Helga Eberle

Totenhemd

Tante Rosa schreibt in ihrem Brief nach Freiburg: „Habe nichts zu vererben, aber für mich selbst mache ich jetzt ein Testament.“

Mutter liest zweimal diesen Brief und beschließt dann sofort mit uns Kindern nach Straßburg zu fahren. „Tante Rosa hat eine Puppenstube als Wohnung, alles ist klein aber fein“, bereitet sie uns auf den Besuch dort vor. Für uns zwei Kinder ist dies die erste große Zugreise. Wir staunen über die große Stadt, das viele Militär, welches Fahrzeuge rund um den Bahnhof und das Münster aufgestellt hat. Vom Bahnhof bis zum Wohnviertel, wo die Tante wohnt, laufen wir zu Fuß. Dann - an einem kleinen Platz - ein paar alte, aber schöne Häuser, die teilweise Treppenaufgänge von außen haben, - finden wir die Wohnung von Tante Rosa.
Oben an der Treppe steht sie, die schönen, weißen Haare schlicht um den Kopf gelegt, von oben bis unten in schwarz gekleidet, und breitet die Arme aus, um uns zu drücke Fahrzeuge n. Sie zieht uns in ihre Wohnung herein und hält den Zeigefinger bedeutungsvoll vor ihren Mund: „Leise, leise, du verstehst“, nickt sie zu Mutter. Von da an wird von den zwei Frauen in der Wohnung nur noch gemurmelt. „Passt ja auf, dass ihr nichts kaputt macht“, warnt Mutter. Uns Kinder interessiert das alles nicht, höchstens das Wiegemesser, mit dem Tante Rosa die Kräuter für das Mittagessen klein macht. So etwas haben wir zu Hause nicht.
Auf der alten Kommode mit einem großen Spiegel dahinter stehen zwei kleine Porzellansoldaten in der mausgrauen Uniform vom ersten Weltkrieg. Sie haben einen Schlitz im Tornister. Diese zwei “Sparkassen“ bekommen wir Kinder als Andenken geschenkt.
„Komm, Anna, flüstert Tante Rosa zu meiner Mutter, „schau meine selbst angefertigten Schätze an!“ Sie zieht Mutter in ihr Schlafzimmer. An den Wänden hängen zwei große Heiligenbilder in Goldrahmen. Außerdem gibt es Weihwasser in einer kleinen Schale vor einem Porzellanengel. Davor bleibe ich stumm stehen. Drei Fotos schwarz gerahmt hängen über einem Nachttisch. Mutter erklärt leise, dass diese hübschen Mädchen Kinder von Tante Rosa waren, der Soldat sei der Vater der Kinder. Alle sind sie tot, die Kinder an Schwindsucht gestorben, der Mann im ersten Weltkrieg für das Vaterland gefallen.
Tante Rosa steht mit Mutter vor einer weißen Kommode. Jetzt wird die oberste Schublade der Kommode quietschend geöffnet, und Mutter ist entzückt über die kunstvoll genähten und gestickten Tischdecken. „Oh wie schön, oh wie schön“, stößt sie immer wieder leise aus.
„ Jetzt zeige ich dir das Allerschönste“, strahlt Tante Rosa vor Freude und öffnet mit Hilfe von Mutter die unterste Schublade. Da liegt ein Paket in weißes Seidenpapier eingepackt. Tante Rosa wickelt es ein wenig auf: „Hier schaut, das ist mein Totenhemd – auch selbst genäht. Darauf freue ich mich jetzt schon, wenn ich das mal anziehen darf.“
Wir Kinder sind verblüfft, denn wie kann die Tante sich auf den Tod freuen? Sie ist doch nicht krank und sogar putzmunter. Hat Tante Rosa nur einen Spaß gemacht, um uns zum Lachen zu bringen?
Mutter schiebt uns zwei Kinder aus dem Zimmer und ich höre, wie sie sagt: „Aber Tante Rosa, wie kannst du so reden, das hat noch lange Zeit, du bist doch gesund.“

