Manfred Gries

Mängelkartenpoker

Vorwort:

Wenn der Nebel noch über den Wiesen steht, atmet das Land eine besondere Luft, Morgenluft, die man spürt. Und mit den Bäumen reisen die Gedanken in die Vergangenheit zu den Geschichten, die sich zugetragen haben, um abends in die Feder eines Schreiberlings zu schlüpfen...

Zur Zeit des großen Aufbruchs lebten im Land des Felsenmeeres zwei Freunde, Autobesitzer ihres Zeichens. Der silbergraue Simca mit den bunten Rosttupfern und der VW Käfer, ein außergewöhnlich hartnäckiges Gefährt, folgten ihrem Besitzer, wo immer dieser auch ein Ziel ins Auge gefasst hatte. Und Ziel zu dieser Zeit war alles, was Geld brachte, denn Leere war in den Geldbörsen der Jugend. Inspektionen vollbrachten die Freunde selbst und Ersatzteile wurden samstags vom Schrottplatz für ein paar Pfennige im Selbstausbau beschafft. Der einzige Besitz war ein Werkzeugkasten, der eigentlich niemandem wirklich zuzuordnen war. Trotzdem gelang es ohne große Koordination, dessen Verfügbarkeit zu garantieren. Und während ihre Väter zum Frühschoppen aufbrachen, trafen sich die beiden zum Schrottplatz-Brunch.

Nach eben so einem Frühstück mit Selbstausbau erhielt der Käfer eines samstags einen neuen Kotflügel. Und davon soll heute die Rede sein. Das Dichtungsgummi zwischen Kühlerhaube und Kotflügel war schwarz und ebenfalls der Leiche eines verschiedenen Käfers entnommen. Sorgsam entfernten die Freunde den etwas lädierten Alt-Kotflügel, setzen die Dichtung an die Haube und schraubten, was das Zeug hielt. Erschöpft griffen sie nach vollendetem Werk in die Werkzeugkiste, wo immer eine Flasche Bier bereitlag. Puhh, die Flasche absetzend, bemerkten sie, dass irgendetwas nicht stimmte. Die Dichtung schien an einer Seite zu kurz und an der anderen zu lang zu sein. Sollte der verstorbene Käfer anderer Bauart gewesen sein? Des Rätsels Lösung war ganz einfach: Sie hatten die vorgesehenen Löcher für die Verschraubung nicht ordnungsgemäß beachtet. So eine Dichtung hat halt zwei Seiten wie alles im Leben. Aber deswegen noch einmal den Schraubenzieher zu bemühen, das lag ihnen ferne. Ganz so wichtig schien dieser kleine Schönheitsfehler nicht zu sein und die Fahrtüchtigkeit wurde eh nicht beeinträchtig, jedenfalls nicht wegen dieser “Kleinigkeit“. Warum also noch eine Schere bemühen, um den Restzipfel abzuschneiden?

Kommen wir zurück zum ewig herrschenden Geldmangel, denn die Schrottplatz-Brunches waren etwas allsamstagliches, während hingegen 10,- DM nicht so leicht aufzutreiben waren. Und genau diese 10;- DM wurden Gegenstand eines Samstag Nachmittags. Der Simcafahrer hatte einen Opa - ein etwas eigenwilliger Mensch - der seinen Enkel zu gewissen Zeiten mit kleinen Beträgen erfreute. “Es dauert nur einen Moment“, sagte er. “Ich bin gleich zurück.“ Fast gleichzeitig, als seien sie verabredet gewesen, hielten auf der gegenüberliegenden Straßenseite die Ordnungshüter, in sattes Grün gekleidet. Der Käfer-Fahrer verhielt sich, unauffällig wartend, wie sich ein Käferfahrer verhält, dessen Kotflügel-Dichtungsgummi leicht im Winde schwingt. Er pfiff vor sich hin.

“Guten Tag“, eine freundliche Stimme zog seine Aufmerksamkeit auf sich. “Da hängt etwas unter ihrem Wagen heraus.“ Ach so? Der Ordnungshüter nahm den Vorderreifen hinter dem schwingenden Dichtungsstück zum Anlass, einen Rundgang um das Fahrzeug zu unternehmen. Wieder an der Fahrerseite angekommen hatten sich seine Gesichtszüge ein wenig verändert. “Ihre Reifen haben kaum noch Profil. Die müssen dringend erneuert werden. Steigen sie doch bitte einmal aus.“ Jetzt wollte es der Mann in Grün genauer wissen, nahm auf dem Fahrersitz Platz und trat auf das Bremspedal, das ihm keinen Widerstand entgegensetzte. Nur das Pedal selbst verhinderte die Berührung des Stiefels mit dem Bodenblech. “Da müssen sie mehrfach treten, dann funktioniert das“, meinte der Käferbesitzer. Im Fachchargon nannten die Samstag-Brunchler das “Pumpen“. Vollends verfärbte sich die Gesichtsfarbe des Ordnungshüters, als auch die Handbremse jenen Widerstand vermissen ließ, der ihr beim Ziehen normalerweise eigen ist. Jetzt erschien der Simcafahrer wieder am Ort des Geschehens, gerade rechtzeitig, um die Worte zu vernehmen: “Der Wagen ist vollkommen Verkehrs untauglich. Mit dem werden sie keinen Meter mehr fahren“. Aus der Ferne erklang Marschmusik. Nein, die Ordnungshüter waren nicht wegen dem Käfer gerade zu dieser Zeit vor dem Haus des widerwilligen Opas erschienen. Sie waren Teil einer Gruppe von Verkehrspolizisten, die den Schützenfest Umzug begleiteten.

“Ich wohne ganz in der Nähe“. ließ sich der Simcafahrer vernehmen. “Da werden wir die Mängel beseitigen.“ Mängel? Der Käfer war ein einziger Mangel. Trotzdem schauten sich die beiden Ordnungshüter bedeutsam an. Der bisher Untätige griff zu seinem Funkgerät: “Da kommt gleich ein Wagen die Postenkette entlang. Behalten Sie im Auge, ob er folgende Richtung beibehält...“ Die Freunde nahmen in dem Käfer Platz, pumpten noch einmal ordentlich und fuhren der Musik entgegen, eine Mängelkarte auf dem Rücksitz. Damals, damals waren Mängelkarten noch eine Art Handschlag zwischen Polizei und Fahrzeugführer. Alles war ein wenig menschlicher und wurde unter Freunden ausgemacht. Natürlich behoben die zwei Brunchler die Mängel noch am gleichen Nachmittag. Ihnen galt ein Handschlag etwas. Wäre der Käfer ein Pferd gewesen, es hätte fröhlich gewiehert.


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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 20.09.2003. - Infos zum Urheberrecht / Haftungsausschluss (Disclaimer).

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