Manfred Gries

Rauschebart und der Hauptfeldwebel

Als sie sich das erste Mal in die Augen schauten - zwei Männer mit unterschiedlichen Lebensläufen, wie sie Menschen nur haben können, die in einen Konflikt laufen - kreierte der Hauptfeldwebel jenen Kosenamen, der die einzige Verbindung zwischen den beiden bleiben sollte, Rauschebart. “Aber der muss ab“ war der nächste Satz nach dem Schöpfungsakt.

Er war eingezogen worden - mit 30 Jahren - Grundwehrdienst an der Waffe. Sein roter Vollbart zeugte vom Leben vor dem Wehrdienst und sollte nach dem Willen des Gesetzes bald der Vergangenheit angehören. Bald, das bedeutete einen Tag später. Das der in einem laufenden Kriegsdienstverweigerungsverfahren steckende von jetzt an Panzergrenadier noch andere Relikte aus der Zeit vor dem Wehrdienst mit sich brachte, war dem Hauptfeldwebel zu diesem Zeitpunkt nicht bekannt. Und so lächelte er ob des vermeintlichen Sieges über die Haartracht des Ausbildenden in sich hinein. Der Hauptmann, ein Kämpfer gleichen Jahrgangs wie Rauschebart, war der erste, der von dem Vorhaben des Panzergrenadiers erfuhr. “Ich verweigere den Dienst an der Waffe, egal was kommt.“ Rauschebart sah es als seine Pflicht an, sein Vorhaben kund zu tun und ignorierte das Zucken auf dem Gesicht des Hauptmannes, das einem Stöhnen gleich kam. Er war der zweite in dieser Grundausbildung, der mit solch einem Vorhaben die Ordnung der Kaserne stören würde.

Ein gut rasierter Panzergrenadier salutierte am nächsten Morgen vor dem Hauptfeldwebel, dessen Lächeln selbstsicherer geworden war. “Rauschebart“, sagte er, “Nun werden wir dich zu einem guten Soldaten machen.“ Scheinbar hatte der Hauptmann noch nichts weitergegeben von dem, was Rauschebart vor hatte. Aber das war jetzt nicht wichtig. Die Ausbildung begann mit dem üblichen Kleidungswechselspiel. Ausgehanzug - Geländeuniform - Ausgehanzug. Dabei stoppte Schliwinski - so der Name des Hauptfeldwebels die Zeit zwischen den Kleidungswechseln. Eigentlich war diese Art der Ausbildung verpönt, aber Rauschebart wollte ja nur keinen Waffendienst leisten - alles andere machte er brav mit.

Die Tage vergingen und der erste Waffendienst rückte näher. Eines Morgens befahl Schliwinski seinen Mannen, sich vor der Waffenkammer aufzustellen. “Herr Hauptfeldwebel“, Rauschebart trat einen Schritt nach vorn, “Herr Hauptfeldwebel, ich werde dort keine Waffe entgegennehmen.“ Wie vom Blitz getroffen suchten die Augen Schliwinskis seinen Gegenüber. “Was?“ brüllte er in der Hoffnung, sich verhört zu haben. Nachdem sich sein kurz geschorenes Haar vom Sturm der Frage gelegt hatte, wiederholte Rauschebart sein Statement: “Ich werde keine Waffe in die Hand nehmen.“ Schliwinski verharrte einen Moment unschlüssig und verließ dann die Truppe, um den Hauptmann zu kontaktieren. Etwas bedrückt kehrte er zurück und verkündete, was der Hauptmann beschlossen hatte. “Sie“, damit meinte er Rauschebart, “melden sich in der Küche. Da gibt es Abwasch.“ Das Lächeln war aus seinen Mundwinkel verschwunden und in seinem Hinterkopf spürte man die Arbeit seiner Gedanken an einem für ihn vollkommen unverständlichen Zustand. Rauschebart war doch eigentlich sehr folgsam. Wie kam es, dass der plötzlich so widerspenstig reagierte? Und dann auch noch die Entscheidung des Hauptmanns. Alle Sympathie wich aus seinem Herzen und Rauschebart wurde zu seinem persönlichen Feind.

Die Truppe, ebenfalls überrascht, einen solchen Kameraden in ihrer Mitte zu haben, wählte Rauschebart bei nächster Gelegenheit zum Vertrauensmann. Jedoch sagte irgendeine Regelung, dass ein Kriegsdienstverweigerer dieses Amt nicht ausüben darf. “Soweit kommt das noch“, bemerkte Schliwinski leise. Immerhin war er sich noch nicht ganz schlüssig, was hier vor sich ging. Dieser Rauschebart führte alle Befehle ohne Murren aus, fegte die Kaserne, faltete die Wäsche der Kameraden, säuberte Sägen und Beile - aber keine Waffen. Das Unheil schien begrenzt zu sein - bis zu jenem Tag, als Schliwinski ein Lied mit der Truppe einüben wollte. Zugegeben, Rauschebart sang gern und häufig, aber keine Lieder mit dem Titel: “Das Leben ist ein Würfelspiel“. Die Starre seiner Lippen ließen den Hauptfeldwebel nachfragen: “Wollen Sie nicht mitsingen? Verweigern Sie nun auch das Singen?“ So einfach lag die Sache nicht. “Nein, Herr Hauptfeldwebel, das Singen verweigere ich nicht. Aber ich bin der Überzeugung, dass das Leben kein Würfelspiel ist. Das Leben ist sehr wertvoll und zu schade durch derlei Texte entwertet zu werden.“ Die blanke Wut kroch in Schliwinski hoch und diesmal gingen sie gemeinsam zum Hauptmann. Dieser, seinerseits überfordert, schickte Rauschebart zum Kasernenkommandanten.

Die beiden Männer sahen einander an und der Kasernenkommandant erklärte Rauschebart seine Einstellung zum Wehrdienst. Rauschebart gab zu verstehen, dass er das respektiere, aber nicht teilen könne. “Ich muss Ihnen eine Strafe geben“, lächelte der Kommandant, damit ebenfalls die Haltung Rauschebarts respektierend. Wochenenddienst. In dieser Zeit reinigte Rauschebart verstopfte Toiletten mit bloßen Händen, tröstete Kameraden, nahm an Märschen Teil, eine Säge auf dem Rücken, ein Beil im Gürtel, den Spaten in der Hand, hob Schützengräben aus und tat alles, das ein Soldat so tut. Schliwinski schaute dem Treiben zu, redete mit ihm und in seinem Hinterkopf entstand ein Respekt - Respekt vor der, wenn auch anderen Meinung seines Gegenübers. Liebe kann man das nicht nennen, obwohl von Außen betrachtet schienen die beiden irgendwie seltsam verbunden zu sein.

Als eines Tages einer der Kameraden durchdrehte und fast die Hand gegen den Hauptfeldwebel erhoben hätte, ging Rauschebart dazwischen. Seine Stimme beruhigte den Aufrührer und Schliwinski gewann sein Lächeln zurück. Ich weiß nicht, ob der Herr Hauptfeldwebel sich noch an diese Zeit erinnert. Für Rauschebart war es eine Ausbildung zum Mann, die er nie vergessen wird. Einiges ist noch passiert, bevor Rauschebart als Kriegsdienstverweigerer anerkannt wurde. Aber die Anfänge waren maßgeblich die wichtigsten Bestandteile dieser Ausbildung und Schliwinski sicherlich in seiner Art ein Mann, dem jeder Respekt gebührt.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.07.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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