Elke Gudehus

Meine 10 Seiten

Ohne darüber nachzudenken, schrieb ich.
Ich schrieb bis mich morgens kleine Sonnenstrahlen kitzelten.
Die Nacht war vorrüber, ohne dass ich es mit einem Atemhauch bemerkt hätte.
Ich schrieb mein Leben.
Jeden Buchstaben, jedes Wort, jeden Satz.
Ich schreibe mein Leben wie jemand anders seine Einkaufsliste schreibt.
Ein Stück Hoffnung, 200g Liebe, ein Bündel Lebensfreude.
Jetzt, kurz bevor ich die letzten Sätze schreibe, bin ich nicht mehr als 10 Seiten eng beschriebenes Papier.
Mein Leben steht auf den Blättern vor mir.
Buchstabe an Buchstabe aufgereiht, wie auf einer Perlenschnur.
Während des Schreibens habe die Zeit vergessen.
Ist es schon Mittwoch und ist es noch Mai?
Wo geht das heute hin und wo kommt das morgen her?
Kälte ist mir die Beine hinaufgekrochen.
Vielleicht ist es auch nur Angst.
Doch Angst wovor?
Ich habe mein Leben abgeschlossen, es gibt nichts mehr, dass ich fürchten könnte.
An meinem Fenster sehe ich Blätter vorbeifliegen, die sich, unter der Last von Schmetterlingen, gelöst haben.
Schemenhaft, fast schlafwandelgedanken gleich gleiten sie vorrüber.
Den Wind, welcher sie umher treibt hört man nicht.
Alle Geräusche gehen im Ohrenozean unter.
Ich frage ihn, ob es richtig ist, was ich mache.
Seine Antwort bleibt aus.
Ich könnte mir ausmalen, was er denkt, doch will ich das?
Von einen Tag auf den anderen ist mir bewußt geworden, dass ich mich verloren habe.
Ich habe mich verloren wie jemand anders seine Brille.
Ich merkte, dass ich nach mir selbst suchte.
Mein Ich war mir abhanden gekommen.
Deswegen schreibe ich mein Leben.
Ich schreibe es, weil ich hoffe, mein Ich in den Zeilen wieder zu finden.
Ich suche nach ihm, ich jage es, wie ich als Kind Regentropfen jagte, die an der Fensterscheibe herunterliefen.
In allen Zeilen die ich schrieb, suchte in diesen über meine Kindheit am meisten nach mir selbst.
Ich war unbeschwert, konnte lachen, konnte lieben, konnte leben.
Ich konnte leben.
Ich hoffte, meinen Füßen eines Tages das Fliegen beibringen zu können, doch die Zeit die ich auf dem Boden liegend verbrachte war länger, als die in der Luft.
Ich malte mir in Regenbogenfarben aus, wie die Welt später sein würde.
Heute habe ich zum malen nur noch Schwarz, das ich in Tupfen an den Himmel malen kann.
Ich warf meine Uhr in die Luft, um die Zeit fliegen zu sehen, doch sie flog zu schnell.
Und nun sitze ich hier mit meinem Leben, dass auf zehn eng beschriebene Seiten passt.
Ich habe nie viel erwartet.
Doch vielleicht war selbst das noch zu viel.
Ich weiß nicht, was ich machen soll.
Der Wind bleibt stumm und selbst die Schneeflocken, die sich mir als Kind auf die Nase setzten und immer so redselig waren, schweigen.
Ich lese mein Leben.
Ich lese es immer wieder.
Manchmal weiß ich nicht, ob ich eingesperrt bin oder ausgesperrt.
Bin ich in meinem Leben gefangen oder habe ich es noch nie gesehen?
Ich sehe den Stift an, der noch warm von meiner Hand, auf dem Tisch liegt.
Wieso gibt er mir keine Antworten?
Er ist es, der schreibt.
Ich halte ihn nur.
Zwischendurch leuchtet etwas auf, so dass ich denke, mein Ich gefunden zu haben, doch dann muss ich feststellen, dass es nur die Reflektion der einbrechenden Sonnenstrahlen in meiner Pupille war.
Plötzlich streift eine Brise mein Gesicht und läßt das Papier leicht flattern.
War das ein Zeichen?
War das die Antwort des Windes?
Ich warte auf einen erneuten Windzug, doch er bleibt aus.
Dennoch weiß ich, was der Wind mir sagen wollte.
Ich schreibe den letzten Satz.
Ich schreibe mein Leben zu Ende.
Anschließend küsse ich die Blätter.
Jedes einzelne.
Ich gehe zum Fenster und öffne es.
Die Luft riecht nach Regen, wie sie es in den Tagen meiner Kindheit so oft getan hat.
Ich erinnere mich an einen Satz, den ich sagte, als ich neun war.
Wir spielten “Was wäre ich?“
Eine meiner Freundinnen fragte mich, was ich wäre, wenn ich ein Geruch wäre.
Ich sagte: “Wenn ich ein Geruch wäre, wäre ich der Geruch des Regens.“
Ich habe diesen Geruch über Jahre hinweg in einer Schublade meiner Erinnerung aufbewahrt, doch nie herausgelassen.
Und nun habe ich ihn vor mir, sehe, spüre, rieche, schmecken und fühle ihn.
Ich werde eins mit ihm und plötzlich weiß ich, dass ich gefunden habe, wonach ich gesucht habe.
Ich habe mich selbst wieder gefunden.
Mein Ich war die ganze Zeit bei mir, ich wollte es bloß nicht sehen.
Es war in dem dunklen Schrank meiner Erinnerung verstaut.
Es lag die ganze Zeit über in einer der hintersten Schubladen.
Ich nehme die Blätter von Tisch auf und gehe wieder zum Fenster.
Ganz langsam nehme ich das erste, lasse es im Wind wehen und dann fliegen.
Ich sehe ihm nicht lange hinterher, denn das nächste wartet schon.
Nach und nach fliegt mein altes Leben aus dem Fenster.
Als das letzte Blatt seinen Flug beginnt hauche ich ihnen einen Luftkuss zu, atme noch einmal den Geruch des Regens ein und schließe das Fenster.
Ich werde mein neues Leben beginnen.
Hier und jetzt.
Und diesmal wird es nicht auf 10 Seiten passen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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