Jutta Koppmann

Dilemma


Der starre Blick bringt mich ins Wanken, mein Mund fühlt sich trocken an und ich versuche, keine Angst zu zeigen. Zum ersten Mal erlebe ich Hass, und dieser Hass ist auf mich gerichtet, stellt alles in Frage wofür ich stehe, was ich glaube, was ich bin. Mein Kopf versucht verzweifelt rational dagegen anzugehen, es geht nicht um dich, der Hass und die Wut richten sich gegen ihn selbst und die Welt, und du bist nur ein zufälliges Opfer. Doch mein Bauch, mein Herz rebellieren, ich will schreien, ich bin nicht schuld, du hast deine Wahl getroffen und ich meine, ich habe den einen, du den anderen Weg gewählt. Doch ich fühle mich schuldig, mein ganzer Körper will sich entschuldigen, für das, was passiert auf dieser Welt, ich will die Konsequenzen tragen, will die Last abnehmen, die auf allen Schultern lastet, nur um diesem Hass zu entgehen. Nur um zu beweisen, dass ich nicht der Feind bin.
Mein Kopf versucht noch immer mich zu überzeugen, appelliert an meinen Verstand, an mein Selbstwertgefühl, daran, dass es unmöglich ist, Schuld für einen Fremden zu übernehmen. Daran, dass ich nichts an Vergangenem, an Geschehenem ändern kann. Dass ich nur meine Hand, meine Schulter habe, um das Jetzt zu lindern, und selbst das ist nicht meine Entscheidung, selbst das kann ich niemanden abnehmen.
Der Blick ruht schon lange nicht mehr auf mir, ich habe gar nicht bemerkt, dass ich schon wieder allein mit meinen Gedanken, meinen Gefühlen, meinen Stimmen bin.
Mein Kopf flüstert nur noch, doch die Verzweiflung und Angst in meinem Bauch ist der Wut gewichen. Ich bin wütend über die Anmaßung, diesen irrationalen Hass, ich bin wütend auf mich selbst, dass ich mich verzweifelt und schlecht fühle, und wütend auf das Elend, dem wir alle so hilflos gegenüber stehen, und keiner weiß, warum wir gefangen sind in dieser Hilflosigkeit.
Ich beruhige mich, so wie ich es immer tue, und die Rationalität übernimmt wieder. Ich kann nachvollziehen woher dieser Hass kommt, warum er sich auf mich richtet, warum er so ist, wie er ist.
Doch wenn ich alleine bin, in den Stunden, wo kein Geschrei, keine neuen unfassbaren Geschichten auf mich einprasseln, wo kein Elend mich umgibt, nur meine eigene persönliche Geschichte den Ton angibt, meldet sich alles wieder zu Wort.
Die Stimmen kehren zurück, die Wut, die Verzweiflung, die Angst.
Die Geschichten, das Elend, die Unfassbarkeit und die Hilflosigkeit meinerseits lassen meine Gedanken, meine Gefühle rasen.
Ich stehe immer noch fassungslos vor diesen Realitäten, fassungslos wie jemand, der aus einer völlig fremden Welt kommt. Wie jemand, der sein ganzes Leben behütet worden ist, beschützt, und dem die Wahl für seinen Weg immer gelungen ist, gestützt durch alles, was ihn umgibt.
Ich habe soviel von dieser Realität, dieser echten Welt gelernt. Ich habe gelernt, ohne mich selbst hinein zu stürzen, ohne den gleichen Hass zu verspüren.
Und andererseits ohne mich in scheinbare Professionalität zu flüchten. Ich weiß nicht, wie sich dieses Elend anfühlt, ich weiß nicht, warum das langsame Vergiften seines Lebens als Lösung gewählt wird, ich weiß nicht, wie sich die unfassbaren, unvorstellbaren Dinge anfühlen, die ein Kind, einen Menschen zerstören können. Ich weiß es nicht, weil ich es nie erlebt habe, weil ich allem danke, dass ich so werden konnte, wie ich heute bin.
Aber ich weiß, dass ich nicht weglaufe vor solchen Geschichten, dass ich zuhöre, das ich weghöre, dass ich da bin. Ich kann keine Entscheidung treffen, ich kann nur anbieten, ich bin da, wenn du dich entscheidest. Ich laufe nicht weg vor dir, aber die Last musst du alleine tragen, ich kann dir nur die Hand reichen. Ich kann nur sagen, ich bin da.
Ich muss mich nicht mehr rechtfertigen vor mir selbst und vor anderen. Ich habe meinen Grund gefunden, warum ich mich diesem Hass aussetze, warum ich Frustration, Hilflosigkeit und Elend in Kauf nehme.
Vielleicht hat es mit Schuld, Gewissen oder einer seltsamen Art Befriedigung zu tun. Vielleicht ist es aber eher, andere an meiner Stärke teilhaben zu lassen, den ich habe meine Stärke erkannt. Ich habe erkannt, wo mein Leben mich hingeführt hat, dass ich richtige Entscheidungen in meinem Leben getroffen habe, dass all die Möglichkeiten, die mir jetzt offen stehen, nur darauf warten, genutzt zu werden.
Ich kann nicht heilen, aber ich kann versuchen zu ändern.
Und ich habe gesehen, wie viel es zu ändern gibt, wie viel Elend und Leid verhindert werden könnte, wenn die Menschen nicht weglaufen würden vor solchen Geschichten.
Ich laufe nicht mehr weg, ich stelle mich.
Und doch, der starre Blick, erfüllt von Hass, bringt mich ins Wanken, lässt mich Verzweiflung und Angst spüren. Lässt mich nach Ausflüchten suchen, damit ich mich der Unfassbarkeit, ausgelöst durch uns, Gesellschaft, Menschen, wie man es nennen mag, nicht stellen muss.
Doch ich bleibe, auch wenn mein Bauch schreit, lauf, du hast damit nichts zu tun.
Ich stelle mich, ich bleibe, ich kann sagen, ich bin da.
Vielleicht ist das mein ganz persönlicher Grund, meine persönliche Befriedigung.
Ich laufe nicht mehr weg, ich stelle mich.

Da ich als Studentin der Sozialen Arbeit mich immer wieder Fragen und ungläubigen Blicken aussetzten muss, war ich aum immer wieder gezwungen, selbst über meine Motive nachzudenken. Auch um Weg vom Helferkomplex zu kommen. Bei einem halbjährigen Praktikum in einer Einrichtung für Obdachlose und Drogensüchtige, habe ich meinen Grund gefunden. So wie ich ihn beschrieben habe hier. Es ist und bleibt ein Dilemma, aber es ist eins, mit dem ich mich gerne auseinandersetze.Jutta Koppmann, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 09.08.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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