Margit Marion Mädel

Das Reich des Wolfsdrache

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Margit Marion Mädel
August 2003

Das Reich des Wolfsdrache
Teil 1

Am sonnigem Ufer der Weser aalte sich einst ein stattlicher junger Mann. Er lag dort im kurzen Gras, die Augen geschlossen, und genoss die Wärme des Sommers. Zwar hatte er es nicht nötig, seine Haut der prallen Sonne auszusetzen, denn er war von Kopf bis Fuß braungebrannt. Dennoch streckte er sich wohlig und ließ die Lichtstrahlen auf seinem nackten Körper spielen, die auch das letzte Wassertröpfchen, das noch von seinem Tauchgang im Fluss übriggeblieben war, gierig aufsaugten. So lag er da und träumte davon, an den gegenüberliegenden Waldhängen mit seinem Drachen herunterzugleiten. Er stellte sich vor, wie fantastisch das Schweben unter den Wolken sein würde - die Muskeln angespannt, den Wind im Gesicht... und während er so träumte, streifte ihn ein weiches Wolfsschwänzchen über die Nasenspitze.
Er musste laut niesen, und durch die Wucht des Niesens war das Wolfsschwänzchen verschwunden.
Komisch, dachte er - habe ich das geträumt? Ein Wolf an der Weser? Zum Kuckuck, das kann doch nicht sein! Ich fantasiere wohl schon! Er erhob sich, lief mit schnellen, federnden Schritten zum Ufer und sprang wieder hinein in das kühle Nass. Aber er hätte es wissen müssen, dass es nicht gut tat, erst ewig bei dreißig Grad Hitze in der prallen Mittagssonne zu schmoren und dann holterdiepolter ins kalte Wasser zu stürzen. Kaum, dass sein Körper in die kühlen Wellen eintauchte, begann sein Kreislauf zu kollabieren. Ihm wurde schwarz vor Augen, und er sank in einen merkwürdigen Traum.
Der Schwanz der Wölfin wedelte wieder vor seiner Nase, und mit zarter, lieblicher Stimme sagte sie zu ihm: "Komm, halt dich fest an meinem Schweif, ich ziehe dich an Land!"
Ralph, so hieß der braungebrannte Jüngling, griff mit beiden Händen nach dem weichen Schweif der Wölfin und hielt sich mit letzter Kraft daran fest. Sie zog den leblosen Körper des jungen Mannes ans Ufer und schleifte ihn unter eine dichte, geschützte. Hecke, wo die Sonnenstrahlen nicht hindurch scheinen konnten. Ringsum den Leib des Mannes scharrte sie kühle Erde und bettete ihn sorgfältig darin ein. Dann legte sie sich zu seinem Haupte und wachte über ihn, damit er schnell genesen möge. Keinen Blick ließ die Wölfin von ihm. Ganz genau beobachtete sie ihn, hoffte auf jede Regung des Mannes, der so leblos vor ihr lag. Sie stupste ihn mit ihrer feuchten Nase an, schob mit ihrer Schnauze, knurrte leise - doch er rührte sich nicht. Ohne es richtig zu verstehen, verliebte sich Wölfchen in das Antlitz des Jünglings. Wie zart er war, und so samtig weich! Diese geschwungenen Lippen, das ausgeprägte Kinn und die sanften Augenwinkel, alles an ihm fand sie bezaubernd schön. Dazu, dass schwarze glänzende Haar, welches wie Ebenholz funkelte - sie konnte den Blick gar nicht von ihm lösen. Jeden Atemzug zählte sie mit, jeden Herzschlag konnte sie hören. Da auch die Wölfin langsam müde wurde, schmiegte sie ihr Haupt an Ralphs Schulter, und während das eine Auge schon schlief, wachte das andere noch über ihren Schützling.

So lagen sie wohl einige Stunden, jeder gefangen in seinen eigenen Träumen. Rhiannon, so hieß die junge Wölfin, träumte davon, dass ihr Vater, der Wolfsdrache, sie endlich in ihrer wahren Gestalt den Menschen zeigen würde. Ihr Vater liebte sein einziges Töchterchen über alles, und weil er sie vor den schwarzen Zauberer Mordwin schützen wollte, hatte er seinen alten Zauberer Merdwin gebeten, sie in eine Wölfin zu verwandeln. Sie sollte, solange im Wolfspelz bleiben, bis ein Mann sich so sehr in sie verliebte, dass er sie auch als Wölfin zu seiner Gemahlin nehmen würde. Rhiannon war sehr traurig über ihr Los. Sie glaubte schon längst nicht mehr daran, dass das eines Tages wahr werden würde und ein junger Mann sie derart mögen könnte. Warum nur war ihre Mutter so jung gestorben? Sie würde es bestimmt nicht dulden, dass ihr Herzenskind im Wolfspelz leben musste.
Rhiannon sah sich in ihrem Traum vor dem Spiegel des Großen Palastes stehen. Hier konnte sie ihre wahre Gestalt betrachten, das schmale Gesicht, den wohlgeformten Körper. Dunkle, strahlende Augen, voller Glanz und Lebensfreude, leuchteten ihr aus dem Spiegelbild entgegen. Sie war eingehüllt in hauchzarte Seidenstoffe, die jede Kontur des Körpers hervorhoben... unwillkürlich liefen Rhiannon Tränen über das Gesicht, fingen sich in ihren langen Tasthaaren, fielen sanft auf Ralphs Schulter. Die Tränen formten sich zu kleinen Kristallen und blieben auf der Haut des Jünglings haften.
Ralph hingegen war in seinen Träumen ganz wo anders. Er schwebte hoch am Himmel, gehalten von einem der schönsten Gleitdrachen, die er je gesehen hatte. Zartviolett war er, mit einem grünen Schimmer. Das Blau der Atmosphäre filterte durch die Wolken und tauchte alles um ihn herum in ein unwirkliches Licht. Er kreiste über die schönste Landschaft, die er je von oben zu sehen bekommen hatte. Das Drachenfliegen war von jeher seine größte Leidenschaft, er nutze jede Gelegenheit, die sich ihm bot, um mit seinem chevronförmigen Fluggerät in die Wolken aufsteigen zu können. Meist waren es nur die wenigen Urlaubstage im Jahr, an welchen er seinem Vergnügen noch nachgehen konnte. Als neuentdeckter Schriftsteller hatte er kaum Zeit für seine Hobbys. Einerseits freute er sich, dass er in so kurzer Zeit so berühmt und bekannt geworden war. Das Genre des Romanschreibens an sich, und auch die ständige Neuerfindung seines eigenen Stils, waren eine Herausforderung, und er liebte Herausforderungen über alles. Andererseits jedoch waren ihm all seine Verpflichtungen gewaltig über den Kopf gewachsen. Zu viele Termine, dazu der Lieferdruck für die Buchvorlagen, und manchmal hielt er es einfach nicht mehr aus und verschwand irgendwo im Lande, dahin, wo er glaubte, unerkannt ein paar Tage abschalten zu können. Hier, nahe dem verträumten Städtchen am Ufer der Weser, hatte er vor vielen Jahren das Drachenfliegen gelernt und in unzähligen Flügen perfektioniert. Nirgendwo anders hatte er je wieder solch fantastische Flugerlebnisse gehabt wie über dem Weserbergland. Er liebte dieses Stück Erde. Hierher zog es ihn immer wieder zurück. Wie jeder andere auch konnte er hier durch die märchenhafte Altstadt schlendern, ohne befürchten zu müssen, von Passanten gleich überfallen zu werden und Autogramme schreiben zu müssen.
