Klaus-D. Heid

Warum?

Der Schmerz traf mich plötzlich und unerwartet. Als mir bewusst wurde, was mit mir geschehen war, brauchte mein Verstand erst ein paar Minuten, bis er die ganze Wahrheit akzeptierte. Erst dann, als ich erkannte, dass ich statt auf meinen Fuß auf einen blutigen Stummel starrte, setzte der Schmerz mit aller Kraft ein und hielt an, bis ich die Besinnung verlor.

Niemals werde ich diesen Augenblick des Aufwachens vergessen!

Erst viel später erfuhr ich, wie nahe ich dem Tod gewesen bin. Sieben volle Tage und Nächte, nachdem man mich ins Krankenhaus eingeliefert hatte, soll ich im Schlaf geschrieen haben. Die Ärzte, die den Stumpf behandelten, dachten kaum noch, dass ich jemals wieder zu Bewusstsein kommen würde. Sie nahmen an, dass ich durch den Schock in eine Art Zwangstrauma gefallen war, um meinem Unterbewusstsein die Wahrheit zu verheimlichen. Das ununterbrochene Schreien deuteten sie als psychische Verarbeitung der vorangegangenen Erlebnisse.

Irgendwann, in der Nacht zum achten Tag meines Krankenhausaufenthaltes, erwachte ich. Ich wunderte mich nicht darüber, wo ich mich befand. Seltsamerweise war mir sofort beim Aufwachen bewusst, dass ich in einem Krankenhaus lag. Der erste Gedanke galt meinem Fuß! Unter Aufbringung all meiner Kräfte versuchte ich, meinen Kopf etwas anzuheben. Kein einfaches Unterfangen, denn nach so langer Zeit im Bett schienen alle meine Gelenke und Muskeln kraftlos und unbrauchbar.

Mühsam schaffte ich es dann doch, den Kopf soweit zu heben, dass ich in die Richtung meiner Füße sehen konnte. Das einzige, was ich jedoch sah, war ein mit Bettzeug überdecktes Gebilde, dass wie ein Gerüst meine Beine verdeckte. Ich sah meine Beine nicht! Ich sah meine Füße nicht! Ich sah nichts als weißes Bettzeug.

Mein Verstand begann zu arbeiten.

Was war geschehen? Warum war ich hier? Irgendetwas mit meinem Fuß war nicht in Ordnung! Was war das Letzte, an das ich mich erinnern konnte? Ich lag auf meiner Pritsche. Ich war alleine im Zelt, weil Max zur Wache eingeteilt war. Ich freute mich, dass ich endlich ein paar Stunden schlafen konnte, bevor ich wieder...

Krieg! Überall hörte ich die Einschläge der Granaten. Maschinengewehrfeuer. Schreie. Ich versuchte, meine Augen zu schließen, um zu vergessen, was ich alles sehen musste. Schlafen. Ich wollte so gerne schlafen. Wie konnte ein Mensch nur so erschöpft sein? Warum ließen mich die Bilder nicht in Ruhe, die mich immer und immer wieder zwangen, die Augen aufzureißen?

Wie weit die Frontlinie wohl noch entfernt war? Höchstens zwei Kilometer. Nicht weiter. Dem Geräusch der Granaten nach zu urteilen, war sie vielleicht schon viel näher. Nur ein paar Stunden Schlaf! Nur etwas schlafen, bitte! Vergessen. Einfach ein paar Stunden vergessen, um dann wieder Hand in Hand mit dem Tod über das Feld der Leichen zu marschieren...

Wieder ein Einschlag. Ganz in der Nähe.

Schlaf! Schlaf endlich! Du musst schlafen, weil Du sonst nicht aufmerksam sein kannst, wenn du dem Feind gegenüber stehst. Du musst immer der erste sein. Verstehst Du? Du musst zuerst schießen! Wenn Du nicht zuerst schießt, bist Du tot! Man wird Dich hier nicht begraben. Man wird dich einfach liegen lassen, bis dein Körper von den Panzerketten zerquetscht, für alle Zeiten im Dreck versinkt. Deshalb musst du jetzt schlafen. Schließ die Augen. Schlaf. Schlaf.

Ich konnte nicht! Niemand kann schlafen, wenn der Tod so nahe ist.