Das war im Sommer 1943 als wir Tante Rosa das erste und letzte Mal in Straßburg besuchten. Unser Vater war Soldat im benachbarten Kehl und konnte es ermöglichen mit uns das Straßburger Münster zu besuchen. Für mich, die ich gerade neun Jahre alt war, und auch für meinen ein Jahr jüngeren Bruder war die Reise nach Straßburg, wie eine Weltreise. Beeindruckt waren wir von dem Totenhemd, vom Glockenspiel im Münster und von den Kaufhäusern, in denen es zum Zähneputzen rosarote Putzsteine gab. Diese wurden später von uns zu Hause aus Lust nach was Süßem, was es ja nicht mehr gab, heimlich gegessen.

Im April 1944 kam Tante Rosa zu uns nach Freiburg, um meiner Mutter bei der Vorbereitung für die Erstkommunion von mir und meinem Bruder zu helfen. Wir hatten bis dahin nie Besuch, der bei uns übernachtete, weil wir dazu kein Gästezimmer hatten. Tante Rosa schlief im Bett meines Vaters neben Mutter, denn Vater war ja bei den Soldaten. Tante Rosa backte, putzte, kochte und eigentlich wollten wir sie auch nach der Kommunion am liebsten bei uns behalten, doch sie wollte wieder heim. Wir brachten sie noch an die Bahn und weg war sie. Wir sahen sie nie wieder.


Am 27. November 1944 wurde Freiburg bombardiert und wir flüchteten aus der Stadt. Erst im April 1945 kamen wir zurück in unsere Wohnung, die zum Glück nicht von fremden Leuten besetzt war. Vater erkundigte sich in Oberkirch im Renchtal bei Mutters Brüdern, die aus der Gefangenschaft zurück waren, ob sie Näheres über Tante Rosa und den Vetter Armand wüssten. Sie bemühten sich darum, was nicht einfach war.

Der Krieg war vorbei. Erst dann erfuhren wir die grausame Wahrheit: Armand der Vetter meiner Mutter, wohnte in Kehl. Er war während des Kriegs Mitglied der Resistance. Eine Woche vor Kriegsende war er gefangen genommen und zum Tod verurteilt worden. Er hatte jedoch Glück und wurde kurz vor Vollstreckung befreit. Sein erster Gang war zur Wohnung von Tante Rosa. Sie war nicht mehr da, die Wohnung war ausgeräumt.
Was war passiert? Armand erfuhr es schnell: Die alte, gute Tante Rose war in ein Konzentrationslager im Süden von Frankreich deportiert worden. Armand fuhr sofort dorthin und konnte sie, todkrank, herausholen und ins Krankenhaus in Straßburg bringen. Sie verstarb am nächsten Tag.

Und das Testament? Es wurde nichts mehr gefunden, weder Testament noch das Totenhemd, alles war weg.


Meine Eltern und wir Kinder reden noch oft über das Testament, mit dem Tante Rosa erreichen wollte, dass man ihr im Tod das selbstgefertigte, feine mit Spitzen besetzte Totenhemd anzieht. Als Kind konnte ich dies nicht verstehen.
Doch der Wunsch sich für die Reise ins Jenseits schön zu machen, ist uralt. Schon die Pharaonen präsentierten sich dort mit Gold und Juwelen.
Tante Rosa war eine einfache Frau, nur eine Weißzeugnäherin. Sie hatte kein Gold und keinen Schmuck. Doch ihr Talent hat sie dafür genutzt, sich das kostbare Totenhemd zu nähen. Dieses ist ihr gestohlen worden. Wie sie in den Sarg gelegt worden ist, weiß niemand. Es war Krieg und die ersten Tage danach. Alles war noch nicht normal.
„Kleidung ist nur äußerlich, auf das Innere des Menschen kommt es an“, meint Mutter.
Wir stimmen ihr zu, denn Tante Rosa war eine herzensgute Seele.
Wir werden sie nie vergessen.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 06.12.2017. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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