Sabine Hein

Geburtstermin

Es ist eine Weile vergangen und ich denke, ich bin nun in der Lage, darüber zu berichten, was mir widerfahren ist.
Was ich Ihnen zu berichten habe, dürfe schwer zu glauben sein. Ich kann Ihnen jedoch versichern, dass sich alles, was ich hier aufschreiben werde, so zugetragen hat. Und wenn ich auch in Kauf nehmen muss, dass man mich für meine Tat hassen und verurteilen wird, so werde ich nichts verschweigen.
Natürlich wird es schwierig sein, bestimmte Dinge zu verstehen, aber ich kann Sie diesbezüglich beruhigen, denn selbst ich habe noch nicht alles verstehen können. Nun lesen Sie meine Geschichte und bilden Sie sich Ihr eigenes Urteil.
Ich wünsche viel Vergnügen!

Wie lange ich den Kopf anstarrte, weiß ich nicht mehr. Ich weiß aber noch, dass es ein Freitagmorgen und es draußen bitterkalt war. Ja, es war Januar. Ein eiskalter Januar.
Nun, ich erwachte an diesem Morgen aus einem traumlosen, tiefen Schlaf. Es muss noch sehr früh gewesen sein, denn es drangen kaum Geräusche von der Strasse hinauf in meine Wohnung. Kurz war ein Fuhrwerk zu hören, doch das Klappern der Hufe wurde vom frisch gefallenen Schnee angenehm gedämpft.
So öffnete ich also meine Augen und erblickte die mit Stuck verzierte Decke meines Schlafzimmers. Allmählich schärfte sich mein Blick und ich betrachtete eine Weile den Lüster. Um aufzustehen fehlte mir die Motivation, außerdem schien mir mein gemütliches und warmes Bett bei dieser klirrenden Kälte der beste Ort zu sein. Vielleicht sollte ich noch etwas schlafen und den Tag später beginnen – dachte ich, es warteten ohnehin nicht viele Verpflichtungen auf mich.
Ich hatte das Bedürfnis mich zu strecken und hob meine Arme. Ein langes Gähnen trieb die letzte verbrauchte Luft aus meinen Lungen und genüsslich drehte ich mich zur Seite, da erblickte ich ihn.
Ich erkannte ein weibliches Halbprofil umrandet von blonden, zum Teil hochgesteckten Locken. Der sauber durchtrennte Hals endete abwärts im Nichts.
Bitte fragen Sie mich nicht, was man in solch einem Augenblick denkt, denn solch ein Anblick schaltet jegliches Denken aus. Es war so irrational, dass mein Gehirn nicht in der Lage war, die Situation zu erfassen.
So lag ich also an einem kalten Freitag im Januar auf die rechte Seite gedreht in meinem Bett und betrachtete fassungslos einen Frauenkopf, der sorgfältig auf ein Kissen gebettet neben mir lag.

Nur ganz langsam löste sich die Starre, in die dieser Anblick meinen gesamten Körper versetzt hatte. Als erstes bewegte ich komischerweise meine Füße. Dann zog ich meine Knie hoch, schlug die Bettdecke zur Seite und sprang mit einem rekordverdächtigen Satz aus dem Bett.
Langsam ging ich um das Bett herum, um mir diesen – war das tatsächlich ein menschlicher Kopf? – nun ja...um mir die Frau näher anzuschauen.
Als ich in die leblosen, aufgerissenen Augen starrte, wurde mir übel. Mir wurde so übel, das ich mich vorbeugte und mich gleich an Ort und Stelle zwischen meine Füße erbrach.
Sie haben dafür sicher Verständnis, nicken vermutlich leicht mit dem Kopf und denken „Wer würde da nicht kotzen müssen!?“ Aber es war nicht nur alleine die Tatsache, dass ein Frauenkopf in meinem Bett lag, sondern, dass es der Kopf MEINER Frau war!
Sie müssen wissen, dass Linda vor ungefähr 6 Monaten an einer toxischen Diphtherie gestorben ist und mit ihr unser ungeborenes Kind.
Seitdem lebe ich alleine, versuche halbwegs meinen Geschäften nachzugehen und mich nicht gehen zu lassen, obwohl es mir an manchen Tagen schon schwer genug fällt, mir auch nur das Gesicht zu rasieren.

