Wolfgang Hoor

1957 oder die Kinokarte

Rosemarie Nitribit wird ermordet. Osama bin Laden wird geboren. Zum ersten Mal wird die Sendung “Zum Blauen Bock” ausgestrahlt. Die CDU gewinnt bei der Bundestagswahl die absolute Mehrheit.

 

Ob sie es schaffen würde allein zu sein? Es ging auf halb drei zu und ihr dreizehnjähriger Bruder Armin war noch immer nicht da. Er hatte samstags gegen zwölf Uhr Schulschluss, sie erwartete ihn seit ein Uhr. Einen Nudelauflauf hatte sie für ihn vorbereitet; sie wusste, das mochte er. Und auf dem Tisch lag die Kinokarte für ihn. Sie hatte ihm schon die ganze Woche vorgeschwärmt, wie toll „Ladykillers” sei und Alec Guiness müsse man einfach sehen. Der sei vielleicht der beste Schauspieler der Welt. Wenn Armin jetzt käme und gegessen hätte, könnte er noch die Nachmittagsvorstellung erreichen, und sie wäre allein – wie geplant allein. Sie setzte sich, lauschte, ließ die Seiten des Buches, das auf dem Tisch lag, durch ihre Hände gleiten, und überlegte, ob alles ordentlich und aufgeräumt aussah. Das Wohnzimmer und ihr eigenes Zimmer hatte sie schon in Ordnung gebracht, im Badezimmer hatte sie die Wanne auf Hochglanz poliert. Warum musste Armin ausgerechnet heute so trödeln? Ob er etwas gemerkt hatte?

 

Er kam gegen halb drei, warf mürrisch seine Tasche in eine Ecke, sagte kein Wort, während sie ihn bediente, pickte in seinem Leibgericht herum und aß kaum was. „Was ist los?”

„Hab ne Strafarbeit in Geschichte auf. Muss was über Alexander von Humboldt zusammenschreiben.”

Dann stand er auf, um in sein Zimmer zu gehen.

„Komm!”, rief sie, „reg‘ dich ab. Enspann‘ dich. Ich hab ne Kinokarte für dich gekauft. Für die Nachmittagsvorstellung. ‚Ladykillers‘. Die Strafarbeit hat doch noch Zeit.”

Er schaute erstaunt auf. „Du kaufst mir ne Kinokarte?”

„Wenn du nicht gehst, verfällt sie. Ich hab‘ den Film ja schon gesehen.”

„Du kaufst mir ne Kinokarte?”

„Warum denn nicht? Ich bin schließlich deine Schwester.”

Er schüttelte den Kopf. „Heute will ich nicht ins Kino.”

„Ruf Jochen an. Der will bestimmt ins Kino.“

„ICH, ICH will nicht, verstehst du?“

„Ich versteh’s nicht. Erklär mir’s.“

Er schaute seine Schwester lange an. Seine Augen wurden feucht.

„Ach Scheiße. Jochen kriegt kein Geld fürs Kino.“

Sie zog ihren Geldbeutel heraus.

„Hier. Zwei Mark. Die Karte kostet einsachtzig.”

Schließlich nahm er das Geld und die Kinokarte stumm entgegen, und kurze Zeit später hörte sie die Haustür schlagen. Er muss in einer höllischen Verfassung sein, dachte sie. Aber der Film wird ihn ablenken.

 

Sie brachte die Küche in Ordnung und setzte sich ins Wohnzimmer. Was sie mit diesem Buch anfangen sollte, wusste sie nicht. Er hatte es ihr mitgegeben. Er wollte mit ihr über dieses Buch sprechen. Albert Camus, „Die Pest”. Sie hatte das erste Kapitel angelesen. Die Beschreibung, wie die Ratten aufgetaucht waren, hatte sie abgeschreckt. Sie hatte keine Lust auf eine Horrorgeschichte. Auch wenn der Verfasser dieses Jahr den Literatur-Nobelpreis bekommen hatte, war das kein Grund, sowas zu lesen. Warum sollte sie sich überhaupt mit Literatur beschäftigen? Er besuchte sie doch hoffentlich nicht wegen eines Romans! Aber sie hatte Norbert versprochen, in das Buch reinzuschauen. Das ist ein Schriftsteller, der schreiben kann, hatte er gesagt. Sie hatte es nicht gemerkt, aber Norbert kannte sich mit sowas aus.

 

Sie würde erzählen, dass sie für die nächste Klausur gepaukt habe. Für die schriftliche Zwischenprüfung in Französisch. Sie schaute auf die Uhr. Der Zeiger wanderte unbeirrbar vor. Warum kommt er denn nicht? Jetzt war die Luft doch rein! Ob sie anrufen sollte? Sie hatten doch halb vier abgemacht. Er würde mit dem Bus kommen. Da konnte doch eigentlich nichts schief laufen.

