Ines Wertenbroch

Die falsche Bestellung


Wir hatten uns in dem Restaurant am Marktplatz um 19.00 Uhr verabredet. Die anderen wa-ren schon da, als ich ankam. Es war ein Treffen unter Arbeitskollegen. Wir verabschiedeten an diesem Abend Andreas, der nach zwei Jahren seine Stelle bei uns aufgab, um in der Nähe eine neue anzunehmen. Die Gründe dafür kannte ich nicht. Ich wusste kaum etwas über ihn.

Ich schaute mir die Runde an, in der ich mich befand und bemerkte, dass Aaron mir gegen-über saß. Er blickte nicht zurück. Er schien mit der Speisekarte beschäftigt. Bislang hatte ich nur selten ein Wort mit ihm gewechselt.
Sein Gesicht war schmal und ein wenig kantig. Er trug meist dunkle Kleidung, die seinem Gesicht unter dem dunkelbraunen Haar eine klare Kontur gab. Er erinnerte mich an das Ge-mälde eines Betteljungen, der seinen Betrachter aus blauen Augen herausfordernd ansah. Ob-wohl er in einer Ecke kauerte, schien er um seine wirkliche Stärke zu wissen. Wie zum Sprung bereit.
Ich hatte vergessen, in die Karte zu sehen. Der Kellner stand bereits am Tisch und nahm die Bestellung der anderen auf. Schnell entschied ich mich für ein Cordon Bleu und einen ge-mischten Salat.

Der Abend zog sich hin. Mal sprach ich mit Sylvia, die rechts von mir saß oder mit Frank, links von mir.
Aaron sprach nur wenig und richtete meist das Wort an Frank.
Häufiger spürte ich Andreas’ Blick auf mir ruhen und vermied es, hoch zu schauen. Als ich es doch nicht vermeiden konnte, lächelte er mich an. Sein Lächeln war schief und unter der gro-ßen spitzen Nase verloren. Sein Kinn und die Oberlippe waren unrasiert, was im gedämpften Licht fleckig wirkte.
Ich erwiderte seinen Blick kaum und schaute auf meine Hände. Mit den Fingern drehte ich mein Glas hin und her. Ich versuchte, meine Konzentration auf das Gespräch von Aaron und Frank zu richten. Sie sprachen über den drohenden Irak-Krieg. Über die Rolle, die Deutsch-land spielen würde.
„Da können wir sowieso nichts machen!“ schaltete sich Andreas ein. Frank und Aaron hielten kurz inne und führten ihre Unterhaltung ohne einen Kommentar dazu fort.
Andreas schaute auf mich und fragte: „Was meinst du?“
Ich stellte mein Glas ab. „Deutschland sollte alles tun, um sich gegen den Krieg einzusetzen. Und wir sind ein Teil von Deutschland, also sollten wir uns wehren und nicht abwarten, bis es zu spät ist oder aufgeben.“
Andreas senkte den Kopf. Er legte seine Arme auf den Tisch und im nächsten Moment wieder auf seine Oberschenkel, so dass er gebeugt vor dem Tisch saß.
Aaron hatte mir zugehört und lächelte. Seine Augen sahen aus wie zwei klare dunkelblaue Seen. Angeleuchtet von einer Kerze schienen sie ein wenig zu funkeln. Ich blickte hinunter und nahm mein Glas wieder in die Hände.
Andreas fragte mit erhobener Stimme: „Ja, was sollen wir denn tun?“
Im gleichen Tonfall antwortete Aaron: „Wenn ich wüsste, wie man einen Krieg verhindern könnte, wäre ich ein reicher Mann, weil ich unter anderem schon den Golf-Krieg verhindert hätte. Das ist jetzt der einzige Grund, warum ich noch arbeiten muss.“
Andreas fasste sich an die Nase und schnaufte kurz auf.
„Ich komm gleich wieder.“ Er ging in Richtung Toiletten.
„Wenn Andreas wieder da ist, gebe ich noch eine Runde aus und dann sollten wir den Abend für heute beenden“, meinte Frank und unterdrückte diplomatisch ein Lächeln.
Kurz bevor wir zum Gehen aufbrachen, fragte mich Andreas, ob ich ihn nach Hause bringen könnte. Es regnete und er wäre mit dem Fahrrad hergekommen. Es stellte sich heraus, dass er nur zwei Straßen von mir entfernt wohnte. Sofort kam ihm die Idee, dass wir uns gegenseitig besuchen sollten. Es wäre doch zu schade, wenn der Kontakt abbrechen würde. Er bat mich, noch zu mir mitzukommen, bis der Regen aufhören würde. Dann würde er mit seinem Fahr-rad zu seiner Wohnung fahren und ich müsste ihn nicht mehr mit dem Auto dorthin fahren.
Alles, was er sagte, schien mir sinnvoll, dennoch hämmerte es in meinem Kopf.

