Thomas Zangerl

Ben

Tapestart, Jan. 22, 2003, recorded at 17.25 (5.25 pm)

Neben mir befand sich Rob.
Es war ja nicht so, dass Rob und ich nichts zu tun gehabt hätten. Ganz im Gegenteil. Als stolze, hochbeschäftigte Bürger unseres exzellenten Vaterlandes erfreuten wir uns maximaler Produktivität.
Es gab den Gamecube.
Neben dem Gamecube befanden sich massenweise noch nicht einmal angespielte Wahnsinnsgames, die sich noch unserer kritischen Kontrolle unterziehen mussten. Ich meine, wir schuldeten der Welt einfach unsere objektive Beurteilung jedes dieser innovativen und durchaus anspruchsvollen Ballergamemeisterwerken.
Dann gab es da noch den Plasmafernseher.
Unsere kritische Beurteilung erstreckte sich auch auf Talkshows, welche sich durch die äußerst komplexe thematische Behandlung von Inhalten weltpolitischen Interesses widmeten, wie z.B. „Mein Freund ist ein Arschloch. Wie komme ich von ihm los?“
Bei unserem umfassenden Tagesprogramm war es natürlich unmöglich, dem nachzugehen, was der ordinäre Pöbel eine „anständige Beschäftigung“ nennt, da unsere produktive Kompetenz auf unserem Aufgabengebiet ausgelastet war.
Wir lebten. Und wir lebten gut. Und zufrieden.
Bis zu dem Tag, an dem alles, aber auch wirklich alles anders kam.
Nämlich, an dem Tag, an dem Rob mit dem uralten PC angetanzt kam. Der brachte wirklich Fortschritt in unser Leben. Und wir begannen auch wirklich Fortschritte mit seiner Benützung zu machen. An einem Tag, es war kein besonderer, oder doch, genau genommen war es sogar ein sehr besonderer, gelang mir ein einschneidender Lichtblick, der den Weg der Dinge veränderte.
Wir hatten in tage- und nächtelanger Arbeit endlich herausgefunden, wie das Ding zusammengesteckt wird.
Das heißt, man muss das Problem von einer anderen Warte aus betrachten: Zuerst beanspruchte uns das Unterfangen, den Stromanbieter davon zu überzeugen, dass wir liquid wären ebenso wie zahlungswillig und uns also bitte, bitte, bitte wieder ans Netz zu nehmen, einmal ein, zwei Tage. Als nächstes musste das Problem mit dem Hausvermieter gelöst werden. Es war ja nicht so, dass uns an unserer bescheidenen Unterkunft jetzt sooo viel gelegen wäre – das Problem war nur, die Steckdose befand sich in der Wohnung und ohne Steckdose würde es ja keinen Gamecube oder Plasmafernseher oder PC geben, was uns ja praktisch arbeitslos machen würde – aus einer gewissen Perspektive betrachtet, natürlich.
Und an diesem Tag eines unendlichen Lichtblickes, war es mir gelungen, den Einschaltknopf zu finden, was uns in unserer Karriere als Systementwickler mit Riesenschritten vorantrieb.
Okay, zweiter Schritt: In tage- und nächtelanger Recherche waren Rob und ich dahinter gekommen, dass der PC nur deswegen die Zusammenarbeit verweigerte, weil er für den Betrieb so etwas wie ein Betriebssystem benötigt – um das ganze zu betreiben, eben.
In Ermangelung einer wichtigen Ressource – nämlich Geld – fiel unsere Wahl dabei auf so ein Ding namens Linux. Es war ja nicht so, dass wir nicht willig gewesen wären, das andere, teurere Zeugs, nämlich Windows, zu raubkopieren, oh nein, der Begriff Moral wäre uns an und für sich fremd gewesen – nur fehlte es uns a) an einem Brenner b) an einem Freund, der über einen solchen verfügte weil a) wir keine Freunde hatten b) ich auch nicht glaube, dass sich irgendjemand mit Typen unseren Schlages überhaupt nur abgeben möchte.
Das war das Problem an Robs und meiner tragischen Story: In den ganzen coolen Filmen verzichten die Protagonisten auf etwas, weil die Wahl der Alternative scheinbar besser ist.
Wir verzichten nur aus einem Grund darauf: Limit. Begrenzung. Einengung. Ermangelung. Das waren zwar vier Gründe, aber na ja, ähm, lassen wir das.
