Manfred Gries

Eine Hymne an das Leben

Es war das laute Klingeln des Telefons, das mich aus meinen Träumen riss. So früh hatte es noch nie geläutet und das verhieß nichts Gutes. Aber schlaftrunken, wie ich war, wurde mir das nicht bewusst. “Kann ich Ihre Frau sprechen?“ Die Stimme unseres Hausarztes klang durch die Leitung. “Ist etwas Besonderes?“ fragte ich zurück. “Das kann ich nur Ihrer Frau sagen,“ gab er mir zur Antwort. Also weckte ich sie, langsam selbst erwachend. Das Ergebnis des Telefonates bekam ich nur noch unbewusst mit. Ich verrichtete in kürzester Zeit meine Morgentoilette, begab mich in unseren Wagen samt meiner Frau und erreichte kurze Zeit später das Krankenhaus.


In der Ambulanz konnte ich die ersten klaren Gedanken fassen. Was war geschehen? Eine von den vielen Proben, die bei diversen Magenspiegelungen entnommen worden waren, war positiv. Positiv? Welch ein Wort für ein Untersuchungsergebnis. Positiv heißt, ein Magentumor war entdeckt worden und im Gegensatz zu anderen Erkrankungen schien diese höchster Eile zu bedürfen. “Sie müssen schnellstens operiert werden“, ließ sich nach einiger Wartezeit der diensthabende Arzt vernehmen, der meine Frau im Krankenhaus aufnahm. Er strahlte Ruhe aus. In diesen Stunden konnte ich den Umfang dessen, was in den kommenden 4 Jahren folgte, nicht einmal erahnen.


Nach der Operation erklärte uns der Chirurg, was man vorgenommen hatte. Eine Totalresektion des Magens mit Ersatzmagenbildung durch ein Stück des Darms. Für alle, die mit dem Fremdwort Resektion nichts anfangen können, man hatte den Magen komplett entfernt und die umliegenden Lymphknoten ebenso. Der Befund erklärte uns schließlich genau, um was es sich handelte. Ein Siegelring Karzinom im 2. Stadium, Methastasenbildung um den Herd im Umkreis von 3 mm.

Natürlich hatten weder meine Frau noch ich zu diesem Zeitpunkt einen Schimmer, was das bedeutete. Wir gingen davon aus, dass mit der OP alles gut war. Langsam begann meine Frau wieder zu Kräften zu kommen.


Es beruhigte uns umso mehr, dass die Ärzte von einer Chemotherapie abrieten. Trotzdem wollte ich Näheres wissen und so begann ich nachzuforschen, was das für ein Krebs war. Schnellwachsender, sehr seltener Tumor mit wenig Behandlungsmöglichkeiten. So ganz traute ich den Aussagen nicht, sagte also auch meiner Frau nichts darüber. Sie musste erst einmal wieder ins Leben finden.


Zwischen diesem Ereignis und dem Tag, als meine Frau vom Hausarzt kommend mit Tränen in der Tür stand, verging ein Jahr. Ein Jahr voller Geschichten. Es war wieder etwas entdeckt worden. Diesmal war eine Chemotherapie unumgänglich und diesmal war es mir auch nicht mehr genug, Dokumente zu lesen. Ich suchte einen Spezialisten auf.

“Sie müssen wissen“, sagte der, “dieser Tumor bildet Abtropfmetastasen und die Prognose ist eine Überlebensdauer von 2 Jahren. Wenn sie jetzt eine Chemo macht, so hat das den Sinn, die Lebensqualität in diesem Zeitraum aufrecht zu erhalten. Sie siecht nicht einfach dahin, sondern wird sich noch eine Zeit wohl fühlen, bis das Ende dann schnell kommt.“


Im Parkhaus des Krankenhauses wollte ich mit meinem letzten 5-Mark-Schein bezahlen, Kreditkarten nahmen die nicht. Aber auch keine 5-Mark-Scheine. Der Parkwächter behauptete fest, diese Scheine gäbe es schon lange nicht mehr. Sie seien ungültig. Er ließ mich aber trotzdem ohne Bezahlung meiner Wege ziehen, ein Auge zudrückend. Was nun? Deshalb hatte man keine Chemo nach der ersten OP angesetzt. Es ging einfach nur noch darum, meine Frau so lange und so gut am Leben zu erhalten, wie es ging.

Ich behielt diese Kenntnis für mich und hatte den Willen, mit meiner Frau zu kämpfen. Um jedes Stück Leben, das ihr blieb. So eine Chemotherapie ist kein Zuckerschlecken und die Übelkeit verlangt einem Menschen schon viel ab. Aber sie war tapfer. Sie kämpfte mit. Inzwischen organisierte ich eine Verbindung in ein antroposophisches Krankenhaus, das mit Misteltherapie arbeitet und dessen Spezialist ein sehr menschlicher Arzt ist. Nach der Chemo fuhren wir dann regelmäßig zur Aufnahme von Blutbildern in dieses Krankenhaus. Die Analyse mussten wir allerdings selbst bezahlen, da das Verfahren nicht kassenärztlich anerkannt ist. In dieser Zeit schrieb ich das Lied “Zeit der Hoffnung“.

Es verging wieder eine Zeit, in der meine Frau etwas zu Kräften kam bis, ja bis zum Tag des ersten Darmverschlusses. Die Abtropfmetastasen begannen den Bauchraum zu füllen. Eine erneute OP wurde notwendig und ein sogenannter Anus Praeter unumgänglich. Tapfer begann meine Frau zu erlernen, wie man mit so einem seitlichen Ausgang umgeht. Immer in der Hoffnung, dass es ja nur ein zeitlich begrenzter Ausgang sein würde. Irgendwann würde man den wieder zumachen. Außerdem war ein Teil des Weges durch den Darm noch frei, sodass auch der normale Stuhlgang möglich war.

1996 begann aber auch dieser Weg sich zu verschließen. Meine Frau war im 3. Jahr, hatte also schon die durchschnittliche Lebenserwartung überschritten. Und es begann die Zeit, in der regelmäßig der Darm ausgepumpt wurde. Inzwischen war ein Pflegedienst ständiger Gast in unserem Haus. Aber auch ich übernahm diesen Job hin und wieder, später machte es meine Frau dann selbst.

Ich kann mich noch erinnern, im Winter 1996 wurde sie dann ganz gelb am Körper, die Galle setzte aus. Die Ärzte schauten mich an und fragten: “Sollen wir sie nicht in Frieden einschlafen lassen?“ Ich unterstützte den Willen meiner Frau. Sie wollte noch nicht einschlafen. Wer will das auch schon mit 36 Jahren. Also kam zu dem Anus Preter auch noch ein Gallenausgang. Sie war eine tapfere Person und schlief schließlich an Herzversagen ein. 4 Jahre Kampf waren zu Ende an einem Tag im Juni 1997. Es war 17:00 Uhr. Im September wäre sie 37 geworden.

Es gibt viele Geschichten, die das Leben schreibt und unsere Geschichte (n) gehört (en) zu uns. Sie macht (en)uns zu dem, der wir sind. Wohl dem, der die Worte lesen kann, ohne sie zu beurteilen.Manfred Gries, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 18.08.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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