Olaf Lüken

Der erfundene Prolet

Die deutsche Wirtschaftsgesellschaft scheint unfähig, trotz hoher technischer Standards zusätzlichen sozialen Fortschritt zu generieren. Der Wohlstand für die Allgemeinheit sinkt. Wie denn auch, wenn in einer globalisierten Wirtschaft Geiz geiler ist, weil geistige Werte wie soziale Tugenden auf den Müllhaufen der Geschichte landen. Unübersehbar sind die allgemein fehlenden Aufstiegs- und Zukunftsperspektiven, die einhergehen mit einer zunehmenden Ungleichbehandlung in großen Bereichen der Gesellschaft.

Ernüchterung, Entmutigung und Ermüdung sind das Resultat. Und das in einem Land, das den Ökonomiegedanken zur ge- sellschaftlichen Norm erhoben hat und die Kanzlerin das Wort von der marktkonformen Demokratie redet. Bis zur marktkon formen Kultur ist es ein kleiner Schritt. Blicken wir nach China. Dort dient alles der Konformität. Wer sich nicht  staatsorien- tiert bewegt, fällt  auf und darf sich der besonderen Beobachtung durch staatliche Stellen und ihren Beobachtungsme- ssern sicher sein. Weiß die Kanzlerin nicht, dass ihr Land seit Jahren dabei ist, letzte Tugenden aufs Spiel zu setzen ? Coronaland hin, Coronaland her. Ist Deutschland nicht eine Art europäische USA -, ein  Kunterbuntland für  VIELE ? Sitzen wir nicht da, wie  Champagnerkorken vor der Flut (Eugen Drewermann).
 

In Zeiten zunehmender Ungleichbehandlung wächst bei vielen Menschen der Wunsch nach gesellschaftlicher Nivellierung. Es entsteht bei den Menschen der Wunsch, dass Klassengegensätze nicht kränkend und für alle sichtbar abgebildet werden. Ihre Sinnstifter, Macher und Manipulateure bedienen seit Jahren ein Publikum,das nicht zur Individualität herangezogen wurde.Die Alternative ? Deutschlands junge Konsumenten werden in eine permanent wohlige Stimmung, ja "never-ending-Partybespaßung" gehalten. Dauerunterhaltung auf allen Kanälen und ein medial betreutes Denken, bis zum Schwinden  sämtlicher Verstandeskräfte. Die Konsequenz daraus ist ein schleichender Freiheitsverlust als Preis für die Nicht-Verwirklichung ureigener Karrierewünsche und Ziele.

War  Bildung früher ein allgemein hochgeachtetes Karriereziel, so gilt heute ausschließlich jener "Erfolg", der auf dem Bankkonto sichtbar wird.Täglich. Hast du ein hohes Einkommen, dann bist du ein anerkannter Teil der Gesellschaft, wenn auch keiner der Bildungselite, die sich schon seit Jahren anschickt, aus der Geschichte zu verschwinden. Hedgefonds-Spekulanten und Fußballspieler können davon kein garstig Lied singen. Das ewige Mantra ? Wachstum, Wachstum und nochmals Wachstum. Wer daran zweifelt, höre auf das merkelsche Ersatz-Mantra: "Wir schaffen das!"

