Klaus-D. Heid

Das falsche Ende

„Hässliches kleines dummes Ding...!“ sagte ich zornig zu mir, bevor ich meinem Spiegelbild die Zunge herausstreckte und dabei fest die Augen zusammenkniff. Was sollte ich mir auch noch länger ein Gesicht ansehen, das auf Männer so reizvoll wirken musste, wie eine plattgesessene Hutschachtel? Welchem Kerl würde es wohl jemals gefallen, mich voller Verlangen zu betrachten? Wäre ich ein Mann und würde mir selbst gegenüberstehen – ich würde mir lediglich einen Blick des Bedauerns zuwerfen, um dann schleunigst das Weite zu suchen! Jemanden wie mich schaut man nicht gerne an. Jemanden wie mich schaut man überhaupt nicht an, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ. Mit diesem Umstand würde ich mich wohl oder übel, abfinden müssen.

Schon als Baby kam ich nicht in den Genuss, von verzückten Augen bewundert zu werden. Seit dem Tag meiner Geburt stieß meine Hässlichkeit jeden, einschließlich Mama und Papa, zutiefst ab. Niemand riss sich darum, die kleine Mina-Marie auf den Arm zu nehmen, um ihr tausend Küsschen auf die Wangen zu drücken. Obwohl man sich unter dem Namen ‚Mina-Marie’ durchaus ein sehr hübsches Mädchen vorstellen konnte, stand die Realität im krassen Gegensatz zum Klang meines Namens. Jeder Name wäre ein Fehlgriff gewesen, wenn er die Wirklichkeit meines Aussehens erahnen lassen sollte. ‚Grzzzkrryck’? Vielleicht hätte dieser Name gepasst – aber den gab’s ja leider nicht! Oder wäre ‚Zykklopps’ passend? Vielleicht ‚Pickklickk’? Unter ‚Mina-Marie’ würde ich mir jedenfalls besser ein zierliches blondes Mädchen vorstellen können, das, mit vollen schön geschwungenen Lippen, der Schwarm aller träumenden Jungs ist.

Ich habe keine blonde Prachtmähne. Stattdessen flattern auf meinem Kopf einige vereinzelte rote Haare herum, die kaum ausreichen, um meine Kopfhaut zu bedecken! Es ist unmöglich, diese lächerlichen Einzelstücke genetischer Verirrungen zu einer Frisur zu formen. Schlank bin ich auch nicht. Meine Oberschenkel würden jeden Elefanten mit Stolz erfüllen und mein Bauch berührt den Boden nur deshalb nicht, weil ich die Schwerkraft mit einem extrem breiten Gürtel überliste, wenn ich nicht gerade nackt bin. Busen? Welcher Busen? Pickklickk hat keinen Busen! Obwohl selbst die fettesten Mädchen über reichlich oberweite verfügen, hat mich die Stiefmutter Natur bei der Verteilung der Brustmassen vergessen. Zusammengefasst kann also gesagt werden, dass ich das unförmigste, schlecht proportionierteste und furchtbar aussehendste Geschöpf bin, dass es nicht fertig bringt, sich selbst ‚Mädchen’ zu nennen!

Meine Körpergröße beträgt einen Meter vierundfünfzig. Das ist zu viel zum Sterben und zu wenig zum Leben. Es reicht gerade so, um ohne Leiter die Blumen auf meiner Fensterbank gießen zu können. Und wer gießt mich? Wer lässt mich wachsen und erfreut sich an der Blüte meiner verkrusteten Pickelhaut? Niemand? Natürlich niemand! Ich kann’s keinem verdenken. Wer hat schon Lust, eine Kartoffelnase zu sehen, die kein Bauer seinen Schweinen zum Fraß vorwerfen würde? Wem gefiel es schon, in meinem Gesicht nach zwei Augen zu suchen, die bestens unter dicken Fettwülsten versteckt, kaum zu finden waren? Und weshalb bin ich nicht zumindest mit vollen weiblichen Lippen gesegnet? Wieso musste ich stattdessen mit schmalen Strichen auf die Welt kommen, die so viel Weiblichkeit ausstrahlten, wie eine Rasiermesserklinge?