Ich stand also vor meinem Bett, hatte Erbrochenes auf meinen Füßen und starrte meiner vor mehr als einem halben Jahr verstorbenen Ehefrau in die leblosen Augen.
Wie in Zeitlupe machte ich nach einer halben Ewigkeit endlich einen kleinen Schritt auf das Bett zu und beugte mich vor. Erst jetzt fiel mir auf, dass auf dem gesamten Kissen nicht die kleinste Spur von Blut zu entdecken war. Wie ein treuer Hund brachte ich meinen Kopf in Schräglage und flüsterte leise: „Linda.“


Seltsam, dass ich ans Reinigen dachte, doch ich befreite meine Füße und den Teppich sorgfältig von meinem Erbrochenen und stärkte anschließend meine Nerven mit einem heißen Kaffee. Im Flur meiner Wohnung ging ich auf und ab und dachte nach.
Ich überlegte, was ich wohl tun sollte. Sollte ich gehen und jemandem davon berichten, vielleicht sogar die Polizei benachrichtigen?
Aber was genau sollte ich ihnen mitteilen? Es klang doch wirklich zu absurd.
Ich hatte Angst davor, den Verstand verloren zu haben, denn das, was da in meinem Bett lag, war doch nicht wirklich ein Kopf – Lindas Kopf – oder doch?!
Mir gingen unzählige Fragen durch den Sinn und hinter meinen Schläfen begann es pochend zu schmerzen.
Ich scheute mich davor erneut mein Schlafzimmer zu betreten, so dauerte es wohl Stunden, bis ich doch vorsichtig die vorher verriegelte Schlafzimmertüre öffnete und durch einen kleinen Spalt auf mein Bett blickte.
Der Kopf – Linda – war noch da. Und nicht nur das, ich konnte deutlich ihren Oberkörper erkennen!
Verdammt – am Morgen war es doch nur ihr Kopf gewesen, dies hatte ich ganz deutlich gesehen. Wie zum Henker also war es möglich, dass nun auch ihre Schultern und ihre blassen Brüste auf meinem Bett lagen?
Was hätten Sie an meiner Stelle getan? Wären sie um Hilfe schreiend aus der Wohnung geflüchtet oder wären Sie neugierig ins Zimmer getreten, hätten sich vor dem Bett platziert und hätten den Torso angestarrt?
Genau das tat ich.
Völlig verstört stand ich da und konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wie war das nur möglich?
Ich meine, es war ja schon absurd genug, Lindas Kopf in meinem Bett vorzufinden, aber nun auch noch zu beobachten, dass sie „wuchs“ war doch völlig irrational!
Ein Schwindelgefühl machte sich in mir breit. Um mich nicht schon wieder übergeben zu müssen, machte ich kehrt und verließ so schnell es mir möglich war das Zimmer.
Schwankend und nach Luft ringend lehnte ich mich von außen an die Türe. Ich schloss die Augen und hoffte, nicht das Bewusstsein zu verlieren.
Als ich meine Augen wieder öffnete, fand ich mich vor der Schlafzimmertüre auf dem Boden liegend wieder.
Bitte fragen Sie mich nicht, wie viel Zeit vergangen war, denn ich kann es nicht mehr genau sagen. Jegliches Zeitgefühl war verschwunden. Ich bemühte mich aufzustehen, doch das war gar nicht so einfach. Mir war nach wie vor schwindlig, noch dazu fühlte sich mein Kopf an wie eine überreife Tomate. Noch während ich so da saß, streckte ich meinen Arm nach oben und zog die Türklinke hinunter, um die Tür zu öffnen und einen weiteren Blick auf meine – tote – Frau zu werfen.
Tja, ich weiß kaum, wie ich das beschreiben soll, aber obwohl ich wusste, dass Linda noch da war, konnte ich ihr Gesicht nicht erkennen. Etwas versperrte mir die Sicht auf ihr Gesicht und ob Sie es glauben oder nicht, dieses Etwas war ein Bauch – Lindas Bauch!
Ja, ja... es klingt unglaublich, ich weiß das! Was, glauben Sie, habe ich wohl gedacht!? Denken Sie nicht auch, dass ich zum wiederholten Male an diesem Vormittag an meinem Verstand zweifelte? Glauben sie allen Ernstes, ich hätte tatsächlich begriffen, was meine Augen da erblickten?
Ich begann irre zu kichern – das war meine Reaktion auf Lindas Bauch. Zugegeben, besser als eine weitere Ladung Erbrochenes, aber umso furchteinflößender. Mit diesem irren Kichern bestätigte sich, dass ich dabei war, meinen Verstand zu verlieren.
Nachdem ich es endlich geschafft hatte, mich vom Boden zu erheben, schlenderte ich zu meinem Bett. Sie haben richtig gelesen – ich schlenderte, denn mittlerweile war ich an einem Punkt angelangt, an dem ich versuchte, die Situation meiner bisherigen Einsamkeit und dem Schmerz über Lindas Tod zuzuschreiben. Ich vermisste meine Frau vermutlich so sehr, dass mir mein Gehirn sie nun reproduzierte, um meinen Schmerz zu lindern. Dies war die einzige Erklärung, die mir halbwegs logisch erschien.
Beinahe heiter stand ich da und betrachtete den leblosen Körper.
Lindas leicht nach rechts geneigten Kopf mit den aufgerissenen Augen, ihr blasser, kleiner Busen und den beachtlichen Bauch.
Warum aber, gaukelte mir mein Gehirn einen so großen Bauch vor? Linda war eine zierliche Person gewesen, die selbst zu Beginn ihres dritten Schwangerschaftsmonats kaum Bauch hatte.