Der Wunsch nach  Gleichmacherei wurde zuerst von der  Medienindustrie aufgenommen, dann bedient und befriedigt. Werbelügen finden selbst auf dem Laufsteg statt: Achten Sie einmal  auf die Antworten, wenn  deutsche Stars und Sternchen vor laufender Kamera nach privatenTagesereignissen befragt werden. Da antwortet nicht das Idol zum Publikum, sondern die Nachbarin zur Nachbarin. Immer persönlich, immer nah und nachbarschaftlich vertraulich. Die ach-so-gute-Freundin-von-nebenan. Für  ABCD-Promis sind selbst banale Dinge immer einen Twitter wert. PR ist Öffent-lichkeitsarbeit, mit der ein Star für  sein Produkt und die hinter ihm stehende Firma aktive Werbung betreibt. Die Antworten auf Fan-Fragen werden antrainiert und entsprechend auch aalglatt formuliert. Getreu dem Motto: Sprich Gutes und schaffe neuen Bedarf. Ich bin Produkt und Marke zugleich.  Prominente als Objekte abrufbarer Begierden. Werbenutten schlechthin. Public Relation hieß vor 80 Jahren Propaganda. Und Propaganda klinkte sich jahrhundertelang in die neuronalen Netzwerke eines jeden Individuums, öffnete damit Tür und Tor für die Manipulation der Massen. Propaganda, Reklame und Werbung sind Waffen in den Händen derer, die die Öffentlichkeit täuschen, austricksen, lähmen und fremdbestimmen wollen. Werbung sagt den Menschen täglich, dass sie erst dann sparen, wenn sie viel Geld ausgeben. Propaganda erinnert uns an ihre einstigen Protagonisten: die Hitlers, Goebbels, Streichers und Görings. Heute sind es Narzissten vom Schlage eines Donald Trumps bzw. Bolsonaros, die unaufgefordert und vor allem frech, die Massen für ihre eigenen Zwecke manipulieren. Zu den weltweiten Fremdbestimmern gehört zweifellos  die Medienindustrie, vor allem der Bereich Entertaining.

Der Medienindustrie ist es schon vor Jahren  gelungen, das Bild vom Bürger mit Vorbildfunktion, nachhaltig zu verkit- schen. In den Medien sitzt seit Jahren der   Stand-up-Comedian als Star auf dem Altar eines  zeitgemäßen Menschen- bildes. Zu den heute vielfach Umjubelten gehören Ego-Charaktere wie Mario Barth, Guido Cantz, Oliver Pocher, Atze Schröder und ähnliche Witzbolde. Dieser Riege folgen sprachprollige Soapfiguren wie die Geissens, Wollnys und Reimanns. Wer davon nicht genug bekommen kann, zappt sich ins Dschungel Camp, schaut beim Bachelor rein oder lenkt sich  beim Frauentausch ab und schaut zu, wie das ganze Land mit  DSDS Jahr für Jahr den Superstar sucht, wie Heidi  Klum bei GNTM ihre dürren Geschöpfe über den Laufsteg jagt. Solche Shows sind so grotesk und zeitnervend wie das nervtötende Kochgequatsche bei Lafer, Lichter und Proleto. Und - hätten wir von dieser Blödelscheinwelt nicht genug, gibt es als Edelkirsche "Rares für Bares" mit Zwiebelschnauz "Hotte" (Horst Lichter). Angelächelt werden wir,  belogen, betrogen, getäuscht und verarscht. Heiter und mit Musik (Ingeborg Bachmann). Wir verplempern für Politiker, Lobbyisten und drittklassigen Entertainern kostbare Lebenszeit. Corona macht uns deutlich, wie der weitere epidemische Kampf zwischen Konsum und Krankheit ausehen wird, wenn vor den Kamelen ihre Antreiber das Sagen haben. Wie kam es zu einer solchen Wende, dass die Medien heute ihr ganz große Spiel spielen ?

