Helga Asmuß

Das kann nicht wahr sein!

 
„Ja, stimmt genau, das waren ihre Worte!“, weiß die große Schwester Erika, als ich sie heute diesbezüglich frage, um die Fakten zu sichern. Meine Geschichten sind nämlich nicht frei erfunden – sie sind so wahr, wie sie sich eben in meiner Erinnerung eingenistet haben. Wobei kleinere Ausschmückungen hier und da gelegentlich gestattet sein mögen….

Es war mal wieder Weihnachten. Weihnachten l948. Blockade. Schwere Zeiten, besonders was Essen und Heizen anbelangte. Aber als Kriegskinder waren wir ja mit dieser Situation aufgewachsen. Wir kannten nichts anderes. Nun muß ich ein ganz besonders hungriges Kind gewesen sein, denn ich war stets auf Nahrungssuche, habe genascht, wo es nur möglich war und nach Kräften geräubert, sehr zum Ärger von Mutter und großer Schwester. An ihre Maßstäbe von Disziplin und gutem Benehmen reichte ich leider nicht heran. Und ich konnte prima betteln!

Was würde Weihnachten wohl bringen? Meine Vorstellungen waren bunt, die Hoffnung auf Süßes riesengroß und das Warten fiel mir, ach, so schwer!

„Einmal wirst du auch richtigen Pfefferkuchen versuchen, Liselchen, das ist das Köstlichste zum Fest!“, versprach mir die Mutti und dabei lächelte sie so lieb auf mich herab, dass mir ganz warm wurde im Bauch vor lauter Vorfreude. Richtig glücklich sah sie bei dem Gedanken an dieses wunderbare Weihnachtsgebäck aus.

Aber mal ganz ehrlich – Pfefferkuchen, wie unsere Mutter ihn zu Weihnachten aus lauter merkwürdigen Zutaten herstellte, war nicht nur beinhart, sondern auch staubtrocken. Den musste man ganz lange lutschen, um ihn zu bewältigen. Stippen war uns ja leider verboten, das gehörte sich nicht. Mach ich ja auch nicht mehr – bin ja schon sechs! Weihnachten ist nun mal das schönste Fest im Jahr und Pfefferkuchen sind eben knallhart. Was die Großen wohl an diesem Zeug finden? Egal, Vorfreude ist auch schon was. Ich kann ja derweil immer mal von Schokolade träumen…..

Die Großen aber hatten l948 ganz andere Sorgen. Sicher dachten sie öfter an Feuerholz oder Kohle, als an Pfefferkuchen. Den Kleinen indes wärmte die Freude auf das schöne Fest das Kinderherz, fast wie ein Ofen….

Bis dann ganz unerwartet diese Einladung kam. Eine Einladung nur für Kinder. Man lud uns zu einer großen Weihnachtsfeier in Zehlendorf ein. Das ist weit weg von Siemensstadt – zu weit zum Laufen. Dort wohnen die amerikanischen Soldaten, erzählte uns die Mutter, und die hatten offenbar ein Herz für Kinder. Nett, dass sie mich ausgesucht hatten! Erika sollte auch mitgehen. Aber Eltern müssten draußen warten. „Und was ist mit Peterle?“, fragte ich. „Das Peterle ist noch viel zu klein, das bleibt bei mir. Aber ihr zwei, ihr dürft euch freuen. Da gibt es sicher Pfefferkuchen und andere schöne Sachen zum Essen. Ist das nicht wunderbar? Was für ein Glück für euch!“, antwortete sie und dann strahlte sie wieder so. Das machte wohl der Gedanke an die Pfefferkuchen.

Voller Spannung und Vorfreude machten wir uns auf den weiten Weg. Die Dunkelheit war etwas unheimlich, Lichter gab’s in der Zeit nicht so reichlich. Aber ich war ja an Muttis Hand, und die Erika lief an meiner Seite. Da konnte eigentlich nichts passieren. Und in der
S-Bahn war es auch schön warm. Nur draußen war es so kalt und ich hatte mächtig Hunger.