Auch jetzt glitt er mit seinem prächtigen Gleitdrachen über die Hänge hinunter zur Weser, eingefangen von der Thermik, die hinauf zum wilden Solling strömte. Immer wieder kreiste er in endlosen Runden, schraubte sich langsam nach unten. Als er seinen Drachen sicher wieder zu Boden gebracht hat, bestaunte er diesen erst einmal. Die Schwingen waren mit einem Symbol gezeichnet, welches er nicht zuzuordnen vermochte. Ein Drache, und auch wieder kein Drache - eher ein Wolfsgesicht - und dennoch kein Wolf. Sehr lange haftete sein Blick auf diesem Gebilde. Diese Augen, mandelförmig, dunkel und klar, ließen seine Blicke immer wieder auf die Schwingen seines Drachens gleiten. Ein langer Schweif, fast silbergrau, flatterte am hinteren Ende. Er wollte ihn berühren, das Material erkunden, die Textur fühlen. Doch als er seine Hand ausstreckte, war der Drachen, mit dem er soeben noch geflogen war, verschwunden.

Der Jüngling wälzte sich hin und her und murmelte unverständliche Sätze - sofort war Rhiannon, die Wölfin, hellwach. Sie schlief ja eh nur mit einem geschlossenen Auge. Als sie ihn vorsichtig mit der Nase anstupste, bemerkte sie, dass sich seine Haut ganz heiß anfühlte. Er hatte offensichtlich Fieberträume bekommen. Bange und in großer Sorge überlegte sie, was sie tun könnte, um den schönen jungen Mann zu retten.
Da öffneten sich die Sträucher neben ihnen. Eine in weiße Schleier gehüllte Frau trat zu Rhiannon.
"Hör mir gut zu, mein Kind!" sprach sie und fuhr fort, "Nimm diese Kristalltränen auf, bewahre sie gut, sie werden dir einmal sehr von Nutzen sein. Solltest du in großer Gefahr sein, dann wirf eine dieser Tränen hinter dich, und dir wird sofort Hilfe zu Teil werden. Hier habe ich noch eine Kappe, einen Stab und ein Pelzchen für dich. Welchen Zweck diese Gegenstände erfüllen sollen, das musst du allerdings selbst herausfinden. Jedoch habe keine Furcht, ich bin immer in deiner Nähe und werde acht geben, dass dir kein Unrecht geschehe."
Kaum hatte die freundliche Frau dies gesprochen, war sie auch schon wieder verschwunden. Die Wölfin konnte nicht einmal nach ihrem Namen fragen und sich für die Geschenke bedanken. Vorsichtig verstaute Rhiannon die Geschenke unter ihrem Fell. Den sperrigen Stab jedoch steckte sie dem Jüngling an die Hüften, gehalten von einer Gürtelschlaufe würde er so nicht verloren gehen. Eine der Kristalltränen warf sie hinter sich und bat inständig: "Bring uns heim in meines Vaters Reich!"
Kaum hatte sie dies ausgesprochen, lag der Jüngling im Palastgarten ihres Vaters, genau neben dem großen Brunnen. Rhiannon hockte auf ihren Hinterpfoten wachend neben ihm, bereit, jedem Feind entgegen zu treten. Als sie ihren Vater sah, lief sie zu ihm und bat ihn, dem Jüngling zu helfen.
Wolfsdrache war gar nicht begeistert, dass seine Tochter einen Menschensohn in sein Reich gebracht hatte. Aber da er nun einmal hier war, musste ihm auch geholfen werden. Der alte Wolfsdrache war ein sehr sensibles Wesen und konnte keinem etwas zu Leide tun.
Einst, als sein Leben noch in Ordnung war, er noch als fescher Jüngling in seinem Reich regierte, gab es nie Leid in seinem Reich. Als er dann seine schöne Kyra heiratete und der schwarze Zauberer des Nachbarreiches davon hörte, wie bezaubernd und schön Kyra sei, begann das Unheil in Wolfsdrachens Reich. Mordwin, der böse Zauberer, setzte alles daran, Kyra für sich zu gewinnen. Jeden Tag versuchte er, sie in anderer Gestalt zu beirren. Doch Kyra bemerkte die Intrigen und blieb standhaft und treu. Das brachte Mordwin zur Weisglut, und er verwandelte sich eines Tages in ihren über alles geliebten Mann. Dies Zauberwerk durchschaute Kyra leider nicht, und sie verfiel dem schwarzen Zauberer. Von Tag an hatte er sie in seiner Gewalt, und sie konnte nicht mehr zurück zu ihrem Angetrauten. Was sie jedoch noch viel mehr schmerzte, war, dass sie ihr neugeborenes Kind von nun an nicht mehr sehen durfte. Mordwin war aber noch grausamer, als sie es sich vorstellen konnte, denn er verzauberte ihren geliebten Mann in einen Wolfsdrachen, und sein ganzes Reich wurde für die Menschheit unsichtbar. Alles weitere Leben erlosch zu Staub. Nur Rhiannon konnte der schwarze Zauberer nichts anhaben, denn sie war durch ihre Unschuld und Reinheit vor ihm geschützt. Zumindest bis zu ihrer Volljährigkeit würde dieser Zustand andauern.
Ihr Vater Wolfsdrache aber hatte einen alten Freund, den guten Zauberer Merdwin. Gemeinsam hatten die beiden einen Weg gefunden, wie sie Rhiannon vor dem schwarzen Zauberer beschützen konnten, denn nur wenn Merdwin sie vorher selbst mit einem Zauber belegte, konnte Mordwin ihr nichts mehr anhaben. So entschlossen sich die Freunde, Rhiannon im Jahre ihrer Volljährigkeit zur Wölfin zu machen, bis dass ein Jüngling sie freien möge.
Vater hatte seiner Tochter nie erzählt, was sich damals zugetragen hatte. Er ließ Rhiannon in dem Glauben aufwachsen, dass ihre Mutter kurz nach ihrer Geburt verstorben sei. Er wollte ihr Kummer und Sorge um die geliebte Frau und Mutter ersparen.
Als er nun den Jüngling vor dem Brunnen liegen sah, schickte er Rhiannon sofort zu Merdwin.
