möchte Benedikt sehen. „Ich möchte wie einst Dädalus und Ikarus zur Sonne reisen, möchte mit dem Wind um die Wette fliegen und die Wunder der Welt bestaunen.“ Er hat so viele Träume, „wann bin ich endlich groß?“

Täglich wird Benedikt kräftiger. Man kann ihn förmlich wachsen sehen. Ungeduldig prüft er ständig, ob seine Schwingen ihn schon tragen, ob das Daunenkleid den Federn weicht. Die Eltern belächeln sein dauerndes Flattern, können ihn jedoch verstehen. Nur die Mutter ist ein wenig traurig

angesichts der Ungeduld. Denn er will fort. Er spürt ein Ziehen in seinem Herzen und ein Kribbeln im Bauch, die Sehnsucht nach der Ferne. Er will unabhängig sein, für sich selbst sorgen, sein eigener Herr und Herr der Lüfte sein.

„Himmel, Wind und Sterne, heute komme ich!“ Benedikt fühlt, es ist soweit. Noch einmal prüft er seine Schwingen. Er ist sicher, sie tragen ihn. Mit einem Triumphschrei stößt er sich ab und schwingt sich jubelnd in die Lüfte. Endlich wird sein Traum vom Fliegen wahr!

Kräftig schlägt er seine Flügel, fühlt sich jung und unbändig frei. „Wind ich komme und werde dir folgen, wo immer du mich auch hintragen magst.“ Die Freude währt jedoch nur ein paar Meter. Kaum begonnen, ist der Flug auch schon vorbei. Hart prallt Benedikt gegen ein Hindernis, stürzt wie ein Stein zur Erde herab. Verwirrt und benommen blickt er nach oben. Er versteht nicht, was mit ihm geschehen ist. Da sieht er zum ersten Mal bewusst den Maschendraht, an dem sein Flug zu Ende war. Wie ein Blitz trifft ihn die plötzliche Erkenntnis, und er schreit auf vor Zorn und Wut. Schlagartig begreift er, was es bedeutet, wenn die Mutter von seinem Geburtsort als „Voliere“ spricht.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.06.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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