Es muss geschehen sein, als ich mit weit aufgerissenen Augen verzweifelt zur Zeltdecke sah. Die Granate schlug weit genug entfernt ein, um mich nicht zu töten, aber sie schlug so nahe bei mir ein, um mir meinen rechten Fuß zu nehmen. Die Zeltwände rissen auseinander, als würde eine riesige Hand sie einfach zur Seite schlagen. Alles um mich herum explodierte zu einem Inferno aus Dreck, Blut und dem Geschrei meiner Kameraden.

Mein Fuß war weg. Einfach weg. Es spritzte kein Blut aus der Wunde. Ich erinnere mich noch, dass ich darüber nachdachte, weshalb kein Blut aus der Wunde schoss! Mein Fuß war abgerissen worden, aber es blutete kaum! Unmöglich! Alles spielte sich in Bruchteilen von Sekunden in meinem Kopf ab. Es musste der Schock sein! Der Schock hatte die Blutung vorübergehend gestoppt. Deswegen starrte ich also nur auf den zerfetzten Stummel rauchenden und stinkenden Fleisches.

Als ich im Krankenhaus die Augen aufschlug, war dieser Geruch verbrannten Fleisches sofort wieder in meiner Nase. Genau der gleiche Gestank! Ganz genau der gleiche üble Gestand, den brennendes Fleisch verursachte.

Mir war bewusst, was dieses Gestell über meinen Beinen bedeutete.

Du hast keinen Fuß mehr. Aber du lebst noch. Du lebst! Du bist nicht tot. Es ist nur der Fuß. Du wirst lernen, mit einem Fuß zu leben. Es gibt Prothesen, die dich gehen lassen, als hättest du noch immer zwei gesunde Füße! Außerdem ist der Krieg für Dich zuende! Er ist vorbei. Du musst nie wieder fürchten, dass du – wie so viele deiner Kameraden – erschossen, zerrissen oder zerstückelt wirst. Es ist nur der Fuß.

Ich schrie so laut, dass Ärzte und Schwestern in mein Zimmer stürzten, um nach mir zu sehen.

Nachtrag:

Ich habe gelernt, mit einem Fuß zu leben. Tatsächlich habe ich eine Prothese bekommen, mit der ich fast genauso gut gehen und laufen kann, als hätte ich noch meinen rechten Fuß.

Mittlerweile sind acht Jahre vergangen. Der Krieg ist längst beendet. Ich glaube, dass wir gewonnen haben. Oder waren es die anderen? Es ist so egal! So egal.

Meine Frau hielt es nicht mehr aus, mich jahrelang nachts aufschrecken zu sehen, weil ich die Bilder des Krieges nicht vergessen konnte. Sie hat mich vor einem Jahr verlassen. Nein, wir haben uns nicht im Bösen getrennt. Ich kann sie sehr gut verstehen. Es war wirklich nicht leicht mit mir.

Seit sie fort ist, habe ich die Zeit zum Nachdenken genutzt. Ich habe angefangen, mir eine neue Arbeit zu suchen. Vielleicht klappt es ja sogar – und irgendeine Firma stellt mich ein. Mich. Den Krüppel. Vielleicht habe ich wirklich Glück. So, wie ich schon einmal Glück hatte.

Nur eine Frage lässt mich nicht zur Ruhe kommen.

Immer wieder denke ich darüber nach und finde keine Antwort. Keine befriedigende Antwort. Ich frage mich, weshalb ich meinen Fuß verloren habe. Warum habe ich in einem Krieg gekämpft, in dem es nur Verlierer geben konnte? Wem habe ich meinen Fuß geopfert? Irgendeiner gerechten Sache? Was kann so gerecht sein, dass es den Fuß eines Menschen als Opfer fordert? Was hat es mit Gerechtigkeit zu tun, dass Tausende nicht nur Füße, Beine, Hände oder Finger verloren, sondern ihr Leben?

Ich finde die Antwort nicht. Vielleicht finde ich keine Antwort, weil es keine Antwort gibt...?

Hallo! Die Fülle der Rechtschreibfehler bitte ich zu entschuldigen! Ich habe einfach nur geschrieben, geschrieben, geschrieben... - und abgeschickt. Nächstes Mal achte ich darauf, auch Korrektur zu lesen! KDHKlaus-D. Heid, Anmerkung zur Geschichte

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