"Sage meinem alten Freund, er wird dringend benötigt - und er soll seine Kräuter und Heilmittelchen mitbringen. Ich trage den Jüngling in dein Zimmer, dort kann er sich erholen."
Er packte den jungen Mann und trug ihn hinein in den Großen Palast. Es war schon eine Ewigkeit her, seit Wolfsdrache den Palast betreten hatte. Seit dem schrecklichen Tag hielt er sich meist in der freien Natur auf, denn dort fühlte er sich wesentlich wohler, und er hatte sein weiches Bett gegen die Scheune mit prallgefülltem Strohlager getauscht. Hier draußen hatte er Platz für seine unförmige Gestalt - halb Wolf, halb Drache - der schwarze Zauberer hatte wirklich ganze Arbeit geleistet. So musste der alte Wolfsdrache schließlich immerfort in Einsamkeit leben, weil in diesem Aussehen keiner seine Gesellschaft mögen würde. Was war er froh, dass hin und wieder wenigstens Merdwin, sein alter Freund, zu ihm kam und mit ihm über alte Zeiten plauderte. Der lebte auf einem der großen Hügel, wo in einem Bergeinschnitt eine große Höhle lag. Hier hatte er sich häuslich niedergelassen und studierte nun schon viele Jahre die alten Runen und Schriften seiner Ahnen, denn er suchte eine Möglichkeit, den Zauber von Mordwin zu bannen. In seinen Kupferkesseln brodelten täglich andere Mixturen. Kräuter hingen zum Trocknen an den Wänden, an den feuchten Balken hatten Fledermäuse ihren Platz gefunden. Wieder einmal hatte Merdwin eine neue Rezeptur gefunden und war fleißig am Rühren im großen Kupferkessel, als Rhiannon hereingestürmt kam und schon von weitem rief: "Merdwin! Wir brauchen deine Hilfe! Komm, packe ein Paar Kräuter und Tinkturen in dein Ränzlein und folge mir, schnell!"
"Langsam, langsam, mein Kind! Siehst du nicht, dass ich gerade am Erfinden bin? Vielleicht habe ich diesmal Glück und kann deinen Vater erlösen. Willst du das aufs Spiel setzen? Ich kann hier nicht weg, wenigstens nicht, bevor der Brei richtig grün ist."
Er zog einen Fetzen Stoff aus seiner Kutte und schniefte erst einmal kräftig hinein.
"Siehst du, erkältet habe ich mich auch, komme nicht einmal dazu, meine eigenen Säfte zu trinken. Viel zu wichtig ist mir mein Ziel, deinen Vater zu helfen."
"Es geht jetzt gar nicht um Vater, Merdwin!" seufzte Rhiannon. "Ein Jüngling braucht unsere Hilfe und wenn du ihm nicht hilfst, dann wird er vielleicht sterben!"
"Ein Jüngling? Wo in aller Welt soll hier ein Menschensohn herkommen? Willst du mich alten Greis verkohlmeiern?? Das ist aber wirklich nicht nett von dir."
"Bitte, Merdwin, glaub mir doch, ich habe ihn mitgebracht von dem Menschenland, welches ich heute durchstreifte. Er war am Ertrinken, ich habe ihn aus dem Fluss gezogen und dann mit hier hergebracht."
"Weißt du, was du da angerichtet hast, Rhiannon? Wenn das Mordwin erfährt, ist es um den Jüngling eh geschehen."
"Wir können ihn doch aber verstecken und beschützen, oder etwa nicht?" fragte Rhiannon besorgt den alten Zauberer. "Mich schützt du mit deinem Zauber doch auch vor Mordwin, also kannst du das auch mit dem Menschensohn. Du wirst mich doch nicht im Stich lassen? Merdwin, bitte, wenn du ihn siehst, wirst du verstehen... Er hat so ein wunderbares Lächeln, und sein Haar schimmert wie pures Ebenholz, ach, und überhaupt er ist der schönste Jüngling, den ich je gesehen habe."
Merdwin schmunzelte.
"Wie viele Jünglinge hast du denn je gesehen, meine liebe Rhiannon? Höchstens den einen, und gleich an den ersten hast du dein Herz verloren? Na, wenn das so ist, muss ich wohl mitkommen, sonst mache ich dich ja unglücklich, und das würde dein Vater mir nie verzeihen."
Merdwin lief zu seinem schweren runden Eichentisch und beugte sich über die große Kristallkugel, welche darauf Platz gefunden hatte. Er legte seine Hände über die Kugel und sprach: "Zeig mir den Weg des Menschenkindes."
Rhiannon hockte neben Merdwin. Den Schweif zwischen den Hinterpfoten eingeklemmt und den Kopf hoch gehoben, staunte sie, als sie den Jüngling in ihrem einst so geliebtem himmelblauem Himmelbett liegen sah. Da lag er und schlief unruhig, und Merdwin erkannte, was zu tun war. Schnell ein paar Kräuter von den Wänden sammelnd und ein Fläschchen Honigwasser greifend, machte er sich sofort mit Rhiannon auf den Weg hinunter zum Palast. In seiner Eile hatte er allerdings vergessen, unter seinem Kupferkessel das Feuer neu zu schüren, und so siechte der Brei nur noch langsam quellend vor sich hin. Die Fledermäuse wurden neugierig, was der Zauberer wohl leckeres gekocht hatte, und klebten sich an den Rand des Kessels, eng an einander gequetscht, fest. Ungeschickt, wie sie waren, fielen gleich mehrere von ihnen hinein in die schmierige Pampe und köchelten nun in dem Zauberbrei dahin.
Rhiannon und Merdwin waren in der Zwischenzeit bei dem Menschensohn angekommen, und der Zauberer verabreichte ihm gleich mehrere große Löffel voll mit seiner Medizin. Rhiannon hockte wieder aufgeregt und unruhig neben dem Himmelbett und wedelte heftig mit ihrem Schweif.
"Wann wird er denn endlich wieder wach?" Immer wieder stammelte sie die Worte vor sich hin.
Merdwin streichelte der Wölfin sanft über den Rücken und sagte tröstend: "Er wird noch ein Weilchen schlafen, befürchte ich, denn so ein Hitzeschlag braucht seine Zeit, bevor der Körper sich davon erholt. Hab keine Bange, er wird keinen Schaden davon nehmen. Ich stelle ihm hier noch einen Becher mit Heilsäften auf das Schränkchen, und die kann er trinken, wenn er erwacht. Du kannst mir ja Bescheid geben, denn ich muss zu meiner Höhle und meine Mixtur für Deinen Vater fertig brauen."
Schon war Merdwin auf dem Heimweg. Rhiannon sah den Schlafenden an, ließ den Blick ihrer Bernsteinaugen über sein Gesicht gleiten, seine Hände, und verliebte sich immer mehr in ihn. Sie sprang vorsichtig auf das Bett und legte sich zu seinen Füßen nieder. Wie schön könnte es sein, wäre sie nur das Wesen, das sie eigentlich war - aber sie wusste ja, dass ihr Vater sie nur schützen wollte.