Vor der großen Halle schließlich hatten sich viele Leute versammelt. Die Kinder schienen alle viel größer zu sein als ich. Sie waren mir völlig fremd und in mir kroch so ein merkwürdiges Gefühl hoch. Da soll ich nun reingehen, ganz ohne Mutter….

Aber zum Fürchten blieb gar keine Zeit. Die Mutter geleitete uns bis zur Tür und dann schubste uns die Menge einfach hinein. Ich weiß nicht, wie es passieren konnte, aber plötzlich war Erika im Menschengewühl verschwunden, und die Leute schoben mich einfach vorwärts, ob ich mochte oder nicht. Mit sechs Jahren ist man ja noch nicht so groß, und ich sah zunächst nur lauter Rücken vor mir. Die Drängelei war echt beängstigend. Aber dann erreichte ich eine lange Tischreihe zu meiner Linken. Davor standen Stühle und auf jedem Platz ein Teller mit einem schwarzen Schokoladenherz drauf. Daneben immer eine Tasse und die weiß gedeckten Tische sahen sehr einladend aus. Im Gewühle versuchte ein mollige Dame mit weißer Schürze den vielen schubsenden Kindern einen Platz zuzuweisen, was ihr irgendwann wohl auch gelang, denn nach der heftigen Drängelei saßen schließlich alle Kinder auf einem Stuhl. Ich auch. Mittendrin. Ganz allein. Ohne Mutter, ohne Schwester. Irgendwie verloren. Die schöne Vorfreude war fast verflogen und ein mulmiges Gefühl hatte sich breit gemacht. Wie wird das nun weitergehen? Was machen wir jetzt? Man muß ja wohl warten. Sehnsüchtig hefteten sich derweil meine Augen an die Schalen auf der Tischmitte, die mit den schönsten Keksen gefüllt waren. Ob das jetzt auch Pfefferkuchen sind?

Das dicke schwarze Schokoladenherz da vor mir auf meinem Teller starrte mich so herausfordernd an. Ob man das schon nehmen darf? Vorsichtig schielte ich zu meinen Nebensitzern. Aber die rührten sich nicht. Warten fiel mir doch so schwer! Aber antippen, das darf man bestimmt. Behutsam stippte ich mit dem Zeigefinger auf das Herz. Will nur mal fühlen, wie hart das ist. – O, ziemlich hart. Wird wohl Pfefferkuchen sein. Ach, meine Fingerspitze ist ja ganz braun! Muß ich ablecken. Hm, reichlich bitter. Nee, das esse ich lieber nicht. Ich warte auf die bunten Kekse. Da kommt ja wieder die Dame mit der weißen Schürze. Jetzt schleppt sie eine große Kanne und gießt in jede dicke Tasse heißen Kakao. Ganz weißer Dampf steigt hoch. Das ist viel zu heiß zum Trinken, fürchte ich. Schade, Kakao ist was Feines. Aber ich will mir ja nicht gleich den Mund verbrennen.

Lärmen und Lachen erfüllte den Riesensaal. Aber jetzt übertönte eine mächtig laute Stimme diesen Lärm. Sie kam von irgendwo her. Ich konnte den Menschen nicht sehen, der da zu uns sprach, aber allmählich ebbte der dolle Lärm ab und gespannt horchten alle zu. Mal erzählte auch ein anderer etwas, aber das kann nicht so wichtig gewesen sein, denn ich habe es mir nicht merken können. Nur dass es mächtig lange gedauert hat und mich doch eigentlich nur die Kekse interessiert haben. Dann aber endlich die erlösende Aufforderung: „So, Kinder, und jetzt dürft ihr zugreifen!“

Von allen Seiten reckten sich Hände nach den Keksen. Was für ein Gewusel! Die schmissen sich förmlich über den Tisch. Ich hab’s ja auch versucht. Aber ich hatte gar keine Chance – eben wieder mal zu klein und zu ängstlich, musste ich traurig feststellen. Ehe ich mich versah, waren die Keksschalen leer – so ein Pech aber auch! Da blieb nur das Pfefferkuchenherz, aber das wagte ich nicht noch einmal zu berühren. Und der schöne Kakao dampfte noch immer! Schokoladenguß bitter, Pfefferkuchen hart, Kakao zu heiß - und was mach ich jetzt?