 

Sie telefonierte gegen vier. Es ging niemand dran. Das war ein gutes Zeichen. Dann war er unterwegs. Sie hatte Norbert auf dem Uni-Ball zu einem Walzer aufgefordert und dann waren sie sechs Tänze lang zusammen geblieben. Er hatte ihre Anschmiegsamkeit und Anpassungsfähigkeit gelobt und sie hatten zusammen gelacht, wenn mal was schief gegangen war. Beim Tanzen war er wunderbar gewesen. Er hatte sie Püppchen genannt. War das eigentlich ein Kompliment gewesen? Sie waren in so herrlicher Stimmung gewesen, er hätte Äffchen sagen können, und es wäre ein Kompliment gewesen.

 

Vielleicht sollte sie noch ein bisschen was über Camus lesen. Seit dem Uniball hatten sie sich regelmäßig beim Essen getroffen. Er war immer liebenswürdig gewesen, aber doch ein bisschen von oben herab. Das war ja auch irgendwie natürlich. Er war im 10. Semester. Ein Kommilitone hatte ihn einen Überflieger genannte, und er würde schon bald Examen und danach bestimmt den Doktor machen. Der Stolz auf ihn sprang sie an, ihre Magengrube kribbelte. Und jetzt hier zu Hause würde es ein Tete-a-Tete geben. Warum musste er dann immer von so anstrengenden Sachen wie neuen Büchern reden?

 

Also nochmal Camus. Wenigstens müsste sie wissen, was über ihn in dieser Taschenbuchausgabe stand. So, so, er kam aus Oran, aus Algerien, er war sowas wie ein weißer Afrikaner und er hatte im Widerstand gegen die Deutschen in Paris gearbeitet. Beides sprach nicht unbedingt für Camus. Aber da stand auch, dass das Buch ein Anti-Kriegsbuch war. Das war gut, gegen den Krieg war sie natürlich auch wie alle vernünftigen Leute. Norbert würde sich freuen, wenn sie ihm das sagen konnte.

Er verstand eine Menge von Literatur, aber er redete zu lange über literarische Fragen, und vieles von dem, was er sagte, verstand sie nicht.

 

Heute sprechen wir nicht mehr als zehn Minuten über Literatur, würde sie ihm sagen. Und in meinem Zimmer kein Sterbenswörtchen mehr davon. Vielleicht käme es zu einem richtigen Zungenkuss, diesmal. Sie ekelte sich davor, aber es gehörte dazu, das wusste sie, und man musste es erlernen. Mit dem Schwarzen, der so gut tanzen konnte, hätte sie sich nie so küssen können, aber mit Norbert vielleicht doch. Diesen Überflieger Norbert würde sie, wenn es soweit wäre, ihren Eltern vorstellen. Er hatte alle Eigenschaften, die ihre Eltern schätzten: Er war groß, schlank, hielt sich gerade, legte Wert auf eine gepflegte Kleidung, war intelligent und katholisch. Das letzte war besonders wichtig. Aber noch war es ja nicht sicher, dass er ihren Eltern vorgestellt werden wollte. Dass er heute kommen würde, heimlich, bei Abwesenheit der Eltern, war sein Plan gewesen. „Wir wollen erst mal schauen!”, hatte er gesagt. Sie hatte nicht zu fragen gewagt, was er damit meine.

 

Sie telefonierte wieder gegen halb fünf. Sie glaubte nicht mehr, dass er unterwegs war. Vielleicht hatte es wegen des Termins ein Missverständnis gegeben. Sie ließ es zehnmal klingeln, dann legte sie auf. Sie fühlte sich elend. Wenn er nicht dran ging, verleugnete er sie vielleicht. Aber was hätte er für einen Grund haben sollen? Vielleicht, weil sie eine Zeitlang mit einem Schwarzen zusammen gewesen war. Vielleicht dachte er, dass da so einiges gelaufen sei.

 

Fast alle dachten über Schwarze, dass sie schrecklich sinnlich sind und wie die Kinder und dass sie sicher nicht längere Zeit mit einer jungen Frau gehen können, ohne bestimmte Dinge von ihr zu fordern. Sie spürte, wie eine schreckliche Wut gegen ihren früheren schwarzen Freund Joe in ihr aufstieg. Wie undankbar er gewesen war, als sie versucht hatte, sich friedlich von ihm zu trennen! Was er ihr für lächerliche Vorwürfe gemacht hatte! Dass sie ihn ihren Eltern nicht vorgestellt habe, das sei nichts weiter als Rassismus gewesen. Das hatte er ihr gesagt, IHR, die sie doch immer auf die Ausländer zugegangen war, ob es nun Franzosen, Engländer oder Italiener gewesen waren.