Jedenfalls versuchten wir die Mühle dann mit Linux aufzusetzen. Wir haben es wirklich versucht. Wirklich. Als dann allerdings die Aufforderung kam, die Installation mit „Enter“ fortzusetzen, konnten wir keine entsprechend beschriftete Taste auf der Tastatur auffinden.
Schließlich fassten wir den Entschluss, das Teil auf einem geeigneten Entsorgungsplatz zur Mülltrennung zu geben, nämlich in einen Behälter auch Restmüll genannt.
In dem Moment stürmte die Polizei, bewaffnet, gefährlich, auf jede Gegenaktion gefasst, durch unsere bescheidene Haustür in unsere bescheidene Unterkunft.
„Verdammt, Rob, was hast du schon wieder angestellt? Ich habe dir doch gesagt, dass du es unterlassen sollst, diese Drohbriefe an Regierungsmitglieder zu schreiben!“
„Wegen den paar Briefbomben hat sich noch niemand aufgeregt, Ben.“
Ach ja, ich bin Ben. Sehr erfreut. Rob hier neben mir, wurde mit dem Maße an Fantasie ausgestattet, welches bei seinem Verstand eingespart wurde. Er bildet sich ein, er würde Briefbomben versenden, wenn er Chinaböller in Kuverts packt und mit ein bisschen Packpulver in einem Strohhalm vermengt. Er ist verrückt. Ganz hart und einfach verrückt. Exzentrisch sind nur reiche Leute, von denen wir, so können wir stolz behaupten, das exakte Gegenteil sind. Inhaltlich waren die Briefe dann vielleicht schon ein bisschen expliziter.
„Ist das hier, meine Herren, Ihr PC?“
Der Beamte deutete mit seiner überaus abgegriffenen Maglite in Richtung des weißen Kastens, den wir nie wirklich zum Laufen gebracht hatten.
„Naja, wenn Sie wollen, können Sie ihn billig haben – sagen wir 700, dann gibt’s noch was zum Rauchen dazu – ein paar Gramm oder so…“
„Ich muss sie informieren, dass Ihr PC beschlagnahmt ist und ich Sie vorübergehend in Verwahrung nehmen muss.“
Ich blickte zu Rob. Okay, sehr viel wahrscheinlich war, dass ich zu Rob starrte. Eigentlich funkelte ich ja. Mit dem Blick einer Medusa. Oder so.
„Rob, woher sagtest du noch einmal, zum verdammten reihernden Geier, hattest du diesen PC aufgetrieben?“
„Der stand auf der Straße. Neben dem Alien-Landeplatz.“
Der Alien-Landeplatz ist der alte Park. Am besten nie fragen.
„Zuvor hatten ihn ein paar Typen dort deponiert. Sie sind dann aber davongelaufen.“
„Oh mein Gott, Rob.“
„Ich bin kein Gott mehr. Das solltest du doch mittlerweile wissen. Ich war einmal einer, aber nachdem ich mit dem Freudenmädchen von Luzifer geschlafen habe, wurde ich auf ewig meiner ehrwürdigen Position enthoben und gemeinsam mit meinem guten und alten Freund Adam aus Eden verbannt. Von meinem Usurpator. Dem neuen Gott. Dem Wichser.“
„Rob, ich glaube nicht, dass Gott an solch profan obszöner Beschäftigung interessiert sein könnte.“
„ICH bin es, der von uns zwei im Paradies war. ICH bin der mit der Lebenserfahrung hier. Ich bin derjenige, dem das einzige und alleinige Recht zusteht, irgendwelche allgemeingültigen wie zutreffenden Aussagen bezüglich MEINES Großen Paradieses zu machen.
Und glaub mir, man ist, auch in dem Status absoluter unbedingter totaler Göttlichkeit, noch an profanen Obszönitäten interessiert.“
„Rob, meine Großmutter hatte ein Wort dafür: Narzissmus. Ich habe nie Genaueres über die Bedeutung dieses wundervollen Wortes erfahren, aber ich bin mir ganz sicher, dass die Bedeutung eine dezent freundliche ist.“
Robs Exzentrik… nein – Neubeginn - dass Rob völlig meschugge war, musste wohl nicht detaillierter erläutert werden.