Plötzlich raschelte es am Fenster. Rhiannon konnte die Flügelschläge eines Vogels vernehmen. Sie hob den Kopf, spitzte ihre Ohren und versuchte, Witterung aufzunehmen, um zu ergründen, wer sich da zum verlassenen Palast verirrt hatte. Draußen sah sie eine große, schwarze Krähe, welche versuchte, Halt an der glatten Fensterbank zu finden. Doch sie rutschte immer wieder ab und flatterte hektisch hin und her. Neugierig funkelten ihre scharfen Augen in den Schlafsaal hinein, um alles zu erspähen. Als ihr Blick Rhiannon streifte, schwang sie noch aufmerksamer ihre Flügel, um zu bitten, dass man ihr das Fenster öffnen möge. Doch wie sollte Rhiannon es öffnen, war sie doch eine Wölfin und kein Mensch. Aber sie spürte, dass die Krähe ihr wohl etwas wichtiges mitzuteilen hatte, und lief hinaus auf den großen Vorhof des Palastes. Die Krähe kam ihr auch schnell entgegengeflogen und setzte sich auf den Brunnerrand inmitten des Hofes. Rhiannon machte nicht viele Worte und erkundigte sich gleich, was wohl das Anliegen der Krähe sei.
"Ich komme vom Schloss des Mordwin. Eine junge Frau schickt mich zu euch, um dich zu warnen. Mordwin hat Wind davon bekommen, dass ihr einen Menschensohn aufgenommen habt und beherbergt. Er ist rasend vor Wut und Rage und steht an seinem Zauberkessel, um erneut einen Fluch über euch zu brauen."
"Welche junge Frau?" erkundigte sich Rhiannon.
"Das darf ich euch nicht sagen. Nur soviel, dass sie es gut mit euch meint und dir wohlgesonnen ist. Ich soll nun zwischen euch vermitteln. Sie wird euch Bescheid geben, was Mordwin im Schilde führt. Bringt den Menschensohn in Sicherheit - hier ist er zu leicht zu finden für den schwarzen Zauberer."
"Wohin soll ich ihn bringen? Solange er nicht aufwacht, kann ich ihn eh nicht dazu bewegen. Vielleicht flüchtet er sowieso, wenn er merkt, dass hier außer ihm kein Mensch ist. Warum sollte er dann hier bleiben wollen?"
Rhiannon versank wieder in Traurigkeit. Die Krähe flatterte und krächzte.
"Ich soll dich an die Geschenke erinnern, welche dir die weiße Frau machte. Sie werden dir helfen!"
Die Wölfin stellte zum Einverständnis ihre Tasthaare auf.
"Gut, ich werde sie nutzen."
"Krax, Krax," verabschiedete sich die Krähe. "Ich komme morgen wieder, bitte sei hier am Platz zur gleichen Zeit und Stunde."
Dankend verabschiedete sich Rhiannon von der Krähe und lief zurück in den großen Schlafsaal. Doch das blaue Himmelbett war leer! Der Jüngling war weg - jetzt musste sie überall schnuppern, um seine Fährte aufzunehmen. Aber in jedem Winkel roch es nach den Menschensohn! So lief Rhiannon von Raum zu Raum immer der Witterung nach, hinaus in den prächtigen Palastgarten, über all die Parkwege bis hin zur Scheune, in welcher Wolfsdrache sein Lager hatte.
Unterdessen lief Ralph wie in Trance durch das Gelände des Palastes. Er wusste nicht, ob er träumte oder wachte. Irgendwie kam ihm hier alles so bekannt vor, und andererseits wusste er genau, in dieser Gegend war er noch nie gewesen. Er bewunderte die wunderschön angelegten Rabatten im Park, bestaunte die vielen Eiben, Eschen und Eichen, welche so gerade gewachsen an den Wegrändern standen und sich beinahe vor ihm verneigten. Das Rauschen der Zweige klang wie liebliche Musik in seinen Ohren. Noch immer wusste er nicht, wo er sich befand, und wie er überhaupt hierher gekommen war. Da hörte er von weitem ein lautes Schnaufen und Schnarchen. Es kam aus der großen Scheune, welche von lauter Efeuranken zugewachsen war - nur da, wo sich das große Tor befand, hatte sich der Efeu nicht breit gemacht. Ein schön geschnitztes Eichentor blitzte hell zwischen den grünen Ranken hervor. Es war nur einen winzigen Spalt geöffnet, und Ralph steckte neugierig, aber auch vorsichtig seinen Kopf durch den Türspalt - schließlich wusste er ja nicht, was ihn hinter dem Tor erwarten würde.

In der Zwischenzeit hatte Merdwin sein Gebräu aus dem Kupferkessel in ein kleines Fässchen gefüllt und war eilends zu seinem Freund Wolfsdrache aufgebrochen, um ihm die neue Mixtur zu verabreichen. Denn wie stand in seiner Zauberformel: Da Wolfsdrache sich zur Mittagszeit immer einige Zeit in sein Strohlager verzog, um auszuruhen und der Hitze der Sonne zu entgehen, wusste Merdwin, wo er seinen Freund finden würde. Genau in dem Augenblick, als Ralph zum Türspalt hereinschaute, verabreichte Merdwin seinem Freund das Zaubermittel. Während Wolfsdrache ohne Murren das bittere Getränk schluckte, sprach Merdwin unverständliche Worte, um seinen Zauber zu bekräftigen.
Ralph hingegen traute seinen Augen nicht. Mehrmals schloss und öffnete er die Augen wieder - glaubte er doch zu fantasieren! Was für ein Wesen sah er da, war es eine Bestie? Und wie die aussah, halb Drache, halb Wolf - und dazu noch gerade und aufrechtstehend wie ein Mensch? Ich träume wohl noch immer, dachte er, das gibt es doch gar nicht! Bin ich jetzt von allen guten Geistern verlassen?
Langsam schlich er sich in die Scheune hinein und versteckte sich hinter einer alten Kutsche. Hier würde man ihn nicht gleich entdecken, denn er wollte herausfinden, was hier vor sich ging.
Als er auch noch hören konnte, dass die Bestie mit menschlicher Stimme Laute ausstieß in einer Sprache, die sogar er verstand, zweifelte er ganz und gar an seinen Sinnen.
Merdwin nahm seinen Stab, hielt ihn über den Wolfsdrachen und sprach: "Nun sei es - das Werk ist vollbracht! Jetzt, mein Freund, wirst du erlöst."
Wolfdrache begann, sich wie wild zu schütteln, sodass die gesamte Scheune ins Beben geriet. Immer kleiner machte sich Ralph hinter der Kutsche, um bloß nicht entdeckt zu werden.
