Rolf Piotrowski

Ein seltsamer Schultag

Die Schülerinnen und Schüler eines Gymnasiums einer mittelgroßen Stadt in Nordrhein-Westfalen erlebten ihre Klassenlehrerin an diesem Morgen anders als sonst. Völlig anders! Ungewohnt und unvertraut. Fremd.

Frau Bering war in die Klasse gekommen, gehetzt um sich blickend, und hatte die Tür hinter sich geschlossen. Mehr noch: Sie hatte die Tür von innen abgeschlossen! Ein Vorgang, den die Sextaner nicht kannten und von dem sie auch nicht wussten, dass er überhaupt durchführbar war. Sie hatten nie auf den Schlüssel geachtet, der von innen im Schlüsselloch der schweren Holztür des Klassenzimmers steckte.

Die Lehrerin, Frau Bering, eine 44jährige, sympathische, große schlanke Frau, war bei allen Schülern gleichermaßen beliebt. Sie war warmherzig, verständnisvoll und aufrichtig. Sie war die „gute Seele“ des Gymnasiums. Nicht nur mit schulischen Belangen wandten sich die Schüler an Frau Bering, sondern sie hatte auch stets ein offenes Ohr für die anderen Sorgen und Nöte der Lernenden: sowohl die der noch jungen Schüler als auch die der fast erwachsenen Gymnasiasten. Und stets hatte sie eine Empfehlung parat.

Entweder gab sie den Schülern einen pragmatischen Lösungsvorschlag mit auf den Weg oder sie schlichtete auf diplomatische Art und Weise Konflikte zwischen den Schülern. Darüber hinaus hatte sie auch immer ein offenes Ohr für die Schüler, die Probleme im Elternhaus hatten. Und es gab etwas, das die Lehrerin immer für ihre Gymnasiasten hatte: Zeit!

Das gewohnte morgendliche Zeremoniell war an diesem Mittwoch ausgeblieben. Üblicherweise kam Frau Bering in die Klasse, vollzog mit ihrem linken Arm eine weit ausladende Geste, wobei ihre zahlreichen Armbänder aus Silber ein unverwechselbares Geräusch verursachten (in der rechten Hand trug sie ihre schwarze Aktentasche) und begrüßte die Schüler mit einem fröhlichen „Guten Morgen!“, woraufhin die auf diese Weise Begrüßten den Wunsch an Frau Bering im Chor erwiderten: „Guten Morgen, Frau Bering!“

Dabei ließ die Klassenlehrerin ihren Arm sinken, wobei sich die Armreifen wieder klangvoll am Handgelenk der Lehrerin einfanden.

Eines der Rituale, die man zumeist erst wahrnimmt, wenn sie ausbleiben und man sie vermisst.

Heute war alles anders. Auch das „Guten Morgen, Frau Bering!“ der Klasse klang heute anders, denn es war augenscheinlich, dass dies kein guter Morgen für die Lehrerin war.

Einige der Mädchen und Jungen blickten sich gegenseitig fragend an, zuckten mit den Schultern und begannen zu flüstern.

Frau Bering schien ihre Schüler nicht zur Kenntnis genommen zu haben.

Sie nahm auf dem Stuhl ihres Lehrerpultes Platz, ließ die Aktentasche neben sich fallen und blickte nervös über die Köpfe der Schüler hinweg auf die hintere Wand des Klassenzimmers, an der die große Uhr hing: Es war acht Uhr.

Die zehn- oder elfjährigen Jungen und Mädchen blickten erwartungsvoll zu ihrer Klassenlehrerin. Frau Bering saß mit einem maskenhaften Gesicht wie versteinert an ihrem Schreibtisch und blickte ins Leere. Ihre langen dunkelbraunen Haare waren ungekämmt und verbargen einen Teil ihres Gesichtes. Hinter diesem Vorhang hervor hörten die Schülerinnen Melanie und Katja, die unmittelbar in der Schulbank vor dem Pult der Lehrerin saßen, die ängstlich geflüsterte Bitte: „Guckt bitte mal, ob da draußen jemand vor der Tür steht.“ Mit den beiden Ringfingern ihrer Hände schob Frau Bering den Haarvorhang beiseite. Das vertraute Geräusch der Silberreifen war leiser als sonst. „Melanie, bitte!“, flüsterte Frau Bering, „sei so lieb!“

Die zehnjährige Schülerin blickte in das starre Gericht ihrer Lehrerin. Keine Emotion war ablesbar. Frau Bering sah Melanie auch nicht an, sondern sie blickte durch die Schülerin hindurch. „Bist du so lieb, Melanie?“

Melanie drehte ihren Kopf nach hinten und suchte Blickkontakt zu Leon. Er war der Klassensprecher der Sexta und hatte seinen Platz in der vierten Reihe. Der Junge hatte die geflüsterte Aufforderung der Lehrerin nicht hören können und blickte entsprechend unwissend und fragend zurück.

