Frank Routner

An diesem Morgen

An diesem Morgen dachte sie beim Aufstehen sofort an Heinz aus der U-Bahn.

Sie hatte seine Augen auf ihrem Gesicht gespürt und automatisch den Kopf zu ihm gedreht. Er sah zum Fenster hinaus, und doch schien es ihr, als habe er schnell weggesehen, als sie sich ihm zuwandte. Es entstand ein merkwürdiges Spiel, in dem offenbar jeder den anderen studierte und wegsah, sobald dieser zurückschaute – oder bildete sie sich dies nur ein ?

Er war etwa 35, überdurchschnittlich groß, blond und hatte helle Augen – genau ihr Typ. Seine Kleidung war vernachlässigt – nicht in ihrer Qualität, aber im Stil.

"Er müsste sich anders kleiden, Hugo Boss stände ihm gut", schmunzelte sie in sich hinein und fuhr im gemeinsamen Spiel fort. Auf einmal überraschte er sie, indem er sie offen betrachtete, und sie meinte ein Lächeln zu erkennen. Hatte er die Spiegelwirkung der U-Bahnfenster genutzt, um sie indirekt zu betrachten ? Danach nahm er seine Zeitung wieder hoch und fuhr in deren Lektüre fort. Sie meinte quergedruckt so etwas wie eine Adressanschrift zu erkennen.

An der übernächsten Station stieg er aus – nicht ohne ihr diesmal ein offenes Lächeln zu schenken. Und er ließ die Zeitung zurück – Absicht ? Paula überlegte nicht lange. Sie setzte sich seinem Platz gegenüber und nahm die Zeitung an sich, ein reges Interesse am Leitartikel der ersten Seite vortäuschend.

Heinz Aab, Rosenstrasse 18.

Sie kannte die "Blumensiedlung", wie sie im Volksmunde hieß – sie war relativ neu mit netten ökologischen Reihenhäuschen und lag am Stadtrand. Als sie die Zeitung zusammenfaltete, fiel ihr auf, dass eine Post-Abholkarte mit Frühstücksmarmelade auf einer der Seiten klebte und ein wenig herausstand. Gleicher Name und Adresse. Sie schob die Zeitung in ihr Manager-Aktenköfferchen und lief den restlichen Weg ins Büro.

 

Dies war am gestrigen Freitag gewesen, und obwohl der Arbeitstag sie besonders gestresst hatte, konnte sie den Vorfall in der U-Bahn nicht vergessen – auch ohne die Zeitung als Erinnerung. Einen Moment lang wollte sie diese ärgerlich wegwerfen, aber irgend etwas hinderte sie daran.

"Der Pickel muss auf !" dachte sie, ihre Manager-Ausbildung demonstrierend. Sie wusste eh nicht so recht, was sie allein an diesem Wochenende privat unternehmen sollte – falls der Job ihr etwas Zeit ließ. Und außerdem wollte sie schon immer einmal diesen neuen Vorort besuchen. Sie suchte das neue grau-schwarze Kleid heraus, das optimal zu ihrem schwarz gefärbten Haar und den blauen Augen passte.

Das Reihenhäuschen 18 war nett herausgeputzt – rosa Fassade (na ja), Dach mit Sonnenkollektoren, kleiner aber feiner Garten. In diesem war ein älterer Mann damit beschäftigt den Rasen zu wässern. Er war mittelgroß, dunkelhaarig und hatte einen gelungenen Bierbauch. Das musste wohl der Gärtner sein.

Da die Hausklingel keinen Namen anzeigte, wandte sie sich an ihn. "Entschuldigung, wohnt hier ein Herr Aab ?".

"Ja, der bin ich – Heinz Aab !".

Sie zuckte zusammen und musste sich erst einmal sammeln. "Äh, ich habe hier in der U-Bahn eine Zeitung und vor allem eine Post-Abholkarte mit ihrem Namen gefunden", stotterte sie, indem sie beides überreichte.

"Mensch, die hab' ich schon überall gesucht – danke", strahlte Herr Aab und steckte beides ein. "Das ist einfach toll, dass Sie den Weg nicht gescheut haben - ich hoffe Sie kommen von nicht zu weit her ?".

"Nein, nein – ich will sowieso jemanden hier besuchen" log sie.

"Ich habe gerade frischen Kaffee zubereitet, kann ich Sie auf ein Tässchen einladen – als Dankeschön ?".

Sie zögerte, nahm aber schließlich die Einladung an.

 "Außerdem, ich bin Schriftsteller und hier neu zugezogen, und ich bin dabei neue Gedichte zu veröffentlichen und bräuchte jemanden, der sie kritisiert – vielleicht gefallen sie Ihnen ?".

Paula zeigte sich überrascht, "Warum nicht – das Leben ist voller Überraschungen".

***

Zehn Tage später betrat sie wie gewohnt die U-Bahn und sah erneut "U-Bahn Heinz". Ihm gegenüber war frei, und sie zögerte einen Moment sich dorthin zu setzen. Schließlich entschied sie diese Geschichte zu beenden und lief weiter.

***

Im Bücherei-Konferenzraum stapelten sich die Gedichtsbände. Paula saß neben Heinz und organisierte als dessen Managerin Warteschlange und Gedichtsbände für die Widmungen. Der erste signierte Band lag bei ihr zuhause.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 01.10.2018. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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