 

Gegen fünf hörte sie im Vorgarten Schritte. Sie rannte zur Haustür und riss sie auf. Es war nicht Norbert. Es war Armin. Er kam hereingestapft und warf die Kinokarte, die sie ihm gekauft hatte, auf die Kommode im Windfang. Als sie ihn fragte, was los sei, sah er sie mit leidenden Augen an. Es sah fast aus, als wären seine Augen feucht. „Komm ins Wohnzimmer, da reden wir!”, sagte sie.

 

Sie saßen einander eine Zeitlang wortlos gegenüber.

„Es ist wegen der Delana!”, stammelte er.

Nach einer langen Pause: „Das ist die Neue in der sieben, in der Mädchenschule. Es geht das Gerücht, dass die ne Zigeunerin ist. Ein total temperamentvolles Mädchen mit ganz dunklen, leuchtenden Augen und schwarzen Haaren. Total süß.”

„Ne Zigeunerin?”

„Ja, warum nicht? Nach der Schule hab ich sie in der Milchbar allein an einem Tisch vor einer Tasse Kakao gesehen; ich hab hallo gesagt und sie gefragt, wie es ihr hier so geht, sie sei doch die Neue. Da hat sie mich an ihren Tisch eingeladen und ich hab auch einen Kakao getrunken. Sie hat zuerst gesagt, es geht ihr gut hier und sie findet ihre neue Schule toll. Aber dann hat sie mich gefragt, was an ihr so schrecklich ist, sie würden überall blöde Witze über sie machen. ‚Gar nichts‘, hab ich ihr gesagt. Da hat sie ganz glücklich ausgesehen. Und dann hab ich ihr gesagt, dass ich sie total süß finde. Da hat sie mich ne Zeitlang ganz bescheuert angestarrt und ist dann plötzlich aufgesprungen und hat mir eine geklebt und ist wütend davongelaufen. Verstehst du das?”

„Vielleicht hat sie gedacht, du willst sie anmachen oder dich auch über sie lustig machen.”

„Vorhin habe ich sie vor dem Kino wiedergesehen. Sie war wieder allein. Ich hab Jochen gefragt, ob wir mit ihr ins Kino gehen sollen. Da hat er gesagt: ‚Mit der doch nicht. Das ist ne Zigeunerin.‘ Da bin ich hierher zurückgelaufen und pfeife auf die Ladykillers.” Mit diesen Worten sprang er unvermittelt auf und verschwand in seinem Zimmer.

 

Armer Junge, dachte sie, erste Liebe, erster Sturm; was ihm noch alles bevorstehen würde! Stolz war sie auf ihn. Er ließ sich nicht von den anderen dazu verleiten, ein Zigeunermädchen zu verachten. (Zigeunermädchen, Zigeunermädchen ... Die Melodie begann ihr Gehirn zu überfluten.) Genau wie sie zu dem Afrikaner gehalten hatte, ihrem Tänzer! Gegen den war dieser eingebildete Norbert gar nichts.

 

Sie vergrub „Die Pest” von Camus im Garten. Norbert kam dazu.

„Warum vergräbst du ein Buch?“

„Das ist ein Grab für einen Schnösel. Ich will nicht mehr an ihn denken.“

Norbert zog die Kinokarte aus der Hosentasche.

„Dann kommt die mit da rein. Damit ich nicht immer an Delana denken muss und wie beschissen wir sie vor dem Kino haben stehen lassen.“

 

1957. Die Homosexualität bleibt in Deutschland strafbar, der erste sowjetische Sputnik umkreist die Erde und kann weder Gott noch die Gefühle entdecken, mit denen sich die Menschen das Leben schwer machen. Aber es geht aufwärts. In den USA sorgt die Armee dafür, dass in Little Rock neun schwarze amerikanische Schüler die High Scool besuchen dürfen, die bisher Weißen vorbehalten war, und ein feiger Anschlag auf die „Mona Lisa” von Leonardo da Vinci durch einen Steinwurf bleibt folgenlos.

Der junge Armin stellt eine Entwicklungsgeschichte dar. In dieser Episode beginnt er zu verstehen, wie seine Zeit noch immer von Vorurteilen bestimmt wird und wie schwer es ist, sich gegen die Vorurteile aufzulehnen. Seine Schwester macht ähnliche Erfahrungen. Wolfgang Hoor, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 26.10.2019. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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