Das alles hielt einige Minuten an, und während dieser Zeit verwandelte Wolfsdrache sich vor Ralphs und Merdwins Augen in einen riesigen Recken. Merdwin erschrak, als er sah, dass sein Freund statt seiner Arme und Hände die Flügel von Fledermäusen hatte. Er schimpfte sich selbst: "Du alter Narr, was hast du nun wieder gemacht! Bin ich nur wirklich zu nichts mehr zu gebrauchen? Dabei habe ich mich so sehr konzentriert und alles hundertprozentig angerührt - nichts hätte schief gehen dürfen!"
Wolfsdrache hingegen schaute auf seine Füße und seinen Körper und sagte: "Weißt du, Merdwin, nun bin ich mir doch schon ein ganzes Stück näher gekommen und muss wenigstens nicht mehr als Wolfsdrache herum laufen. Schau nur, ich sehe doch nun schon viel besser aus als die ganzen vergangenen Jahre! Ich vertraue dir. Beim nächsten Mal wirst du es bestimmt schaffen. Sei nicht traurig über dein kleines Missgeschick."
Merdwin konnte sich aber nicht so schnell abreagieren.
"Zum Kuckuck, ich möchte wissen, was passiert ist, als ich diesem Menschensohn die Medizin brachte. Irgend etwas muss in meinen Kessel gefallen sein, und meine Mixtur verdorben haben. Aber das finde ich noch heraus, denn ganz so senil bin ich doch noch nicht."
"Lass uns Rhiannon suchen," bat Wolfsdrache seinen Freund. "Sie wird sich freuen, dass ich nun doch schon eine stattliche Figur abgebe. Immerhin - schau meinen Körperwuchs an, besser sah ich in meinen kühnsten Tagen nicht aus! Na ja, dass du nicht an meinen gepflegten Bart gedacht hast, verzeihe ich dir. Den kann ich ja schließlich wachsen lassen. Jetzt bin ich gespannt, was mein Töchterchen dazu sagen wird!"
Kaum hatte er seine Gedanken ausgesprochen, kam Rhiannon zum Tor herein gelaufen. Sie wedelte heftig mit ihrem Schweif und schien ganz aufgeregt.
"Merdwin, Merdwin, der Menschensohn ist weg! Er liegt nicht mehr in seinem Bett!"
Da entdeckte sie Wolfsdrache. "Oh, wir haben Besuch? Willst du uns nicht bekannt machen? Wer ist der Recke in Fledermausgestalt?"
"Ich bin es Rhiannon, ich, dein Vater Wolfsdrache!"
"Was ist geschehen? Merdwin, was hast du nun wieder angerichtet? Konntest du deine Mixtur nicht erst selber ausprobieren?" rügte Rhiannon den guten Zauberer, der sich doch wirklich alle Mühe gegeben hatte, um seinen Freund endlich zu erlösen.
"Sei nicht so streng mit Merdwin, Rhiannon, denk doch, wie lange er keine Möglichkeit mehr hatte für seine Zauberkünste. Das ist wie mit jedem Handwerk - wenn man es längere Zeit nicht ausübt, muss man erst wieder neu beginnen, sich zurecht zu finden," erklärte Vater seiner Tochter.
"Schuld ist der Menschensohn, was habe ich mich auch von dir abbringen lassen," schimpfte Merdwin mit rauer Stimme.
Ralph wunderte sich immer mehr, nicht nur darüber, dass Merdwin aus der Bestie einen zwei Meter fünfzig großen Recken gemacht hatte, sondern auch darüber, wieso er einen Wolf sprechen hören konnte.
"Lieber Gott!" begann Ralph im Stillen zu beten: "Lieber Gott, was habe ich getan? Warum strafst du mich so? Sicher ich bin nicht der Gläubigste, und auch kein Kirchgänger, und gewiss habe ich in letzter Zeit etwas über die Strenge geschlagen in meinem Leben. Jede Gelegenheit genutzt, die sich mir bot, jedes Frauenzimmer mitgenommen - aber deshalb musst du mich nun nicht gleich so strafen! Wohin hast du mich hier entführt? Welche Prüfung soll ich bestehen? Antworte mir gefälligst, oder bin ich schon in der Hölle?"
Ralph konnte bitten und betteln, er bekam keine Antwort. Doch plötzlich musste er wieder niesen - einige von Wolfsschwänzchens Haaren waren unter seine Nase geflogen - und alle erschraken heftig, als sie das laute Geräusch hörten. Rhiannon lief gleich in die richtige Richtung und fand Ralph zusammengekauert neben der Kutsche.
"Ach so! Hier hast du dich versteckt! Ich mache mir Sorgen um dich, und du läufst einfach weg! Das ist nicht gerade eine höfliche Art. Konntest du nicht im Palast warten und schauen, wer sich um dich sorgt?" Rhiannon sah ihren Schützling vorwurfsvoll an.
Ralph war ganz blass geworden und fand keine Worte. Mühevoll stammelte er dann doch einige Fragen heraus.
"Wo bin ich hier? Was ist mit mir geschehen? Wer seid ihr, und wie komme ich hierher?"
"Langsam, mein Freund! Eins nach dem anderen," antwortete Merdwin, der sich dazu gesellt hatte. "Rhiannon, unser Wolfsschwänzchen, hat dir das Leben gerettet, als du am Ertrinken warst, und sie hat dich mit in unser Reich gebracht. Also, bitte etwas mehr Respekt und Achtung. Sie hätte dich ja im Wasser lassen können - aber sie hat ein so weiches Herz und schleppt dich bis zu uns!"
Da fiel es Ralph ein, dass er an der Weser schwimmen gegangen war. Genau so war es, er war ins Wasser gesprungen, und von da an wusste er nichts mehr.
"Nun wundere dich nicht länger," sagte Merdwin, "sondern sei froh, dass man dir geholfen hat! Genieße die Zeit, welche du bei uns verbringen darfst. Später wirst du erfahren, wo du bist und wer wir sind. Aber jetzt müssen wir uns um anderes kümmern, denn Mordwin wird nicht auf sich warten lassen. Er hat längst gewittert, dass ein Menschensohn in unserem Reich ist, und sein Hass auf Menschen ist so groß, dass er sicherlich schon einiges für dich ausgedacht hat."
"Wer ist Mordwin?" fragte Ralph stutzig nach. "In was für eine Welt bin ich nur geraten? Oder träume ich immer noch? Irgend etwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Oder bin ich ganz und gar schon tot und in der Anderswelt?"
"Keine Angst!" erwiderte Merdwin. "Tot bist du nicht, aber du stehst zwischen zwei Welten, der wahren und der, der Fantasie. Weil Rhiannon dich retten wollte, brachte sie dich mit in die Unsere. Verzeih ihr und mache das Beste daraus. Du wirst sehen, schlechter als in eurer Welt geht es hier auch nicht zu. Du musst nur Geduld haben. Wenn du es dann aber wirklich hier nicht aushältst und dein größter Wunsch es ist, zurückzukehren in deine Welt, dann wird dieser Wunsch dir gewährt. Nur solltest du auch etwas Dankbarkeit zeigen gegenüber deinen Gastgebern. Rhiannon und ihr Vater Wolfdrache werden alles tun, damit du dich hier wohl fühlst."