Vor knapp einundzwanzig Jahren wurde ich auf die Welt geworfen. Da ich sowieso kein Wunschkind war und der Zeitpunkt meiner Geburt perfekt in die Scheidungsphase meiner Eltern fiel, hielt sich die Liebe, die man mir entgegenbrachte, in Grenzen. Mutter mochte eh keine Kinder und warf Vater vor, heimlich die Antibabypille gegen eine Vitamintablette vertauscht zu haben. Vater konterte damit, dass er an einem Kind so viel Interesse hatte, wie ein gesunder Mann sich nach einem Krebsgeschwür sehnt. Schlussendlich war ich also ein Tumor, dessen Eltern es versäumt hatten, ihn operativ entfernen zu lassen! Ich bin mir sicher, dass Mutter mich auch jetzt noch abtreiben würde, wenn sie noch am Leben wäre. Zum Glück oder zum Unglück bleibt mir die späte Abtreibung erspart, da Mutter und Vater, zufällig am gleichen Tag und auch getrennt voneinander, an Lungenkrebs starben. Manchmal geht das Schicksal seltsame unerklärliche Wege, um Gerechtigkeit walten zu lassen.

Ich hätte es nicht unbedingt als Ungerechtigkeit empfunden, wenn ich das Schicksal meiner Eltern geteilt hätte oder noch teilen durfte. Mein Leben macht keinen sinn mehr. Es hat noch nie Sinn gemacht. Es ist überflüssig wie ein Buckel, der mir gerade noch zu allem Unglück fehlte! Wer weiß? Vielleicht wuchs mir ja noch einer? Die Natur hat es wirklich so böse mit mir gemeint, dass mich auch das plötzliche Wachsen eines Buckels nicht sonderlich überraschen würde!

Manchmal frage ich mich, wie ich es zwanzig Jahre mit mir selbst aushalten konnte.

Hätte ich nicht irgendwann damit angefangen, mit meinen wurstigen Fingern all meine Gedanken und Gefühle zu Papier zu bringen, würde ich schon längst auf dem Grund irgendeines Sees liegen und die armen Fische mit meiner toten Gegenwart belästigen. So aber sitze ich Tag und Nacht inmitten riesiger Papierberge und schreibe, bis mir die Finger wehtun. Ich schreibe über meine Ängste und Befürchtungen; ich schreibe über meine Sehnsüchte und versiegende Hoffnungen. Alles, was in meinem hässlichen Kopf vor sich geht, landet in winzig geschriebenen Worten auf Papier.

Heute Abend werde ich das letzte Kapitel meiner Lebensgeschichte zuende schreiben. Es fehlt nicht mehr viel. Alleine das Thema ‚Einsamkeit’ hat fünfzig DIN A4 Seiten verschlungen. Weitere dreißig Seiten habe ich über die Sehnsucht nach Liebe geschrieben, die jeden Tag ein bisschen mehr von meiner Seele zerstört hat. Ich habe vergessen, wie viele Seiten Schmerz, Angst, Unsicherheit und Hoffnungslosigkeit gefüllt haben. Ist auch egal. Jetzt ist es egal. Das letzte Kapitel habe ich einfach nur ‚Ende’ genannt. Könnte es einen besseren Titel für das Ende geben? Es ist nicht so, dass ich wirklich traurig bin, dass das Ende erreicht ist. Ich habe sogar ein kleines bisschen von meinem Humor bewahrt, der mich immer daran gehindert hat, das letzte Kapitel viel früher zu schreiben. Wahrscheinlich würde mir ohne diesen Humor auch der Mut fehlen, das Ausrufungszeichen hinter den letzten Satz zu setzen.

Wie der letzte Satz lautet? Ganz einfach. Er lautet...

„...und Mina-Marie schlief ein, um für immer zu vergessen!““

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