Wenn Sie einmal versuchen, sich gedanklich in meine Situation zu versetzen, dann fragen Sie sich doch jetzt, ob Sie den Mut gehabt hätten Ihre – meine – Frau zu berühren! Na?
Nicht ganz ohne Stolz schreibe ich hier nieder, dass ich diesen Mut aufbrachte. Was mich dazu bewegte ist mir ein Rätsel, aber vorsichtig, fast zärtlich, strich ich mit der flachen Hand über Lindas Brüste abwärts zum Bauch. Mir fiel auf, dass der Busen kühl, der Bauch jedoch sehr warm war.
Das war nicht nur sonderbar, sondern auch absolut unmöglich!
Aber Sie haben recht – die ganze Situation war völlig unmöglich.

Ganz blass schien die Wintersonne ins Zimmer hinein. Angelockt durch das bezaubernde Muster welches die Gardinen auf den Boden meines Schlafzimmers warf, ging ich zum Fenster und blickte auf die Straße hinunter.
Das alltägliche Treiben hatte längst begonnen; Menschen und Fuhrwerke bewegten sich auf den Wegen vorwärts, ab und an war sogar ein Automobil zu entdecken.
Im Gegensatz zu diesem Anblick auf der Straße erschien mir meine eigene Situation umso unwirklicher. Nur wenige Meter trennten mich einerseits vom pulsierenden Leben, andererseits aber vom Anblick des kalten Todes. Eiskalter Tod...
Einen kurzen Moment dachte ich daran, den Kamin zu nutzen und ein wärmendes Feuer anzuzünden, doch dies schien mir nicht angebracht, auch wenn ich fröstelte.
Ich drehte mich um, um mir Linda noch einmal anzuschauen. Mir gefror das Blut in den Adern, denn auch ihre Scham und Oberschenkel waren nun deutlich zu erkennen.
Der Moment war gekommen, in dem ich endlich handeln musste.
Wie von Sinnen rannte ich aus dem Zimmer hinaus, langte nach meinem Mantel und schlüpfte in meine Stiefel. Mit einem Sprung gelangte ich durch die Wohnungstüre ins Treppenhaus meines Wohnhauses und stürzte die Stufen zum Ausgang hinunter.
Unten angelangt schnappte ich keuchend nach Luft. Das Schwindelgefühl kam zurück und mein Magen rebellierte erneut.
So also fühlte es sich wohl an, wenn man verrückt wird – dachte ich und erbrach mich abermals.
Vorn über gebeugt, die Arme auf die Knie gestützt, verharrte ich im Treppenaufgang, bis ich den Schrei hörte.
Mit meiner Flucht aus der Wohnung hoffte ich, der Realität ein Stück näher kommen zu können. Beinahe hatte ich den Entschluss gefasst, einen Arzt zu konsultieren in der Hoffnung, vom Verdacht der Schizophrenie freigesprochen zu werden, doch mit diesem markerschütternden Schrei bestätigte sich, dass da tatsächlich etwas in meiner Wohnung war.
Nun, was glauben Sie, tat ich?
Richtig – ich versuchte mit einem tiefen Atemzug meine Sinne zu beruhigen und stieg langsam die Stufen zur Wohnung hinauf.
Mit jeder Stufe die ich voranschritt, pochte mein Herz schneller. Es war nicht die Angst vor Linda, die mich erfasste, sondern die Angst davor, tatsächlich geisteskrank zu sein. Ich malte mir aus, wie mein Gehirn unter der Schädeldecke schrumpfte, eintrocknete, schwarze Flecken aufwies – mein Gott, so wollte ich nicht enden!