Der Inbegriff des Filmschauspielers als Vorbild für unsere Gegenwart ist der amerikanische Filmschauspieler Bruce Willis, vielen bekannt in seiner Rolle als New Yorker Underdog-Polizist. Immer ein Haudrauf und motherfuck-fluchender-Held.  Er besticht durch muskulöses Gehabe und ist absolut geschmacksneutral. Er trägt einen Kapuzenpulli, ein T-Shirt und fläzt sich breitbeinig in der Rolle des unrasierten Randalierers durch die Szene, als Markenidol urbaner Unterschicht. Erinnern Sie sich noch an dieEdelkommissare Horst Tappert oder Erik Ode? Das war einmal. Abgelöst wurden sie vom halb verwahrlosten Kommissar  und ewiggestrigen Junggesellen Horst Schimanski und seinen ebenfalls recht prollig aussehen- den Nachfolgern. Eleganz im Kostüm deutscher Ordnungsmacht schöpft seit einigen Jahren Verdacht. Unsere Ideale verkörpern Sozialabsteiger vom Schlag eines Georg Wilsberg. Einst ein studierter Jurist, verlor er seinen Job, um als Detek tiv und Buchantiquar einigermaßen finanziell zu überleben. Nehmen Sie den einzel- und draufgängerischen Kommissar  Thiel, ein Ex-Hamburger und Sankt Paulianer, den es mit seinem Vadder nach Münster verschlagen hat. Seine Liebe ge-hört dem Fußballsport. Wilsberg und Thiel sind immer in Aktion. Thiels Vadder ist ein in die Jahre gekommener Taxifahrer mit Junkieerfahrung.Nicht zu vergessen unseren Antipoden und schrulligen Professor Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne, Rechtsmediziner, Narzisst und Lebemann mit deutschtümelnder Akademikergesinnung. Da haben wir sie wieder: Der Akademiker als Ärsche der Gesellschaft. Nicht zu vergessen, die neurotische und ständig qualmende  Staatsanwältin Wilhelmine Klemm. Beide, Kommissar Wilsberg und Thiel, werden dem Fernsehzuschauer als die  wirklichen  Underdogs unserer Gegenwartskultur hingestellt. Endlosbespaßung für karrierefreie Dauerverlierer und Hirntote. Paradoxerweise haben 43 Prozent eines Jahrgangs heute ein Abitur. Die Mehrheit von ihnen studiert. Ein gutes Drittel verlässt die Uni aus den unterschiedlichsten Gründen. Auch der Nachwuchs muss in unseren Tagen sehr schnell lernen (digital) und hat ent- sprechend zu funktionieren. Und was kommt dann ? Wie steht es um die Karriereaussicht für Jugendliche aus einfachem Hause ? Nicht gut. Eher Pech gehabt, es sei denn, Mutti und Vati haben Geld und  ausreichend gute Beziehungen. Dann klappt es auch mit der UNI. Eine Karrieregarantie gibt es dennoch nicht. Garantiert. Das Resultat ?

Gepflegt wird von den Medienvertretern das Bild eines Menschen, der roh, unbehauen, vor allem kulturfern und erdver- bunden ist. Der Mann, grobschlächtig, mit aufgekrempelten Ärmeln und einem gestählten Bizeps. Abgebildet wird also das Ideal des edlen Wilden, der von der Zivilisation weder erobert noch verdorben werden konnte. Ungebildet und unverbildet und damit ungeschlacht. Der Prolet als ewiger Sieger der Geschichte. Immer kerngesund und stets zeugungsfähig. Was aber will uns der ganze Mummenschanz vom edlen Wilden sagen ? Aus dem Malocher längst vergangener Zeiten ist mittlerweile ein IT-Spezialist geworden. Auch die Frau ist schon lange kein dekorativ anzusehendes Mäuschen mehr, das sich dem stets potenten Männchen jederzeit fröhlich unterwirft.

Wir erleben seit Jahren die dunkle Seite einer von den Medien einst hochgelobten Wissensgesellschaft. Der Aufstand richtet sich heute gegen die Zumutung lebenslangen Lernens, das einhergeht mit einem gefühlten Erfolgs- und Bildungs- terrors, ohne staatliche Zusage auf Karriere und materieller Absicherung. Der anfängliche Unmut in der Bevölkerung steigert sich zum Intellektuellenhass. Und weil Gott tot ist,  können wir unserem Ärger nur unzureichend Luft verschaffen. Wir sind arm geworden. Innerlich und am Geldbeutel.Menschen, die uns heute ihre Armut offen zeigen, ohne sich dabei zur Schau zu stellen, bezeichnet der wohlhabende Rest gern als vulgär.

Vulgär ist aber der Bürger in der Verkleidung eines Filmschauspielers, Sängers oder Fußballerspielers, der zu Zwecken der Anbiederung oder Steigerung seines Machotums öffentlich sich als Prolet geriert. Vulgär ist der verbeamtete Kommissar, der in der Öffentlichkeit zum Underdog stilisiert wird. Vulgär sind die Atzes, Marios, Lafers und Lichters, die vom Fernsehen dafür bezahlt werden, dass sie sich - zusammen mit den Fußballhelden - als unsere Freunde geschmeidig anbiedern, die sie in Wahrheit nicht sind, nie waren. Vulgär ist vor allem die Lüge, die mit der medialen Inszenierung "Wir sind alle Proleten" Beifall und Nachahmer findet.  

(c) Olaf Lüken (2017)
Erschien in der  Zeitschrift  "Junge Welt" (2017)

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.01.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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