Detaillierterer Erläuterung bedurfte der graue Kasten gegenüber unserer wiewohl wahrhaftig wundervoller Visagen, der von den Kriminalbeamten in ebenso neugieriger wie gewissenhafter Weise gemustert und bestaunt wurde.

Kennen Sie diese bösartig abgesessenen, verschlissenen, irgendwann einmal billig im Sonderangebot eines Großdiscounters erstandenen, schlimm unbequemen Holzsessel in den örtlichen Polizeirevieren?
Als unbescholtener Bürger, welcher Sie, als aufmerksamer Leser der Manifestation meines Leidensweges sicherlich sind, werden Sie mit der Innenausstattung von Polizeirevieren jedoch
weniger vertraut sein.
Allerdings – glauben Sie mir, die Sessel sind unbequem.
Über diese Polizeiverhöre hatte ich in meinem Leben mit Rob, der jetzt neben mir saß und nervös an einer Packung Kaugummis (jawohl, an einer Packung, die hatte er nämlich als ganzes Stück, mitsamt dem tatsächlichen Verpackungsmaterial) eingeworfen, bereits eine Menge gelesen, gehört und gesehen.
Jedoch gestaltete es sich in unserem Falle doch ein wenig anders als erwartet. Wenn auch sonst nie, waren diese, nun ja, mehr oder weniger freundlichen Polizisten die Einzigen, die sich jemals in meinem ganzen bescheuerten Leben für Robs und meine Probleme interessierten – wenn auch nicht aus ganz uneigennützigen Motiven.
Außerdem wurde man dauernd gefragt, ob es irgendetwas gäbe, das für einen getan werden konnte.
Robs Wunsch nach einem etwas bequemeren Sessel, einer neuen Packung Kaugummi, sowie einer Zehnerpackung lustig knallbunter Jojos wurde jedoch nicht nachgekommen. Im Grunde denke ich ohnehin, dass die Fragen mehr rhetorischer Natur und eigentlich belanglos waren.
Belanglos verlief unser Verhör bis zum Auftreten dieses Regierungsbeamten.
Ich meine, nicht dass Polizisten nicht auch Regierungsbeamte wären, allerdings meine ich hierbei eher so was, wie einen, wie soll man sagen, regierungsbeamtentypischen Regierungsbeamten. Einer, der halt schon aussieht wie ein Regierungsbeamter. Dem der Duft regierungsbeamtenhaften Verhaltens bereits anhängt, wie seinem aufgedunsenen Aktenkoffer der anrüchige Geruch vermoderten Leders.
Dieser Aktenkoffer wurde jetzt mit großem, eher regierungsbeamtenuntypischen Schwung auf den Tisch geworfen und heraus purzelten einige Großaufnahmen von Rob und mir bei zuhöchst subversiven und konspirativen Tätigkeiten, wie zum Beispiel dem fanatischen Spielen von Super Mario Sunshine auf unserem Gamecube.
Unterhalb der Meisterleistungen auf Polaroids befand sich einer dieser ebenso billigen wie weit verbreiteten Bic Kugelschreiber, welcher nun langsam durch die Hände unseres freundlichen Regierungsbeamten wanderte und schließlich eine Position einnahm, von der man behaupten konnte, dass sie die Spitze besagten Kugelschreibers auf mich deuten ließ.
In der zweiten Hand wanderte eine Münze den Fingern entlang, bis sie sich zwischen Daumen und Zeigefinger befand. Das Sakko, welches dabei seinen Arm hoch rutschte gab dabei den Blick auf eine, vielleicht nicht unbedingt allzu billige aber eben wenig spektakuläre Digital-Timex frei. Eine Timex, deren Sekundenanzeige jedoch auf dem Display größer dargestellt wurde, als die oberflächlich wichtigeren Minuten- und Stundendigits und mich, wie eine langsam träufelnde Sanduhr an die Vergänglichkeit vor allem unserer modernen, jedoch auch der Zeit allgemein erinnerte und mich in eine traurige Stimmung versetzte.
Bling. Das Geräusch der auf der Tischkante aufprallenden Kupfermünze ließ mich aufschrecken und meinen Blick reflexartig vom Sakkorand neben mich schwenken.
„Ben, tun Sie uns doch allen einen großen Gefallen und gehen Sie sich einen Kaffee holen, während ich mich hier alleine mit Rob unterhalte.“
„Hören Sie, ist das denn wirklich notwendig? Man kann seine Aussagen wie seine Gedanken weder ernst nehmen noch irgendwelche logischen Schlussfolgerungen daraus ziehen, da er, nun ja, ein wenig exzentrisch ist.“
Völlig meschugge, ja.
