Ich arbeitete als ehrenamtliches Mitglied in einer mittelgroßen Gemeinde. Zu meinen Aufgaben gehörte es, älteren Mitbürgerinnen und Mitbürgern Zeit zu widmen. Zeit, um aus einem Buch vorzulesen, kleinere Reparaturen im Haus auszuführen, auch mal ein Essen zu kochen oder gemeinsam spazieren zu gehen. Manchmal reicht es völlig aus, den Berichten und gelebten Alltagsgeschichten zuzuhören. Zuhören zu können, zähle ich zu den ganz großen Lebenskünsten. Ich habe die Namen der Beteiligten bewusst verändert, die Lebens- geschichte, die dahintersteckt, aber umso klarer aufgezeichnet.
Da ist Freund Manfred J. Manfred trägt einen alten und verschlissenen Mantel. Seine Schuhe, vor zwei Monaten in der "Kleiderkammer" für zehn Euro gekauft, zählen zu den wenigen weiteren Kleidungsstücken, die er sein Eigen nennt. Seine Wohnung ist klein, muffig und feucht. Die Möbel haben noch den sparsamen Charme der 70er Jahre. Zum Teil sind sie recht ordentlich abgeschabt. Die Elektrogeräte funktionieren auch nur zum Teil. "Ich hätte mir als junger, kräftiger Mann nie vorstellen können, dass ich im Alter arm und einsam werden würde", sagt Manfred. Dabei hatte sich sein Leben so vielversprechend entwickelt. Der Sankt Augustiner hatte eine Ausbildung als Dachdecker abgeschlossen und war von seinem Betrieb übernommen worden. Auch privat mochte Manfred nicht klagen. Er lernte Gerda kennen, mit der er sich bald vermählte. Das Paar hatte mit Julia eine elfjährige Tochter, ein munteres, fröhliches und sehr aufgewecktes Mädchen, dass in ihrer Umgebung sehr beliebt war. Alles schien perfekt. Dann kamen mit brachialer Gewalt die ersten Schicksalsschläge. Manfred fiel eines Tages vom Gerüst, erlitt einen schweren Arbeitsunfall und lag wochenlang im Krankenhaus. Seinen Beruf konnte er nicht mehr ausüben. Die meisten Arbeitsstellen verlor er schnell, weil er sich immer wieder krankmelden musste. Dann schlug das Schick- sal ein weiteres Mal zu. Frau und Tochter starben bei einem Verkehrsunfall. "Davon habe ich mich nie wieder erholt", sagt Manfred. "Ich fiel in eine tiefe Trauer und in ein tiefes Loch (Depression). Alles war hoffnungslos.", Manfred hat sich einem Seniorenkreis angeschlossen und neue Freunde gewonnen. Allerdings kann er sich von der Grundsicherung im Alter keine Extras leisten. "Zu Weihnachten wünsche ich mir eine neue Jacke und vielleicht ein paar schicke Schuhe", sagt Manfred zu mir. Ganz leise. Kein Mensch will wie Anton aus der Tonne herumlaufen. Gut aussehen will der Mensch. Warum? Er will auch seine Mitmenschen ehren.
Sie hat sich ihr Leben lang um andere Menschen gekümmert. Ruth B. hat früh geheiratet und einige Jahre glücklich mit Ehemann Hans zusammengelebt. Er war Elektromeister, und Ruth arbeitete als Verkäuferin. So konnte sich das Paar gemeinsam ein klein wenig Wohl- stand leisten. Am schönsten waren unsere Reisen. Wir hatten zwar nicht das Geld für Fernreisen, aber uns hat es in Österreich oder in Südtirol immer gut gefallen", sagt die knapp 80-jährige. Doch plötzlich änderte sich alles: ihr Vater erlitt einen Herzinfarkt und war auf Hilfe angewiesen. Kurze Zeit später wurde ihre Mutter ebenfalls ein Pflegefall. Ruth musste ihren Beruf aufgeben, und das Ehepaar nahm die Eltern zu sich. Ruth pflegte ihre Eltern fast fünf Jahre lang. Nachdem sie verstorben waren, wollten beide an ihr früheres Leben anknüpfen. Dann folgte der nächste Rückschlag. Bei Hans wurde eine chronische Krankheit diagnostiziert. Ruth pflegte ihn zu Hause, bis er starb. Seit knapp zehn Jahren lebt Ruth allein. Sie musste aus ihrer alten Wohnung ausziehen. Miete und Nebenkosten waren zu teuer. Ruth bekommt eine kleine Alters- und Witwenrente. "Aber im Alter brauche ich nicht mehr so viel", sagt sie bescheiden. Sie habe sich lange geschämt, um Hilfe zu erbitten.Nun hat sie sich einen Ruck gegeben und eine Wohlfahrtsorganisation umHilfe gebeten."Mein Kühlschrank ist reichlich alt und hat Aussetzer. Wenn ich ein intaktes Gerät bekommen könnte, wäre das mehr als Gold wert", sagt Ruth.
Sonja R. wuchs als Halbwaise auf. Ihre Mutter erhielt eine Witwenrente und zog ihre drei Töchter ganz allein auf. Geld war immer knapp. Doch dann begegnete sie ihrem Traummann. Siegfried P. war ein fröhlicher und lebenslustiger Mensch. Sie bekamen einen Sohn. Plötzlich erkrankte Siegfried schwer und starb. Sonja arbeitete in einer Weingummifabrik und ging abends putzen. Der Sohn geriet auf die schiefe Bahn. "Er kann nichts dafür." Sie sei ja nie für ihn da gewesen, hatte keine Zeit, neben der vielen Arbeit. Sie hatte sich einmal ein schönes Rentenleben erhofft - mit ihren Mann im eigenen Häuschen. "Ich habe auch immer von Enkelkindern geträumt und was wir dann alles unternehmen können", sagt sie. Tatsächlich muss sie heute von einer sehr schmalen Rente leben. "Ich muss aufstocken, obwohl ich all die Jahre ohne Hilfe ausgekommen bin", murmelt sie kaum hörbar vor sich hin. Ihr ganzer Traum: "Noch einmal möchte ich mit einem Rheinschiff nach Koblenz zum Kaffeetrinken fahren." Heute bekommt jeder zweite Rentner in der Republik weniger als 800 Euro von seiner Rentenversicherung. Netto, natürlich.
(c) Olaf Lüken (2018)
Erschien in der Dezemberausgabe "Querkopf" - ein überregionales Obdachlosenmagazin (Dez.2018)
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 25.03.2018.
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