Rhiannon schmiegte sich sanft an die weichen Waden ihres Schützlings und stupste ihn immer wieder mit ihrer feuchten Nase an seinen nackten Füßen. Ralph streichelte ihr vorsichtig über das Fell.
"Sie ist ein wunderschönes Tier. Noch nie habe ich eine so prächtige Wölfin gesehen! Sie ist so sanft und zahm!"
"Das glaube ich dir aufs Wort," antwortete Merdwin. "Sie ist auch meine Kreatur, nirgendwo findest du ihresgleichen. Komm heute abend zu mir auf den Berg, ich werde dir von unserem Reich erzählen, das einst weit und breit im Fantasieland das schönste war."
Merdwin verabschiedete sich und machte sich wieder auf die Suche nach Kräutern und Wurzeln. Rhiannon und Ralph hingegen unternahmen einen Spaziergang durch das kleine Reich rund um den Palast. Die Wölfin wich Ralph nicht mehr von der Seite, und wenn sie sich irgendwo an einem Wiesenrand setzten, um Rast zu machen, schmiegte sie sich immer wieder sanft an seine Seite. Ralph legte seinen Arm um sie und kraulte sie zärtlich hinter den Ohren. Das ließ Rhiannon sich gefallen. So könnte sie es Tage, ja sogar Jahre aushalten - Hauptsache, Ralph bliebe an ihrer Seite.
Ralph wunderte sich, dass außer Rhiannon, ihrem Vater Wolfsdrache und Merdwin kein einziges Lebewesen zu finden war. Keine Tiere, keine Vögel - nicht einmal eine Fliege oder Schnecke fand er auf den Wegen. Jedoch wuchsen die Wiesen, Bäume und Sträucher kräftig und trugen viele Früchte. Er beschloss, Rhiannon dazu zu befragen.
"Kannst du mir sagen, warum ich hier keine Tiere sehen kann? Was speist ihr? Wovon ernährt ihr euch? Lebt ihr drei ganz allein in diesem schönem Wald? Ein Palast wie ein ganzes Königreich und doch so einsam und leer alles umher."
Da heulte die Wölfin leise auf.
"Das, mein Freund, war nicht immer so, aber aus dieser Zeit weiß ich kaum etwas, denn es war vor meiner Geburt. Ich weiß nur, dass der schwarze Zauberer Mordwin da seine Hände im Spiel hat. Meine Mutter starb nach meiner Geburt, und meinen Vater kennst du ja schon. Merdwin ist unser einzigster Freund, der uns blieb und uns die Treue hielt. Aber er wird dir heute abend mehr aus den schönen Zeiten unseres Reiches erzählen können. Verhungern tun wir nicht, du hast ja die vielen reifen Früchte unserer Bäume und Sträucher gesehen. Merdwin sammelt für mich immer reichlich Futter, deshalb glänzt auch mein Fell so schön. Er braut süßen Wein aus Beeren, und überhaupt kann er viele Gerichte bereiten, welche nahrhaft und sehr wohlschmeckend sind."
So verbrachten Rhiannon und Ralph jeden folgenden Tag zusammen. Immer dann, wenn Ralph ein Mittagsschläfchen machte, schlich sich Rhiannon heimlich weg, um sich mit der alten Krähe zu treffen. Die Krähe hielt ihr Versprechen und kam regelmäßig ins Reich des Wolfsdrachen geflogen, um Rhiannon genau zu berichten, was Mordwin treibe. Heute hatte sie keine guten Nachrichten für die Wölfin, und sie wusste noch nicht, wie sie es ihr beibringen sollte.
Beide saßen auf dem Brunnenrand, und Rhiannon erzählte der Krähe, wie glücklich sie sei, seit dieser Menschensohn bei ihr wäre. Die Krähe, hinter der sich niemand anderes verbarg als Rhiannons liebe Mutter, merkte sofort, dass ihr Kind sich unsterblich verliebt hatte.
"Krax, Krax!" begann die alte Krähe zu berichten: " Heute muss ich dir leider schlimme Nachrichten verkünden. Mordwin hat zwei grausame und schreckliche Kämpfer geschaffen, die deinen Menschensohn finden und töten sollen. Er schuf sie aus dem Übelsten überhaupt, keiner wird sich vor ihnen retten können. Und da er sie aus Stahl gefertigt hat, sind sie kaum zu besiegen. Sie haben kein Herz und keine Seele und können auch nicht selber denken, sondern hören nur auf die Befehle von Mordwin. Er gab ihnen die Namen Stahlritter des Teufels. Vor ihnen musst du deinen Menschensohn beschützen."
"Wie soll ich das schaffen? Wenn diese Stahlritter so gefährlich sind, habe ich doch gar keine Chance, oder? Weißt du etwas, was du mir vielleicht nicht sagen darfst?"
Rhiannon war sehr besorgt. Warum wollte man ihr den Menschensohn so schnell wieder nehmen? Die Krähe blickte sie aus ihren dunklen, weisen Augen an.
"Ich wage schon viel zu viel. Wenn Mordwin dahinter kommt, dass ich dir Nachricht bringe, bin ich für immer verloren, denn er wird auch mich töten. Aber das ist mir egal, ich will nicht länger sein Sklave sein und endlich wieder leben wie früher. Dafür ist mir jedes Opfer recht."
Rhiannon sorgte sich auch um die alte Krähe und schlug ihr vor, bei ihnen im Reich zu bleiben. Doch das konnte Rhiannons Mutter auf keinen Fall annehmen, denn würde sie länger als eine halbe Stunde hier verweilen, würde sie zu Staub zerfallen, und keiner konnte sie dann noch erlösen. Allerdings durfte sie dies auch niemandem erzählen, und so schwieg sie. Rhiannon wunderte sich nur, dass die Krähe jedes Mal die gemeinsamen Gespräche so abrupt abbrach, um wieder wegzukommen.
Heute riet die Krähe Rhiannon, den Menschensohn weit in die Berghöhle hinein zu bringen, dorthin, wo Merdwin lebte. Je tiefer der Jüngling in den Bergstollen hineinginge, desto sicherer sei er vor den Stahlrittern, denn dort würden sie die Fährte des jungen Mannes nicht so schnell aufspüren können. Die Krähe verabschiedete sich freundlich und flog davon. Eilig machte sich Rhiannon auf den Weg zu Merdwin, denn er sollte Ralph in die Berghöhle begleiten und ihn beschützen. So waren ihre Gedanken.
Wie gewohnt traf sie den alten Zauberer vor seinem Kupferkessel, wo er mit dem Brauen irgendwelcher Tinkturen beschäftigt war. Sie begrüßte Merdwin mit einigen Stupsen ihrer feuchten Nase an seinen Armen und überfiel ihn sofort mit ihrem Anliegen.