„Ben, ich glaube, ich spreche im Namen unserer ganzen Abteilung, wenn ich jetzt einfach einmal behaupte, dass seine Sicht der Dinge für den Verlauf dieser, ja, nennen wir es ruhig Ermittlungen, extrem wichtig ist.“
„Sie können seine Sicht der Dinge doch nicht in aller Seriosität als nun ja, möglicherweise wahre Sicht der Dinge betrachten.“
Mittlerweile hatten sich zwei Beamte an beiden Seiten von mir eingefunden und ich erkannte, was es bedeutete, wenn sie danach fragten, irgendetwas für mich tun zu können.
Und sie taten es gar nicht einmal so sanft für mich.
Mich noch am Türrahmen festhaltend brüllte ich meinem guten Freund Rob zu, er möge doch auf sich aufpassen.
„Keine Angst, Ben. Ich habe keine Angst. Die Menschen hier sind doch da, um uns vor den Aliens zu schützen. Und du weißt doch, dass von Zorrrrrg die größte Bedrohung ausgeht. Zorrrrrg ist auch verantwortlich für den Anstieg dieser hochfrequenten Tiefenwellen aus unserem Keller…“
Mehr konnte ich leider nicht mehr wahrnehmen und so blieb mir als einzige Option, mich in der Zwischenzeit wirklich mit dem veralteten Kaffeeautomaten auseinanderzusetzen. Und das, obwohl ich gegen Koffein allergisch bin! Diese Kaffeeautomaten in diesen Polizeirevieren stellen nicht einmal Tee bereit. Nur Kaffee. Schwarzen Kaffee. Schwarzen Kaffee mit einer für mich womöglicherweise letalen Dosis an Koffein. Relativ hilflos saß ich also mit einem leeren, dunkelrot-weißen Plastikbecher vor dem hell erleuchteten Automaten und starrte durch das Sichtfenster in den Raum, in dem jene Beamten saßen, die sich das ganze Gespräch zwischen dem armen Rob und dem, wie soll ich ihn nennen, Regierungsbeamten anhörten und es mitschnitten. Bisweilen sah ich den Mann mit den Kopfhörern vor der eindrucksvollen Tonbandspule zusammenzucken und auch insgesamt konnte man den Gesichtsausdruck dieser stillen Beobachter nur als durchgehend ernst bezeichnen.
Was würde ihnen Rob denn mitteilen?
Rob wusste doch nichts. Mein Freund Rob würde ihnen doch nur Geschichten aus seiner Welt – seine Ansichten, eben, berichten, würde sie in ihrem Konzept wahrscheinlich nur durcheinander bringen und für Komplikationen sorgen – warum befragten sie ausgerechnet ihn?
Der Dialog ging über Stunden, die Männer vor dem Tonbandgerät hatten es mittlerweile aufgegeben, entsetzt zusammenzuzucken, auch ihr doch eher sorgenvoller Gesichtsausdruck hatte sich mittlerweile ein wenig normalisiert.
In einem stillen Moment, in dem ich mich eigentlich vollends auf den nicht vorhandenen imaginären Inhalt meines, immer noch in meinen Händen befindlichen dunkelrot-weißen Kaffeebechers, konzentrierte, flog mit einem unerwarteten Knall die Tür des Büros auf und Lärm breitete sich im Raum aus.
Der Regierungsbeamte stürmte mit Rob an einen Arm gekettet heraus, eine ganze Menge Polizisten hatte sich in so etwas wie einer Formation hinter ihm eingefunden und flankierten die beiden mit einer Hand an dem Halfter, in dem sich ihre Waffe befand, nicht ohne Rob ständig diese funkelnden misstrauischen bis bösen Blicke zuzuwerfen.
„Was geht hier vor?“
Ich wurde mit größter Effizienz ignoriert, versuchte energisch an Rob zu gelangen, musste auf dem Wege aber nur feststellen, dass diese Beamten beim Wegdrängen von Orten, an denen sie einen vielleicht nicht unbedingt haben wollen, teilweise gar außerordentlich unsanft sein konnten.
Die Menge bewegte sich mit dem armen Rob in ihrer Mitte auf eine Stahltür, die an der Hinterseite aus dem Gebäude führte zu, ich versuchte dranzubleiben.