„Darf ich deine Toilette benutzen“, fragte er mich, als ich die Wohnungstür aufschloss. „Ja, natürlich“, gab ich reflexartig zurück.
Ich warf einen kurzen Blick durch mein Wohnzimmer, während Andreas ins Badezimmer ging. Er schloss die Tür nicht ab. Vielleicht aus Gewohnheit nicht.
Ich räumte schnell einige Zeitschriften weg und öffnete das Fenster. Sollte ich ihm noch einen Tee anbieten? Nein, lieber nicht, sonst würde es noch später werden.
Es dauerte eine Weile, bis Andreas wieder aus dem Badezimmer kam. „Ich habe das Fenster im Bad aufgestellt.“ Er sah mich nicht an und hatte den Kopf gesenkt. „Ich habe schon den ganzen Tag zeitweise Bauchschmerzen und gerade habe ich gemerkt, dass ich...“ Er stockte. „...Durchfall habe“, beendete er seinen Satz. „Ich habe wohl etwas Falsches gegessen.“
„Ja, das kann passieren. Ist es denn schon besser?“ Ich ging auf einen Stuhl zu, um den Ab-stand zu ihm zu vergrößern. Von ihm ging ein strenger Geruch aus, den ich zuvor noch nicht bemerkt hatte.
„Setz dich doch. Möchtest du einen Tee?“ Jetzt hatte doch mein schlechtes Gewissen gesiegt.
„Nein, danke.“ Er setzte sich mir gegenüber und schaute mich an.
„Soll ich Musik anstellen?“ versuchte ich es weiter. Ich stand von meinem Stuhl auf.
„Nein, von mir aus nicht.“ Er beobachtete meine Bewegungen. Ich stellte mich an das Fens-ter. Frische Abendluft zog von draußen herein. Ich atmete tief durch. Der Raum war mir mit einem Male zu eng. Als kämen die Wände langsam auf mich zu. Ich konnte nicht genug Luft einatmen.
Ich sollte nicht mit dem Rücken zu ihm stehen, fuhr es mir durch den Kopf. Ich ging auf das Sideboard zu, das im Raum stand, und lehnte mich an.
Andreas sah sich im Zimmer um. „Du hast hier Bilder von Dalí. Magst du seine Kunst?“ frag-te er.
„Ja“, antwortete ich. Ich verspürte das Bedürfnis, nach draußen zu rennen und mich in den Regen zu stellen.
Andreas stand auf und blieb mitten im Raum stehen. Er befand sich direkt unter der Haupt-lampe, so dass das Licht auf seinen Kopf schien. Dann kam er auf mich zu. Sein Körper stand mir wie eine hängende Marionette gegenüber. Das Gesicht wirkte bleich. Seine Nase hatte einen harten hölzernen Umriss. Das mittelblonde Haar war ungekämmt und sah fettig aus. Der strenge Geruch umgab mich wie ein Nebel.
„Du bist wirklich eine interessante Frau“, meinte er und sah mir in die Augen. Sein Blick kam mir vor wie verschwommene Wasserfarbe.
Er beugte sich leicht vor. Ich bewegte mich wortlos in Richtung Stuhl.
„Kannst du mir noch deine Telefonnummer geben, damit wir demnächst ein Treffen vereinba-ren können?“ fragte er mich.
„Ja, ich schreibe sie sofort auf.“ Ich holte einen kleinen Zettel und einen Stift.
„Wir können uns dann bei mir treffen. Am liebsten nachmittags. Ich werde einen Kuchen ba-cken“, schlug er vor.
„Ja, gern“, antwortete ich und schaute dabei auf die Uhr. Es war schon nach Mitternacht.
„Es regnet nicht mehr, Andreas. Am besten fährst du jetzt nach Hause, bevor es wieder an-fängt.“
„Ja, in Ordnung. Aber ich hoffe, dass wir uns bald wiedersehen.“ Er zog seine Jacke über und nahm den Zettel mit meiner Nummer vom Tisch.
Ich begleitete ihn in den Flur und öffnete die Haustür. Er stand unerwartet dicht vor mir und sah mir lächelnd in die Augen. Worauf wartete er?
Ich hatte meine Hand noch auf der Türklinke liegen.
„Komm gut nach Hause. Wäre nett, wenn du mich wegen dem Treffen demnächst anrufst“, sagte ich, einen Blickkontakt vermeidend.
„Ja, werde ich bestimmt. Schlaf gut.“ Er ging einige Schritte vor und sah mir über die Schul-ter noch einmal in die Augen.
„Danke. Bis dann.“ Sobald er aus dem Türrahmen gegangen war, machte ich die Tür zu und drehte den Schlüssel zweimal um.
Ich rannte ans Fenster und öffnete es ganz. Es hatte wieder zu regnen begonnen.

(Ines Wertenbroch, 1. März 2003)

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