"Merdwin, du musst den Menschensohn im Inneren des Berges verstecken und bei ihm bleiben. Ralph ist in großer Gefahr. Der böse Zauberer Mordwin hat zwei Stahlritter erschaffen, die ihn töten sollen. Hier bei dir im Berg ist er am sichersten, jedoch musst du ihn so weit wie möglich ins Innere führen!"
"Dieser Nichtsnutz von Mordwin!" fluchte Merdwin. "Er findet immer neue Grausamkeiten, um sein Werk zu verrichten. Stahlritter, ja, die habe ich schon einmal besiegen müssen, vor vielen hundert Jahren. Ich werde meine Aufzeichnungen dazu suchen müssen, damit wir auch diese besiegen können. Habe mal keine Angst. Auch wenn ich alt und etwas senil geworden bin - ganz so schlimm, wie Mordwin denkt, bin ich noch nicht verkalkt. Da muss Mordwin früher aufstehen, um mich zu erschüttern."
"Na dann, dein Wort in Gottes Ohr!" antwortete Rhiannon. Ihr blieb ja keine andere Wahl, als dem alten Freund und Zauberer zu vertrauen.
Merdwin dachte nach, dann wandte er sich wieder an sie.
"Lauf jetzt und hol Ralph zu mir, damit wir uns auf den Weg ins Innere meines Berges begeben können. Wenn die Stahlritter schon unterwegs sind, haben wir keine Zeit zu verlieren, sondern müssen uns sputen. Hier, diesen Spiegel hänge ich dir um den Hals. Gib gut acht auf ihn, damit du ihn nicht verlierst. Immer, wenn du da hineinschaust, kannst du sehen, wo Ralph und ich gerade sind."
"Ich danke dir, Merdwin! Ich wüsste gar nicht, was ich ohne dich machen sollte!" Schon lief sie eilig davon zu ihrem Menschensohn.
Ralph hatte sich gerade mit Wolfsdrache in der Diele des Palastes niedergelassen. Sie sprachen von alten Zeiten, als es dem Reich des jetzigen Wolfsdrachen noch sehr gut ging. Aufmerksam saß Ralph Rhiannons Vater gegenüber und lauschte seinen Geschichten. Die große Tafel in Mitten des Raumes, an der sie Platz genommen hatten, fasste sechsunddreißig rustikale Eichenstühle. Daran konnte Ralph schon sehen, dass hier einmal viele Menschen glücklich zusammen gesessen hatten. Auch bewunderte er die Einrichtung der Räumlichkeiten im Palast. Alles zeugte von viel Wärme und Herzlichkeit. Jeden Tag standen neue Blumensträuße in den vielen Vasen auf den Konsolen und Tischchen, nur sah er niemals jemanden, der diese Arbeiten verrichtete. Ihm schien es oft wie in einem Zauberreich, wo alles durch unsichtbare Wesen gepflegt und gehegt wurde. Doch er fühlte sich hier sehr wohl. Es gab keine Hektik, keine Termine, keine Verpflichtungen anderen gegenüber. Er vermisste nichts und dachte oft, dass er aus diesem Traum auf gar keinen Fall geweckt werden mochte.
Aber, je mehr darüber nachdachte, verstand er auch, dass Wolfsdrache sein Volk vermisste, denn ewig so in Einsamkeit zu leben - das wäre auch für ihn zuviel. So fragte er Wolfsdrache geradeheraus, ob er ihnen wohl helfen könnte, um diesen Fluch und Zauber zu brechen. Er wäre gern dazu bereit, schließlich verdanke er ihm und seiner Tochter das eigene Leben. Wolfsdrache fühlte sich geehrt und bedankte sich bei Ralph. Aber er sagte auch, dass sie den Kampf gegen Mordwin gewinnen müssten.
"Wenn es ein Krieg wäre, dann hätten wir ja keine Bange, den würden wir alle mal gegen ihn gewinnen. Jedoch gegen diesen Fluch und die Macht des bösen Zauberers anzukommen wird schwer sein. Schließlich arbeitet Merdwin schon viele Jahre daran, und wenn ihm nichts mehr einfällt, wie wir den Zauber brechen können, wer sollte dann eine Lösung finden? Es braucht halt alles seine Zeit."
Das verstand sogar Ralph. Gegen Zauberflüche kam man nur mit Gegenzauber an. Dennoch dachte er sich: Irgendwie werde ich ihnen schon helfen können.
Als Rhiannon in die Diele gelaufen kam, das Schwänzchen hoch aufgestellt und damit wedelnd und mit aufrecht stehenden Ohren, erkannte Ralph sofort, dass Gefahr lauerte. Auch Vater Wolfsdrache wusste Bescheid.
"Was gibt es, mein Kind?"
"Ich muss dir Ralph entführen, er muss sofort in Sicherheit gebracht werden. Mordwin hat einen üblen Plan und will ihn töten lassen."
Kaum hatte Rhiannon alles berichtet, hörte man von draußen ein mächtiges Raunen und Wehen. Im Raum wurde es immer dunkler, und als Ralph zum Fenster schaute, sagte er: "Wir bekommen wohl ein Unwetter, der Himmel ist schon ganz schwarz."
"Ein Unwetter?" fragte Rhiannon. "Nein, Unwetter gibt es in unserem Reich nicht. Das werden schon Mordwins Gefährten sein. Komm schnell, wir müssen hier weg."
Sie nahm eine der Kristalltränen, welche sie einst von der weißen Frau am Strand bekommen hatte, warf diese hinter sich und sagte: "Bringe Ralph und mich schnell zu Merdwins Höhle!"
Kaum hatte sie ihren Satz beendet, standen beide neben Merdwin am Kupferkessel.
"Kinder! Wie könnt ihr einen alten Mann wie mich so erschrecken? Jetzt habe ich doch tatsächlich die ganze Dose Pfefferkraut in den Kessel fallen lassen. Geht in Deckung."
Aber die Warnung kam zu spät. Aus dem Kessel pfiffen die Feuersterne um Ralphs und Rhiannons Ohren, sodass beide sich schnellstens duckten und unter dem großem Tisch Schutz suchten.
Das Schauspiel erinnerte Ralph sofort an zu Hause und die vielen schönen Silvesternächte, welche er schon erlebt hatte. Er fand es genial und lobte den Zauberer für dieses Feuerwerk.
Doch Merdwin machte ein nachdenkliches Gesicht, die Stirn in Falten gezogen, die grauen dichten Augenbrauen nach oben gespitzt. Er drehte seinen Bart zwischen den Fingern und zwirbelte ihn zu einer Schnüre zusammen. Dann schrie er: "Potz Teufelsblitz, das ist ja kaum zu fassen! Ich habe gerade die genialste Erfindung geschafft! Daran braue ich nun schon so viele Jahre - nie hat es funktioniert! Rhiannon, lauf schnell zu Wolfsdrache, er soll kommen. Ich bringe in der Zeit deinen Menschensohn in Sicherheit. Den Kessel werde ich abdecken und verschließen, damit hier keiner wieder Unfug treiben kann."