Der Regierungsbeamte knallte die Tür hinter sich zu, ein zurückgebliebener Beamter stellte sich davor auf – angesichts der Körpermasse des armen, doughnutgeprägten Polizisten wäre es schon rein physikalisch unmöglich gewesen, an ihm vorbeikommen zu wollen – angesichts seines Gesichtsausdruckes wäre es aber auch Selbstmord gewesen.
Also wendete ich mich von den grimmig gerunzelten Stirnfalten und der ohnehin unwiderruflich geschlossenen Tür ab und rannte zu dem nächsten Fenster, das auf den Innenhof zeigte.
Was ich dort sah, schockierte mich doch ein wenig. Der Regierungsbeamte, immer noch flankiert von seinen Leibgarden, mich dabei ein wenig an John F. Kennedy erinnernd, zwängte Rob unter Anwendung seiner ganzen Kraft in ein dunkelblaues Auto japanischer Bauart, während seine scheinbar so notwendigen Leibgarden, ähnlich wie in einem Vietnam-Szenario alle Richtungen um ihn herum mit halbgezogenen Waffen sicherten.
Ich stellte mir einen Moment lang vor, Oswald Lee Booth zu sein, verwarf den Gedanken dann jedoch wieder.
Robs Gesichtsausdruck wirkte zwar affektlos, dennoch wehrte er sich gegen die Behandlung, sträubte sich, versuchte sich aus der Menge zu entreißen, was jedoch erfolglos blieb.
Schlussendlich landete er doch auf dem gepolsterten Rücksitz und der Wagen konnte seine Reise unbekannten Bestimmungsortes aufnehmen – er bog zwar gleich nach der Ausfahrt rechts ab, allerdings war es gut und leicht möglich – zumindest so wie ich diese Regierungs-
typen einschätze – dass er einmal um den Block fuhr.
Also blieb ich einsam, immer noch fassungslos meinen leeren dunkelrot-weißen Plastikbecher haltend, auf dem Präsidium zurück und grübelte über das Schicksal von Rob.
Es sollte geschlagene zwei Monate dauern, bis ich ihn wieder sehen sollte.
Ich befand mich gerade auf einer Tankstelle – nein, lieber Leser, in meiner sozialen Stellung befindet man sich nicht dort, um zu tanken, sondern als Tankwart.
Das ist der Typ, der Ihnen die ganze Drecksarbeit macht – und das schließt ergebenste Services wie Fensterputzen ebenso ein wie das Prüfen des Reifendruckes – und das ist dann ja auch der Typ, der von Ihnen nicht einmal einen lausigen Cent an Trinkgeld erhält, weil ja „eh alles in der Servicepauschale enthalten ist“.
Jedenfalls war ich, in Ausübung meines ebenso ehrbaren wie trinkgeldlosen Jobs, gerade mit dem Auftanken eines wirklich schrecklichen beigen Opel Kadett beschäftigt – wobei das wirklich wirklich schreckliche daran nicht der wirklich schreckliche Opel sondern der umso schrecklichere schreckliche Besitzer war – da sah ich altbekannte, in meinem Gehirn verankerte Konturen aus einem dieser übertechnisierten neuen Seats steigen (für Leute meines sozialen Standes sind alle Vehikel mit Servolenkung bereits übertechnisiert) – und, auch nach dem zweiten Reiben meiner entzündeten Augen mit meinen schmutzigen Händen, konnte ich ihnen immer noch nicht glauben, doch es war, tatsächlich und persönlich genau der Mann für den ich ihn beim ersten Anblick schon gehalten hatte: Rob war da.
„Rob!!!!“
Er blickte von seinem Seat auf, rieb sich mit seinen sauberen, manikürten Händen seine nun hübschen Augen, rieb sie ein zweites Mal und lief dann auf mich zu, wollte mir die Hand geben, doch ich hatte einfach das Bedürfnis ihn zu drücken und zu knuddeln, weswegen ich seine Hand an mich zog und ihn innig umarmte.
Dabei hatte ich jedoch vergessen, meine Hand vom Benzinstutzen zu nehmen, weswegen eben jene organischen Kohlenstoffverbindungen, die wir hier verkaufen, nun über seinen Anzug rannen.