Melanie stand von ihrem Stuhl auf und ging auf Leon zu. Melanies Banknachbarin Katja sah ihr schweigend hinterher. „Ich soll gucken, ob da draußen jemand vor der Tür steht!“, informierte Melanie den Klassensprecher leise.

„Was ist mit ihr?“, flüsterte Leon. Melanie zuckte mit ihren Achseln. „Ich weiß nicht“, gab sie zurück, „ich soll nur nachsehen, ob jemand vor der Tür steht!“

Leon erhob sich und begleitete seine Mitschülerin zur Tür des Klassenzimmers. Melanie schloss auf und Leon öffnete die Klassentür. Er trat in den Gang hinaus. „Nein, hier ist niemand!“, berichtete er Melanie und das Mädchen gab die Information an die vor ängstlicher Erwartung zitternde Lehrerin weiter.

Es war menschenleer und still im langen Flur. Man hätte vermuten können, alle übrigen Klassen hätten an diesem Tag unterrichtsfrei. Kein Lehrer war mit Büchern oder Unterrichtsmaterialien unterwegs, kein verspätet eingetroffener Schüler rannte über den Flur. Es war still. Sehr still.

„Bitte!“, rief Frau Bering von ihrem Lehrerpult, „schließt die Tür wieder ab und bringt mir den Schlüssel!“

Leon kam zurück in das Klassenzimmer, schloss die Tür ab und übergab Melanie wortlos den Schlüssel. Langsam ging er zu seinem Platz zurück und setzte sich. Ihm wurde klar, dass im Unterrichtsraum etwas Denkwürdiges vor sich ging, etwas Außergewöhnliches und für Leon Faszinierendes, das er zu diesem Zeitpunkt noch nicht definieren konnte, aber ausschlaggebend für sein späteres Berufsleben sein sollte. Aber das wusste er zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

Im Klassenzimmer wurde getuschelt und geflüstert, aber niemand verließ seinen Platz. Die Schülerinnen und Schüler waren überfordert mit der Interpretation des merkwürdigen Verhaltens ihrer Lehrerin, und einige der Mädchen und Jungen schienen sich nicht wohl mit dem Gedanken zu fühlen, gerade heute mit Frau Bering in einem Raum eingeschlossen zu sein. Unsicherheit, Betroffenheit und Furcht spiegelte sich in den Gesichtern der Schüler wider.

Frau Bering streckte bettelnd ihre Hände nach dem Schlüssel aus, den Melanie ihr entgegen hielt. Die Hände der Lehrerin zitterten wie die einer Drogenabhängigen, die ungeduldig ihre erlösende Dosis in Empfang nehmen will. „Danke, Melanie!“, sagte Frau Bering heiser, ohne einen Blickkontakt zur der Schülerin aufzunehmen. Sie nahm den Schlüssel entgegen. „Wie spät ist es?“ fragte die Lehrerin ihre Schüler jetzt mit lauter, ängstlich gefärbter Stimme. „Ist es schon neun Uhr?“

Frau Berings Frage nach der Uhrzeit steigerte die Betroffenheit und das Befremden bei den Schülern nochmals und die Verwunderung schlug in Bestürzung um, da niemand eine günstigere Sicht zur Wanduhr hatte als Frau Bering selbst. „Es darf nämlich heute nicht neun Uhr werden!“, rief Frau Bering, „auf keinen Fall!“

Beherzt und sich seiner Verantwortung als Klassensprecher bewusst, stand Leon von seinem Stuhl auf und wandte sich mit der Frage an die Lehrerin, von der er annahm, dass sie allen Schülern unter den Nägeln brannte: „Frau Bering, was ist mit Ihnen? Warum müssen wir uns einschließen?“

Thomas flüsterte seinem Banknachbarn Jens leise zu: „Ich glaube, sie ist verrückt geworden!“
„Haltet die Klappe!“, zischte Leon.

