Der Vorteil von Freundschaften und zwischenmenschlichen Beziehungen liegt
nicht allein in der emotionalen Wärme und Geborgenheit, die sie
bestenfalls mit sich bringen, sondern manchmal schlicht darin, dass eine
Person ohne falsche Rücksichtnahme ausspricht, was Sache ist.
„Habentus, fahr mal einen Gang zurück und such dir verdammt noch
mal ein anderes Hobby!“
In Anbetracht der Entwicklungen ein Satz,
der sicherlich angemessen gewesen wäre.
Vermutlich
hätte Habentus Tain auf einen derartig kritischen Hinweise nur mit einem
verunglückten Gelächter reagiert. Zwischenmenschlich ausgewogenes
Betragen war seine Sache nicht und nervöses Lachen gehörte mit zu
seinem überschaubaren Repertoire an Erwiderungen, die ihm geeignet
erschienen, emotionale Spannungen abzubauen. Da seine Freunde es aber dennoch
gut mit ihm meinten, wäre er wohl trotzdem in die Verlegenheit geraten,
erklären zu müssen, warum er ihre Bitten denn in den Wind zu
schießen gedachte. Glücklicherweise besaß Habentus gar keine
engen Freunde, ja, noch nicht einmal lose Bekanntschaften. In weiser
Voraussicht hatte er bereits vor etlichen Jahren die Brücken
zwischenmenschlicher Beziehungen nahezu vollständig abgebrochen.
Habentus war schon immer ein sehr in sich gekehrter Mensch gewesen.
Irgendwann setzte sich in ihm daher konsequenterweise die Überzeugung
durch, dass es vermutlich für alle Beteiligten besser wäre, wenn er
von nun an seinen Weg alleine fortsetzen würde. Diese gewagte und
unbeholfen vorgetragene These, sorgte bei seinen wenigen Freunden
zunächst für gekränkte Verwunderung, dann für Trauer und
Unverständnis. Habentus hielt aber unbeirrbar an seiner Entscheidung
fest, auch wenn es ihm zu Beginn wirklich nicht leicht fiel. Doch er wusste,
dass selbst die schönste Freundschaft am Ende eben doch nur ein Hindernis
darstellte, das zwischen ihm und seiner persönlichen Freiheit stand.
Glücklicherweise bekamen die Kumpel von diesem fragwürdigen
Gleichnis nichts mit, denn mit Hindernissen verglichen zu werden, war nun
einmal nicht schön und eine Sache, die sie sicherlich nicht
widerspruchslos hingenommen hätten. Aber zu diesem Zeitpunkt lag ihre
Verbundenheit ohnehin in den letzten Zügen und ihre Zuneigung
gegenüber Habentus war bereits merklich abgekühlt.
Nachdem er
die meisten seiner sozialen Bindungen erfolgreich gekappt hatte, fühlte
er sich erleichtert. Doch erst als schließlich auch seine Eltern, denen
er nun einmal schlecht die Freundschaft hatte aufkündigen können,
aus dem Leben traten, fiel eine große Last von ihm ab. Die Erleichterung
war dermaßen groß, dass ihn am Totenbett seiner armen Mutter ein
glückliches Lachen entfuhr. Die übrigen Trauergäste hielten das
Glucksen, in das sich Habentus zu retten suchte, für einen
verunglückten Ausdruck von Trauer und sahen in Anbetracht der Situation,
sowie aufgrund der Tatsache, dass es sich bei dem Verursacher des unpassenden
Geräuschs nun einmal um den immer schon etwas seltsamen Habentus
handelte, milde darüber hinweg. Für Habentus, der sich nun
vollständig von allen sozialen Fesseln gelöst hatte, begann das
Leben eigentlich erst richtig, nachdem er sich wortkarg von den anwesenden
Trauergästen und dem Priester verabschiedet hatte, und mit beschwingtem
Schritt den Friedhof verließ. Ihm war nach Singen zumute, was er aber
sicherheitshalber bleiben ließ. Ein breites Grinsen konnte er trotz
alledem nicht unterdrücken.
Der Umstand, dass Habentus nun
nahezu vollständig alleine mit sich und seinen Gedanken war, wirkte sich,
wenig verwunderlich, zunehmend auf seinen ohnehin schon immer etwas verqueren
Geist aus. Es fehlte mitunter schlicht an dem gut gemeinten Korrektiv einer
äußeren Perspektive. So hinderte ihn auch niemand ernsthaft daran,
einem Hobby zu frönen, dass im Laufe der Zeit wirklich bedenkliche
Ausmaße annahm.