Ich suchte die Schwester. Meine Augen wanderten die Tischreihen entlang, soweit sie eben reichten. Doch da war keine Schwester. Wie dumm! Aber jetzt kam wieder die Stimme. Die forderte uns auf, Weihnachtslieder mitzusingen. Und schon ertönte eine bekannte Melodie. Alle sangen mit so gut sie konnten. Meine Güte, viel zu laut! Und die Musik dröhnte über dem Stimmengewirr, dass mir angst und bange wurde. Das sind doch Weihnachtslieder. Die sind doch heilig! Solche schönen Lieder darf man doch nicht so schrecklich laut singen! Offenbar gab es in diesem Raum so etwas wie Lautsprecher. Die kannte ich zwar selbst noch nicht, aber ich hatte davon gehört. Die Sirene im Krieg war auch so laut, und das war sehr bedrohlich. Irgendwie kam mir das jetzt in Erinnerung. So laut sollten Weihnachtslieder nicht klingen! Zu Hause mit der Mutter in der festlichen Wohnstube und im Glanz der Kerzen, da sind Weihnachtslieder sehr schön und friedlich….

Schließlich wünschte uns die Stimme ein frohes Weihnachtsfest, und dann standen alle auf einmal auf. Jetzt ging das Drängeln wieder los. Man stürmte auf den einzigen Ausgang zu, und ich musste einfach mit. Das Pfefferkuchenherz blieb auf meinem Teller zurück und den Kakao hätte ich jetzt wohl auch trinken können. Zu spät, dumme Liese!

Aber an der Tür, sieh da! Da stand doch ein echter Weihnachtsmann mit einem riesigen Kartoffelsack! Da waren ganz viele Päckchen drin, und jedes Kind sollte eines nehmen. Jetzt laß ich mich aber nicht wegschubsen! Das Päckchen will ich haben! Mein Kampfgeist war erwacht. Und triumphierend hielt ich das kleine Geschenk fest. Draußen würde ich nachsehen.

Wenn ich bloß die Mutter wieder finde in dem Gedränge! Aber wie gut, sie stand gleich an der Tür und griff rasch nach meiner Hand. Gerettet! Und Erika fanden wir auch bald. Mein Herz schlug ganz wild. Bloß schnell weg hier! Langsam verlief sich die Menge. Meine Güte, was für ein Weihnachtsfest!

Die Dunkelheit umfing uns mit wohltuender Stille. Nur der Schnee knirschte unter den Füßen, und die Kälte kroch an den Beinen hoch. Die langen Strümpfe wärmten kaum – die reichten nämlich nur bis kurz übers Knie.

Ich war nicht sonderlich gesprächig, obwohl die Mutter ganz begeistert schien und sich sehr interessiert nach dem schönen Fest erkundigte. Ob mir denn die Pfefferkuchen geschmeckt hätten und was es sonst noch gab?

Ich kann ihr ja jetzt wohl nicht sagen, wie das so bei mir gelaufen ist, oder? Daß ich keinen Pfefferkuchen abbekommen hatte und das Herz nicht mochte und der Kakao zu heiß für mich war. Wenn ich ihr das alles sagen würde, dann wäre sie sicher sehr traurig. Sie hatte sich doch so gefreut für mich. Nee, da schweig ich lieber. Erika erzählt ja alles.

Mir ist richtig kalt. Und der Weg ist so weit. Aber jetzt muß ich doch mal was sagen, obwohl ich es eigentlich gar nicht will. Darum kommen die Worte auch nur ganz leise: „Ich habe so’n Hunger, Mutti!“

„Also, das kann ja nun wirklich nicht wahr sein!“. stammelt sie fassungslos.

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