Die Lehrerin zuckte kurz zusammen, als hätte Leons Frage sie aus einem Tagtraum gerissen. „Was soll denn sein?“, fragte sie kaum hörbar zurück. „Als ob du die Schritte draußen im Flur nicht hören würdest! Um neun Uhr ist es soweit! Ich werde geholt!“

„Was ist um neun Uhr?“, fragte Leon intuitiv sachlich, „um neun Uhr haben wir Mathematik mit Herrn Mahler.“ Er hielt das Mathematikbuch hoch, den Umschlag mit dem Aufdruck: „Welt der Zahlen“ in Richtung der Lehrerin haltend.

Frau Bering blickte an allem, was sich vor ihr befand, vorbei ins Nichts: „Um neun Uhr kommen sie mich holen“, flüsterte sie, „ich weiß nicht, wer mich wohin holen wird, aber um neun Uhr ist es soweit! Ich kann nicht mehr dagegen ankämpfen. Ich bin zu schwach! Ihr müsst mir helfen!“

Leon stand immer noch vor seinem Pult. „Frau Bering ...?“ Er drehte sich um und sah zur großen Wanduhr hinter sich. „Es ist 8.15 Uhr!“, sagte er leise in Richtung der Lehrerin. Frau Bering reagierte nicht. Sie hatte sich in sich zurückgezogen. Sie schien sich auf das, was ihrer Befürchtung nach um neun Uhr passieren sollte, vorzubereiten. Sie hatte sich offenbar ihrer imaginären Befürchtung ergeben und sich mit dem, was geschehen würde oder geschehen sollte, abgefunden.

Wie ein Mensch, der für sich den Entschluss gefasst hat, seinem Leben ein Ende zu setzen und sich damit seinem unerträglichen Leidensdruck zu entziehen, sich für die Art und Weise der Durchführung entschieden hat und auch den genauen Zeitpunkt dafür festgelegt hat, entspannten sich ihre Gesichtszüge plötzlich.

Für einen Lebensmüden bedeutet der Gedanke an den Tod das Ende seines meist langen Leidensweges. Eine Erleichterung und eine Erlösung, für die er bereit ist, mit dem Leben zu bezahlen. Für den Betreffenden ein angemessener Preis. Eine Endlösung.

Frau Bering starrte auf den Schlüssel in ihrer linken Hand. „Wenn die wüssten …“ Das Satzfragment ging in einem überspannten Lachen unter. „Ich habe gesehen, dass die mich beobachten! Schon lange! Da hinten auf der Fensterbank neben dem Aquarium sitzt zum Beispiel einer von ihnen!“

Die Köpfe der Schüler drehten sich in die Richtung, in der die Lehrerin einen der Beschatter vermutete. Auf der Fensterbank neben dem Aquarium stand eine 20 Zentimeter hohe Grünpflanze. Sonst nichts.

 

Melanie, die immer noch neben dem Schreibtisch ihrer Lehrerin stand, wandte sich erneut an Leon. Sie ging auf den Jungen zu und er kam ihr auf halbem Weg entgegen. Die Schüler flüsterten mittlerweile miteinander, angstvolle Vermutungen wurden ausgetauscht. „Frau Bering ist durchgedreht!“, mutmaßte Robert. Sein Bankkollege Daniel erwiderte besorgt: „Und wir sind hier mit ihr eingeschlossen!“ Jens ergänzte aus der Bank dahinter: „Und sie hat den Schlüssel!“

Im schmalen Gang zwischen den beiden Bankreihen standen sich Melanie und Leon gegenüber. „Was ist denn um neun Uhr?“, fragte Melanie leise. „Ich habe Angst!“ Leon gab zu: „Ich auch!“

Tobias, der allein an einem Zweiertisch in der letzten Bank saß, direkt unter der Wanduhr, tippte hektisch die ersten Buchstaben einer Nachricht in sein Handy. Die Tastentöne waren deutlich hörbar. Auch für Frau Bering, die bis zu diesem Zeitpunkt vor sich hin gekichert hatte.

„Das Handy weg!“, schrie sie hysterisch „sofort!“

Erschrocken legte Tobias das Handy auf sein Pult. Ihm war bekannt, dass Frau Bering keine Mobiltelefone im Klassenzimmer duldete, und sie hatte schon einige Exemplare konfisziert. Tobias hatte Angst; nicht nur um sein neues Mobiltelefon, sondern auch um Frau Bering, seine Mitschüler und um sich selbst! Er wollte eine SMS-Nachricht abschicken. Einen schriftlichen Notruf auf die Handys derer senden, deren Mobilnummern sich im Speicher seines Handys befanden. An alle! Nur raus hier, dachte Tobias.