Er ließ sich durch diesen Umstand jedoch nicht außergewöhnlich stören und auch ich empfand es in diesem sentimentalen Augenblick nicht als negativ. Es war ja schließlich nicht mein Anzug und dieser alte geizige Sack in seinem hässlichen Opel Kadett konnte ja immerhin auch ein paar Minuten oder Stunden oder so warten.
Rob legte sanft seinen Mund auf mein Ohr und sein Atemhauch strich über die Härchen meines Ohrläppchens und erzeugte eine Gänsehaut, als er flüsterte:
„Weißt du, mein Freund, die Aliens haben nicht erfahren, was sie zu wissen suchten.“
Ich wurde ärgerlich. Sehr ärgerlich. Ärgerlich war nicht einmal die Andeutung eines Ausdrucks für das, was ich empfand. Zorn. Tiefgründigster Hass. Es war zu vergleichen mit dem Gefühl, wieder kein Trinkgeld erhalten zu haben.
Unsanft stieß ich meinen guten Freund Rob von mir weg, genau auf den hässlichen Opel des alten Sacks.
„Hör auf hier den scheiß Mongo heraushängen zu lassen, du Arschloch!!!“

Der Ausdruck auf Robs Gesicht fror ein, ein Mantel der Sorge legte sich sichtbar auf sein Gemüt. Langsam, von mir jedoch nicht unbemerkt, wanderte seine rechte Hand in das Innere seiner Sakkotasche.
Ich konnte jede einzelne winzige Bewegung seines Handrückens weiter nach innen genauestens beobachten, schließlich hing davon ja meine Einschätzung der Situation ab – die darin bestand, meine neun Millimeter aus der Hinterseite meines Gürtels zu ziehen und einen Schuss auf die Brust von Rob abzugeben.
Das Hemd begann sich rot zu färben, Verzweiflung kennzeichnete die Mimik von Rob, als er rückwärts über den hässlichen Opel fiel und mit dem Kopf am Asphalt aufschlug.
Ein weiterer Schuss löste sich aus meiner Waffe. Diesmal war es genau der Kopf, den die Kugel traf, die Verzweiflung in der Mimik legte sich, seine Gesichtszüge entspannten sich, Blut rann aus seinem Hinterkopf und mischte sich auf dem Asphalt mit dem immer noch aus dem in meiner Hand befindlichen Benzinstutzen austretenden Kraftstoff.
Der geizige Opelfahrer war mit entsetztem, hohlem, stillem Kopfschütteln an seinem billigen Lenkrad festgefroren. Er war mir egal. Ich warf den Benzinstutzen zur Seite, stürzte mich auf Rob und zog sein Sakko aus – in seiner Hand, die sich immer noch in der Tasche befand, lag ein Gutschein für einen McChicken. Ich versuchte einen Moment reuevoll über meine Fehleinschätzung der Situation zu sein, konzentrierte mich jedoch bald wieder voll auf mein Ziel, nämlich den Chip, den einen, großen Chip. Ich klopfte den erkaltenden guten Freund Rob an allen möglichen Körperteilen ab. Sakko. Negativ. Gilet. Negativ. Hemd. Negativ.
Der gute alte arme Rob hatte diesen Chip, den einen Chip in seiner Hosentasche versteckt. Mit dem freudigsten Gesichtsausdruck, den ich wohl jemals in meinem ganzen, vorwiegend
dienenden Leben hatte, zog ich ihn hervor. So sehr konnte ich mich nicht einmal über exorbitante Trinkgelder freuen. Ich hatte ihn. Den Chip. Den einen Chip.
Ein Polizeipräsidium.
Es musste nur wenige Minuten später gewesen sein, als ich mich wieder im altbekannten Präsidium aufhielt – vorgekommen ist es mir, mit dem ungewohnten aber angenehmen Gefühl des Erfolgs wie ein Zeitraum von Jahren oder kurzer Jahrtausende. Moment mal, gibt es so etwas wie kurze Jahrtausende überhaupt? Waren die normalerweise nicht generell lang? Egal, auf jeden Fall hatte ich und zwar ich allein den Chip.
Okay, ich hätte Rob ja nicht unbedingt erschießen müssen, aber so sehr ich auch versuchte so etwas wie Mitleid für ihn zu empfinden wurde es trotzdem immer vom überdeckenden Gefühl
des Erfolges überdeckt.