Kurz bevor ich die zweite Etage erreicht hatte, hörte ich wieder diesen schrecklichen Schrei. Jetzt gab es keinen Zweifel mehr daran, dass dieses furchterregende Geräusch aus meiner Wohnung kam.
Bei meiner hastigen Flucht hatte ich die Eingangstüre nicht hinter mir geschlossen, so gelangte ich problemlos wieder hinein.
Kalte Schweißperlen hatten sich auf meinem schmerzenden Kopf gebildet als ich endlich vor der Schlafzimmertüre stand. Mit einem erneuten, tiefen Atemzug versuchte ich mein hämmerndes Herz zu beruhigen, dann stieß dich die Türe auf.
Bevor ich nun zum Schluss meiner Erzählung komme, möchte ich Sie darauf hinweisen, dass die folgenden Geschehnisse weder ästhetisch, noch rational, noch verharmlost wiedergegeben sind.
Ich schreibe es genauso auf, wie es sich zugetragen hat – ohne etwas hinzuzufügen oder etwas zu verschweigen.
Sie sollten vielleicht einen Schluck Brandy zu sich nehmen, die Beine übereinander schlagen und sich zurücklehnen – hier nun das Finale dieses kalten Freitags im Januar.

Noch bevor ich ihn entdeckte, bemerkte ich, dass sich Lindas Position verändert hatte.
Der Kopf war weit in den Nacken geworfen, ihr Gesicht glich einer Fratze, ihre Beine waren unnatürlich weit gespreizt
Lindas Schoß war blutverschmiert, die Laken des Bettes blutgetränkt und inmitten dieser Lache lag mein missgebildeter Sohn.
Obwohl er erst wenige Minuten alt war, so waren seine geröteten Augen geöffnet. Seine Haut hatte einen grünlichen Schimmer, der Schädel war völlig deformiert und der Junge – mein Gott, war das wirklich ein Mensch? - hatte keine Arme. Wimmernd lag er in all dem Blut und wandte sich wie ein Aal. Eine vom Tod geborene Kreatur! Widerwärtig und ekelerregend.

Mit schmerzendem Würgen versuchte ich vergebens meinen Magen erneut dazu zu bewegen sich zu entleeren, doch abgesehen von etwas Galle, blieb es bei diesem kläglichen Versuch.
Was zum Teufel war hier geschehen? Hatte meine tote Frau tatsächlich ein – lebendes Ding – Kind zur Welt gebracht?

Ohne meinen Blick von dem Knaben abzuwenden ging ich zum Kamin und löste den Schürhaken aus dem Kaminbesteck.
Zappelnd und wimmernd beobachtete er mich und fast schien es, als hätte er Furcht vor dem, was ich ihm antun würde.
Was auch immer er war, er war nicht meiner und Lindas Sohn. Dieses Wesen, war kein Mensch.

In Gedanken wiederholte ich dies wieder und wieder während ich mit dem Schürhaken so lange auf ihn einschlug, bis er sich nicht mehr rührte.


© Sabine Hein 2003

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 30.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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