Leon stand immer noch im Gang des Unterrichtsraums. Er vermochte es nicht, sich dem Szenario zu entziehen. Er „überblickte“ sozusagen die Situation, die gerade eine Wendung erfuhr.

Die Tastentöne aus dem Mobiltelefon lösten in Frau Bering einen übergangslosen Stimmungswechsel aus. „Ihr also auch!“, schrie sie unbeherrscht durch das Klassenzimmer. Sie sprang von ihrem Stuhl hoch, der dabei zu Boden kippte, und riss die Schublade vor sich auf. Mit einer Rolle Klebeband in der Hand, ja, fast damit bewaffnet, ging sie auf Tobias zu. „Geh mir aus dem Weg!“, herrschte sie Leon unterwegs an und stieß den Jungen beiseite. Jetzt stand Frau Bering vor dem Platz von Tobias. „Steh auf!“, schrie sie.

Im Klassenzimmer war es noch stiller geworden. Auch das Flüstern hatte aufgehört.

Tobias war völlig eingeschüchtert aufgesprungen. Frau Bering nahm Tobias’ Stuhl und zog ihn unter die Wanduhr. Der Junge nahm sein Handy vom Pult und wollte es zurück in seine Hosentasche stecken, als es ihm von Frau Bering aus der Hand gerissen wurde. „Das tust du nicht!“, tobte sie und stieg mit dem Handy in der rechten Hand auf den Stuhl. „Ihr steckt alle mit denen unter einer Decke!“ Sie starrte die Uhr an, mit der sie sich jetzt auf Augenhöhe befand: 8:30 Uhr.

Die Silberreifen am linken Handgelenk der Lehrerin klingelten vertraut, als sie weit ausholte und mit Tobias’ Handy die Glasabdeckung der Wanduhr einschlug. Laut klirrend zersplitterte die runde Glasscheibe. Eine Scherbe schnitt in die Hand der Lehrerin. Bluttropfen fielen auf den Stuhl, auf dem Frau Bering mit zitternden Beinen und in schwarzen Schuhen stand. Sie warf das Handy hinter sich. Krachend und in mehreren Einzelteilen landete es auf Manuels Pult. „Ihr kriegt mich nicht!“, kreischte Frau Bering.

In der linken Hand hielt sie die Klebefilmrolle, mit der rechten Hand zog sie einen fünf Zentimeter langen Streifen davon herunter und versuchte, ihn mit ihren Zähnen abzutrennen. „Den Abroller habt ihr versteckt, aber ich schaffe das auch so!“, keuchte sie.

Alle Schüler hatten sich auf ihren Stühlen umgedreht und beobachteten das anscheinend kopflose Gebaren ihrer Lehrerin. Jeder Einzelne versuchte, dem Spektakel an der Wanduhr einen erklärbaren Sinn oder ein Motiv zuzuweisen. Bei einigen entwickelte sich eine perfide Lust am Entsetzen, eine Sensationsgier, wie man sie auf Autobahnen erleben kann, wenn Autofahrer besonders langsam an Unfallstellen vorbeifahren, um die grausamen Szenen genau zu beobachten und sich später an dem Entsetzen regelrecht zu weiden. Einige Schüler hatten aber auch Mitleid mit ihrer Klassenlehrerin. Im Klassenzimmer bot sich eine Sinfonie dar, die aus Angst, Bestürzung, Entsetzen, Panik und Mitleid bestand! Eine Komposition, von der Leon sich gefangen nehmen ließ.

Dominierend unter allen Schülern im Klassenraum war aber die Angst vor dem nächsten Akt des Dramas im Klassenzimmer, dessen Vorlage Frau Bering zeitgleich schrieb, inszenierte und in dem sie parallel die Hauptrolle spielte.

Melanie drehte sich kurz nach vorn und sah den Schlüssel zum Klassenzimmer auf dem Lehrerpult vor sich liegen.

„Es darf nicht neun Uhr werden!“, flüsterte Frau Bering wieder. Endlich hatte sie den transparenten Klebestreifen abbeißen können. Sie ließ die Kleberolle zu Boden fallen und drückte mit beiden Daumen den Klebestreifen auf den Minutenzeiger der Wanduhr: Der Zeiger war an seiner zwischenzeitlich eingenommenen Zwanzig-Position am weißen Ziffernblatt fixiert.

„Geschafft“, keuchte die Lehrerin erschöpft.