Außerdem war der Kerl ja verrückt. Was hätte er denn noch vom Leben gehabt? Es ist doch viel besser, wenn so ein Typ wie ich es weiter bringt und nicht so ein Gestörter, kaum rational denkender und… nun ja, vielleicht dennoch liebenswerter Mensch wie Rob. Aufhören!!! Es tut mir ja eh Leid. Aber der Chip…
Nur kurze Jahrtausende später saß ich wieder mit dem regierungsbeamtenhaften Regierungsbeamten und seiner olfaktorisch doch recht eindeutig erkennbaren Ledertasche im Verhörzimmer.
Seine Digital-Timex hatte sich irgendwie verändert – entweder es lag nur an meiner Wahrnehmung oder die Minutendigits waren jetzt wirklich größer, als die Sekundenanzeige – wahrscheinlich eines dieser neumodischen Dinger, bei denen man einen Fokus einstellen kann.
„Ich gratuliere Ihnen natürlich von vollstem Herzen sowohl persönlich als auch im Namen der ganzen Abteilung, Ben. Es ist Ihnen geglückt.“
Ich vermochte gar nichts zu sagen und nur wie ein Idiot oder wie Tom Cruise, falls das nicht ein- und dasselbe ist, zu grinsen und mit meinen Finger auf meinem Oberschenkel zu trommeln.
„Könnte ich den Chip nun einmal sehen, nur um ihn auf Echtheit zu überprüfen?“
„Sind Sie wahnsinnig? Das kommt gar nicht in Frage. Das ist mein Chip!“
„Selbstverständlich. Ich wollte nur Ihre Reaktion sehen.“
Der Minutenzeiger auf der Digital-Timex war größer. Meine Wahrnehmung war jedenfalls nicht getrübt oder verändert.
Ich dachte gerade daran, nie wieder die Zeitung vom Nachbarn klauen zu müssen, um an Informationen zu kommen. Nie wieder bei den billigsten Discountern einkaufen zu müssen. Und nie wieder Kleinsteinkäufe in Raten zahlen zu müssen. Nie wieder in der Holzklasse zu fliegen. Moment mal, ich bin doch noch gar nie geflogen… Egal, nie die Erfahrung zu machen, einmal in der Holzklasse zu fliegen.
Aus dem Aktenkoffer unseres Regierungsbeamten rutschten wieder zwei hochglänzende Polaroids. Verdächtigenfotos. Ich stand über so etwas.
Wahrscheinlich hatte er wieder genau dieselben billigen Bic Crystal Kugelschreiber darunter liegen, standardisiert genormt blau natürlich.
Tja, er hatte trotz seines Bundesbedienstetenstatus nur einen stinkenden Aktenkoffer und seine sparsam budgetierten Schreibutensilien. Ich hatte den Chip. Es war ganz eindeutig, wer hier der Macher war. Verdächtigenfotos.
Immerhin waren es hochglänzende Polaroids und der Typ auf den Fotos sah wie irgend so ein heruntergekommener Penner aus – warten Sie, der heruntergekommene Penner auf den Fahndungsfotos das war – verdammte Scheiße, ich war es. Ich höchstpersönlich. Ich, der sämtliche staatliche Immunitäten genießen sollte. Für die Beschaffung des Chips.
Ich blickte mit einem sicherlich leicht erkennbaren Ausdruck großer Überraschung unseren regierungsbeamtenhaften Regierungsbeamten an – der zog unter den Polaroids etwas hervor und nein, es war kein blauer Bic Crystal sondern eine neun Millimeter!!
Ich wollte von meinem Stuhl aufspringen, konnte jedoch gar nicht schnell genug reagieren, um mich vor der Kugel, die bereits auf mich zuschoss zu retten.
Ich meine, der Satz ist generell idiotisch. Wer kann sich schon vor einer annähernden Kugel retten? Wer dachte ich, dass ich war? Neo? Der Auserwählte?
Jedenfalls fühlte ich diesen stechenden Schmerz in meinem Bauchraum, begann zu zittern, sackte in den wirklich unbequemen, aber ich glaube das Thema hatten wir schon, Stuhl zurück und ließ mit einem lauten Knall meine Waffe, die ich auch bereits gezogen hatte, auf den Boden fallen.
