Jens-Uwe Lawrenz

Mascha

In seiner Sehnsucht nach Geborgenheit glaubte er nur noch Frauen zu sehen. Überall Frauen. Manche entschuldigten sich bei ihm, wenn sie sich ihm gegenüber auf die Bank im Zug setzten, weil sie ihm den Umstand machten, seine Füße einziehen zu müssen. Und dann nach kurzzeitigen Anlächeln, welches einen dermaßen verschwörerischen Flair hatte, beachteten sie ihn nicht mehr. Bis sie dann zwei oder drei Stationen vor ihm dem Zug entstiegen. Manchmal erhaschte er dann noch einen letzten Blick und er überlegte in den nächsten Minuten, wie lange sie sich noch an ihn erinnern würden. Einige Frauen begegneten ihm auch in der Stadt, wo sie Kinderwagenschiebend an ihm vorbeigingen. Ihn eindeutig wiedererkennend und doch durch ihn hindurchsehend, alles vergessend. Andere sprachen ihn mitten auf der Straße an und fragten nach der Uhrzeit, die er dann auch sofort pflichtschuldigst mitteilte. Wie konnte er einer höflich vorgetragenen Bitte widerstehen? Alle Frauen hatten eine Gemeinsamkeit, sie hatten alle ihr Gesicht, jede ein einzigartiges Gesicht. Aber keine hatte diese Augen. Diese rehbraunen Augen, mit denen sie ihn in der U-Bahn angesehen hatte. Die ihn jetzt verfolgen würden bis an das Ende seiner, wohl jetzt schon gezählten Tage.
Wie gebannt versank er in dieses Braun. Regelrecht angestarrt hatte er sie, bis sie dann scheu ihren Blick senkte und doch ein wenig lächeln musste. So wie auch er, obwohl es ihm so unendlich peinlich war. Nur noch einmal hatte er sie wiedergesehen. In dem Gewusel des Ein- und Aussteigens der U-Bahn, stand sie völlig überraschend vor ihm. Diesmal war es, als erlaube sie ihm in ihre Augen zu versinken, ganz tief in ihre Seele sehen zu dürfen. Völlig losgelöst stand er vor ihr, während die Menschen an ihnen vorbeihasteten. Unendlich schöne Sekunden lang. Sie hieß Mascha, das glaubte er gehört zu haben, als die Freundin sie zu Eile ermahnte. Das Letzte was er sah, war ihr leises, unscheinbares Lächeln, allein nur für ihn.
Immer wieder ermahnte er sich, das Träumen zu lassen. Aber je öfter er sich ermahnte umso törichter erschien es ihm. Und so ging er, wie so oft in solchen Momenten, einfach spazieren. Ohne Start und ohne Ziel. Ihn interessierte nur die Bewegung in der er sich befand. Die meiste Zeit lief er ohne Begleiter, und wenn dann nur für kurze Zeit. Die Wege trennten sich immer, mal früher, selten später. Worte wurden nicht gewechselt, Sätze schon gar nicht. Wenn er dann wieder allein war, setzte er sich auf die Bank, die dort am Wegesrand stand und blickte zurück. Aber ihm gefiel ihm oft nicht, was er da sah und so stand er dann immer wieder auf und setzte seine ziellosen Spaziergänge fort. Diesmal watete er durch ein Meer aus Blättern und sah sich die Bäume an, die jetzt langsam die Blätter verloren. Und er sah den Vögeln nach, wie sie immer wieder ihre variierenden Bahnen zogen. Merkwürdiger Weise hatte er nicht das Verlangen, so wie sie durch die Lüfte zu fliegen um diese Welt zu verlassen. Er beschloss nach Hause zu gehen. Dorthin wo Mascha auf ihn wartete in seinen Träumen. Ihm war klar, dass er dabei war diese Realität endgültig zu verlassen. Aber es interessierte ihn nicht. Diese Realität mochte er schon lange nicht mehr.

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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 13.09.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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