Melanie hatte derweil von Frau Bering unbemerkt die Tür des Klassenzimmers aufgeschlossen. Die ersten Schüler verließen schweigend und erleichtert den Unterrichtsraum. Alle blickten noch einmal zurück: Frau Bering war vom Stuhl gestiegen und hatte abgekämpft und geradezu erschlagen darauf Platz genommen. Ihr Oberkörper war zusammengesunken, die Arme baumelten kraftlos von den Schultern. Die Lehrerin begann zu weinen.

Nur noch zwei Schüler befanden sich im Klassenzimmer bei Frau Bering. Leon und Tobias. Sie hatten sich zwei Stühle genommen und saßen ihrer Klassenlehrerin schweigend gegenüber. Völlig verändert sah Frau Bering aus. Und sie weinte bitterlich. Und sie zitterte. Tobias angelte umständlich nach seiner Lederjacke, die über der Rückenlehne des Stuhls hing, auf dem die Lehrerin jetzt saß. Behutsam legte er seine Jacke über ihre Schultern. „Wer war das?“, wimmerte Frau Bering und wies auf die Glasscherben vor ihren Schuhen.

Die Jungen waren hilflos. Sie wussten nicht, wie sie sich verhalten sollten, aber ihnen schien, als sei ihre sprachlose Anwesenheit nicht falsch. Deshalb blieben sie.

Sie harrten aus, bis zwanzig Minuten später ein Notarzt und zwei Sanitäter ins Klassenzimmer kamen.

Leon und Tobias wurden gebeten, das Klassenzimmer zu verlassen. „Tschüss, Frau Bering!“, sagte Leon. Es war ein Wunsch. Ein Teil in ihm ahnte, dass der morgige Unterricht ohne Frau Bering stattfinden würde. „Bis morgen!“, flüsterte die Lehrerin erschöpft, „und komm nicht wieder zu spät zum Unterricht!“

Tobias griff nach der Hand der Lehrerin. Sie war eiskalt. „Wiedersehen, Frau Bering, und – und gute Besserung!“ Die Lehrerin erwiderte den Händedruck nicht. Der Junge ließ die kraftlose Hand los und entdeckte Blut auf seiner rechten Handfläche. „Entschuldigung! Es tut mir leid!“.

„Danke gleichfalls, Tobi!“, flüsterte Frau Bering, „ich kaufe dir ein neues Handy, gleich morgen! Versprochen!“

„Das hat Zeit!“, beruhigte Tobias die Lehrerin und wunderte sich, wieso Frau Bering ihn mit „Tobi“ ansprach, die Version seines Vornamens, deren Verwendung nur sehr guten Freunden vorbehalten war.

Als Leon und Tobias auf dem Schulhof standen, blickten sie hinauf zum Fenster ihres Klassenzimmers. Ihre Mitschüler standen schon um den Rettungswagen auf dem Pausenhof versammelt. Die offizielle Pause hatte noch nicht begonnen. „Du, Tobi“, sprach Leon seinen Freund an, „ich glaube, ich weiß, was ich mal werden möchte! Das mit dem Flugzeugpiloten wird nichts! Ich denke, das wäre mir auf Dauer zu langweilig ...“

Neun Uhr! Pause.

Schlagartig füllte sich der Pausenhof mit Gymnasiasten. Aus den beiden großen Flügeltüren des Schulgebäudes strömten die Schüler lärmend und schubsend ins Freie. Alle hatten ein Ziel: Der Notarztwagen, der mitten auf dem Pausenhof stand. Es gab etwas zu sehen!

„Ich glaube, alles wird irgendwann langweilig!“, antwortete Tobias nach einer Weile nachdenklich.

„Nicht alles!“, entgegnete Leon. „Es gibt etwas, das nie langweilig wird!“
„Nämlich?“, fragte Tobias.

Beide Jungen sahen immer noch zu dem Fenster hinauf, hinter dem sie ihre Lehrerin und das Rettungsteam vermuteten.
„Menschen!“ antwortete Leon.

Die Flügeltür des Schulgebäudes öffnete sich. Frau Bering wurde, gestützt von zwei Sanitätern und in Begleitung des Notarztes, zum Rettungswagen geleitet. Händeringend und hilflos folgte der Schulleiter, Herr Roth, der Delegation.

„Ich wusste es!“, stammelte die Lehrerin, als sie an Leon und Tobias vorbei geführt wurde. „Neun Uhr. Ich habe es euch gesagt!“

Ihre Prophezeiung hatte sich erfüllt.

„Was meinst du mit ‚Menschen’?“, nahm Tobias die Unterhaltung mit Leon wieder auf und blickte der eskortierten Lehrerin hinterher.
"Menschen werden nie langweilig!"
© Rolf Piotrowski

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 12.04.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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