Ich konnte weder Arme noch Beine bewegen. Der Regierungsbeamte bewegte sich auf mich zu, griff in meine Arbeitsklamotten, holte den Chip hervor und quittierte mich mit einem kräftigen, aber, so fürchte ich, nicht uneingeschränkt ehrlichen „Danke.“
„Kaufen Sie sich einen Kaffee.“
Und wieder landete eine Kupfermünze auf der Tischkante. Dieser Arsch ist doch so witzig. Wahrscheinlich hat er sogar in meiner Personalakte gelesen, dass ich gegen das wirklich schreckliche (gut, vielleicht nicht so schrecklich wie der beige Opel Kadett, aber dennoch schrecklich) schwarze Gesöff zutiefst allergisch bin.
Jedenfalls klimperte die Münze auf der Kante und fiel zu Boden, genau neben meine neun Millimeter, die ich auch nicht aufheben konnte.
Sie fanden den Teil der Geschichte bis jetzt unglaublich? Warten Sie was jetzt kommt. Ich werde versuchen, mich bezüglich der nachfolgenden Geschehnisse etwas kürzer zu halten, da ich meine Lebenserwartung nicht mehr unbedingt bis in das hohe Alter schätze, wenn Sie verstehen, was ich meine.
Jedenfalls versuchte der Regierungsbeamte den Raum durch die teilweise aufgesplitterte Holztür zu verlassen, als die riesenhafte Kontur einer Gestalt in seinem Weg stand. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Der muffige Opel Kadett Fahrer stand in seinem Weg, hatte noch schneller als er, eine Kanone gezogen und sorgte für das historische Ende des Regierungsbeamten.
Nur für diesen verdammten Chip.
Was mit dem Opel Kadett Fahrer geschah, ob er lebend unser Präsidium verlassen hat oder nicht, kann ich von meiner derzeitigen Position leider nicht beurteilen – da ich mich immer noch nicht in dem wirklich unbequemen Stuhl bewegen kann.
Jedenfalls muss er den Chip gesehen haben und, genau wie ich und so viele vor mir, dem festen Beschluss, nein, dem Wahn verfallen sein, ihn kriegen zu wollen oder vielmehr haben zu müssen.
Menschen wie wir können ohne ihn nicht leben.
Die ganze Jagd nach dem Chip könnte irgendwie in eine Fernsehshow verwandelt werden – eine Art Staffellauf mit Rekordzeiten bezüglich des Überlebens – ich weiß ja nicht, ist ja nur eine Idee.
Alles, was ich weiß, ist, dass ich jetzt hier in diesem heruntergekommen Verhörzimmer unter flackerndem Neonlicht sitze und einem schleißigen Diktiergerät, welches unser verschiedener Regierungsbeamter laufen hat lassen, die Geschichte meines Leides diktiere.
Ich weiß ja nicht, vielleicht findet sich irgendein netter Mensch ja einmal, der dieses Tonband hört und sich entschließt, die Geschichte niederzuschreiben.
Eigentlich ist es mir ja auch egal. Ich bin irgendwie schon viel zu tot, um noch fünfzehn Minuten Ruhm genießen zu können – lieber wären mir jetzt fünfzehn Gläser Rum, um etwas ruhiger Einschlafen zu können – hey, jetzt einmal ehrlich, meine bescheuerten Sprachspiele sind scheiße, oder? Na ja, Sie werden mir die Antwort kaum mehr mitteilen können, da ich, wie gesagt, meine Lebenserwartung nicht mehr als besonders hoch einschätze.
Am Anfang erwähnte ich einmal, dass uns der Begriff der Moral fremd gewesen wäre – es wäre halt Ihre Aufgabe gewesen, auf diesen Satz zu hören, ihn dem Grundgedanken nach zu verstehen und ihn nicht nur im Sinne des Raubkopierens zu sehen.
Dann wären Sie jetzt vielleicht weniger überrascht.
Ach ja – eine ungeklärte Sache wäre da noch, die Sie eventuell interessieren könnte und die ich es vielleicht auch noch fertig bringe, vor meinem Verleben zu erzählen – welchen Zweck der Chip eigentlich erfüllt.
Ich werde Ihnen sagen, welchen Zweck der Chip erfüllt und zwar die vollkommene und totale Ent….

Anmerkung des Veröffentlichers: Das Tonband war zu diesem Zeitpunkt leider zu Ende, weswegen der Rest des Diktats nicht erhalten ist.








Niedergeschrieben Jul 28, 2003 von Thomas Zangerl
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Siehe auch: http://www.copyleftmedia.org.uk/

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 29.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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