Rhiannon und Ralph verstanden nichts, aber sie vertrauten dem guten Zauberer und taten, wie ihnen geheißen. Bevor sie ging, bat Rhiannon Ralph noch, vorsichtig zu sein und immer auf das zu hören, was Merdwin ihm sagte. Dann lief sie, den Schweif steil nach oben gestellt, geschwind den Berg hinunter.
Merdwin und Ralph machten sich auf den Weg ins Innere des Berges. An den Wänden schimmerten die unterschiedlichsten Kristalle in einer außergewöhnlichen Farbenpracht. Manche gaben einen so grell leuchtenden Schein ab, dass man überhaupt keine Fackel oder Lichter brauchte. Sie erhellten wie Straßenlaternen das Innere des Berges. Ralph bestaunte dieses Wunderwerk der Natur und konnte gar nicht genug davon bekommen. Er begann, zu jedem Kristall etwas zu erzählen, doch Merdwin drängte ihn zur Eile. Über die Pracht des Berginneren konnten sie ein anderes Mal noch ausführlicher reden.
Die Wege schlängelten sich durch den Felsen, manchmal dachte Ralph, dass sie hier doch gerade erst entlang gekommen waren. Aber Merdwin würde ja sicher den Weg kennen. So vertraute der Menschensohn dem alten Zauberer Merdwin und folgte ihm mit schnellen Schritten.
Immer schmaler wurde der Gang, und plötzlich sah Ralph ganz weit entfernt ein noch heller strahlendes Licht. Es funkelte wie pures Gold, und Ralph fragte erstaunt den alten Zauberer Merdwin, was dies wohl sei.
Merdwin antwortete: "Das wirst du gleich selber sehen, dort hinten bist du auf alle Fälle am sichersten aufgehoben, denn ich glaube kaum, das die Stahlritter dir dort etwas anhaben können."
Schon öffnete sich vor den Beiden Männern ein riesiges Firmament. Ein Funkeln und Glitzern, überall wohin sie schauten. "Vorsicht!" Rief Merdwin Ralph zu. Doch schon war Ralph geblendet von der Pracht der riesigen Höhle, die sich vor ihnen aufgetan hatte, ins Wasser gerutscht, und seine Schuhe und Hosenbeine waren pitschenass. "Das ist ja unglaublich," sagte er. "Man kann gar nicht sehen das hier Wasser ist!"
"Dies mein Freund, wird deine Rettung vor den Stahlrittern sein, lass uns schnell zur anderen Seite des Bergsees rudern!" forderte Merdwin, Ralph auf. "Rudern? Womit? Ich sehe weit und breit kein Boot."
Aber Ralph hatte vergessen wen er an seiner Seite hatte, denn nichts war einfacher für Merdwin, als ein kleines Ruderboot herbei zu zaubern. Merdwin legte eine kleine Walnussschale auf die Wasseroberfläche, murmelte ein paar Worte in seinen langgewachsenen grauen Bart, und schon schaukelte ein kleines Ruderboot am Ufer des Bergsees. Sie stiegen beide schnell ein und Ralph übernahm die Ruder und ruderte mit all seinen Kräften das Boot zur anderen Seite des Bergsees. Am anderem Ufer angekommen, ließ Merdwin das Boot auch gleich wieder verschwinden. Er führte Ralph in eine nahegelegene Grotte, und bat ihn etwas Feuer in der angelegten Feuerstelle anzuzünden. Aus einem verstaubten und mit Spinnenweben zugehangenen Regal aus Felsgestein kramte Merdwin einen alten Kupfertopf und hängte diesen über die Kochstelle der Feuerstätte.
"Nun werden wir es uns gemütlich machen, sollen die Stahlritter nun mal kommen, ich Weiß wie wir sie schlagen können. Such du derweil etwas Laub und Moos, damit wir unsere Schlafstätte herrichten können." bat er anschließend Ralph.
Ralph fand dies alles sehr abenteuerlich und fühlte sich fast wie Robinson. Er bestaunte die Felswände und fragte Merdwin, ob die aus puren Gold wären, und wieso hier keiner das Gold abbaue. Doch Merdwin lachte nur. Gold, als wäre das in seiner Welt wichtig, aber er wusste, irgendwann versteht dieser Menschensohn das schon noch alles.
Nachdem sie ihre Lagerstätte eingerichtet hatten, so dass sie es einige Zeit hier aushalten konnten, setzten sie sich ans Feuer und Merdwin erzählte Ralph wiederum aus alter Zeit. Er erzählte Ralph von Kyra, Wolfsdrachens Frau, wie bezaubern und schön sie gewesen war und ein Herz aus reinem Gold besaß - wie glücklich Wolfsdrache damals mit ihr war und das ganze Reich. Keiner kannte Not und Leid in diesem Reich. Doch Mordwin mit seinem boshaften Unterfangen habe dieses Reich verflucht und zerstört. Nur einmal in seinem Leben war er für wenige Minuten unaufmerksam, dass hat dieser Teufelsbraten von Mordwin ausgenutzt, und er selber fühlte sich so schuldig seit diesem Tage.
Ende Teil 1
Ff.

Hallo liebe Leser,
Diese Geschichte begann ich für eine liebe Freundin zu schreiben. Eigentlich wollte ich ihr damit nur eine Freude machen und ihr zeigen wie man Wirklichkeit in Fantasie verpacken kann. Ihr gefiel was ich da geschrieben hatte, und hier und da ersetzte sie einige Sätze und Worte mit den ihrigen - und die Geschichte begann immer mehr zu wachsen.Für uns hat diese Geschichte eine besondere Bedeutung und ich denke es werden noch viele Fortsetzungen folgen.
Sicher für jeden verständlich, das ich diese Geschichte meiner liebgewordenen Freundin, Andrea, widme, und ihr hier auch einmal Danke sagen möchte, für ihre Mithilfe an dieser Geschichte.
Nun wünsche ich allen Lesern viel Freude beim lesen -

Margit Marion Mädel
Margit Marion Mädel, Anmerkung zur Geschichte

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 31.08.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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doch man schweigt... von Margit Marion Mädel



...doch man schweigt... Ist ein Gemeinschaftswerk von Menschen, welche sich seit 2005 für Betroffene im Hartz IV und SGBII engagieren. Sie erleben Ausgrenzung, Schikanen, Sanktionen bis hin zu Suiziden von vielen Freunden aus eigenen Reihen, welche für sich keinen anderen Ausweg mehr sahen. Die Autoren versuchen in ihren Episoden und Gedichten das einzufangen, was das Leben zur Zeit für fast 10 Millionen Menschen birgt. Der Erlös des Buches geht zu 100% an den Verein Soziales Zentrum Höxter e.V., da wir wissen, hier wird Menschen tatsächlich geholfen.

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