Habentus war immer schon an der Natur interessiert
gewesen. Insbesondere die geheimnisvolle Welt der Insekten hatte es ihm
angetan. Doch draußen in der bedrohlichen Natur mit all ihren
unkalkulierbaren Risiken herumzustapfen, um mit einer Lupe bewaffnet seinen
Studienobjekten hinterherzuspüren und dabei vielleicht noch gebissen,
gestochen oder tödlich vergiftet zu werden? Nein, nicht zuletzt aufgrund
seiner vorsichtigen Art hatte Habentus bereits vor Jahren Abstand von derlei
Abenteuerlichkeiten genommen. Stets auf ein gewisses Maß an Sicherheit
bedacht, bewegte er sich mittlerweile nur sehr zögerlich außerhalb
seiner eigenen vier Wände, die ihm mehr als Bollwerk gegen eine
potenziell gefährliche Umwelt denn als bloßer Wohnort erschienen.
Doch seiner Leidenschaft alleine in Buchform nachzugehen, erfüllte ihn
ebenfalls nur unzureichend, auch wenn er selbstredend eine beachtliche
Sammlung diverser Nachschlagewerke und Lexika zum Thema in seinem Besitz
wusste. Nach einigem hin und her hatte Habentus schließlich Mittel und
Wege gefunden, sein liebstes Studienobjekt, die gemeine Ameise,
ausschließlich innerhalb seiner eigenen vier Wände zu studieren,
ohne dabei die eigene Sicherheit aus den Augen zu verlieren. Angefangen bei
einem überschaubaren Glaskasten mit schmalen fünfzig Tieren hatte er
seine Ameisenfarm im Laufe der Zeit enorm ausgebaut. Unter den bohrenden
Blicken seiner Nachbarin hatte er säckeweise Erde und Baumaterialien in
den fünften Stock geschafft. Mittlerweile bedeckte dickes Glas jede
seiner Wände, nahezu die gesamte Decke und einen Großteil des
Bodens. Habentus hatte seine Wohnung in die größte Ameisenfarm der
Stadt verwandelt und Stolz erfüllte ihn, wenn er seine freien Tage damit
verbrachte, diese faszinierenden Tiere bei ihrem geschäftigen Treiben zu
beobachten.
Dass ihn die Ameisen ihrerseits ebenfalls beobachteten,
hatte Habentus zwar wahrgenommen, schob diese Tatsache aber, ebenso wie die
Feindseligkeit, die er in schwachen Momenten in ihren schwarzen Insektenaugen
zu erkennen meinte, auf seine eigene Verschrobenheit. Feindselige Ameisen. Die
ihn beobachteten. Das war ja lächerlich. Folgerichtig brach Habentus dann
auch jedes Mal in schrilles Gelächter aus, beschloss aber dennoch
vorsichtshalber, die Ameisen für den Moment einmal Ameisen sein zu
lassen, und sich stattdessen lieber mit einem Buch über das
Lektoratswesen, seiner zweiten Leidenschaft, zu zerstreuen.
Die
bemerkenswerten Umwälzungen, die sich in den vergangenen Wochen innerhalb
der Ameisenfarm zugetragen hatten, waren Habentus beinahe vollständig
verborgen geblieben. Ausgehende von einem, für Ameisenverhältnisse
vermutlich ungewöhnlich kritischen Geist, waren einige Fragen
grundlegender Natur in den Raum gestellt worden.
Erstens. Wer oder was,
war dieses irritierend riesenhafte Wesen, dass sich an den Scheiben
herumdrückte, mitunter in schrecklich glucksende Geräusche
(vermutlich Drohgebärden) ausbrach und sie ihrer Privatsphäre
beinahe vollständig beraubte?
Zweitens. Welche grausamen
Gründe hatten den großen Unterdrücker dazu veranlasst, beinahe
die Hälfte des vorhandenen Raumes durch dicke Glaswände abzutrennen
und ihnen so den Raum zur weiteren Entfaltung zu verwehren?
Und
schließlich drittens. Was gedachte eigentlich ihre Majestät gegen
diese untragbaren Missstände zu unternehmen?
Die Antworten der
Ameisenkönigin fielen indes wenig zufriedenstellend aus, woraufhin man
nicht lange fackelte und sich kurzerhand dazu entschloss, die Königin
mitsamt überschaubarer Anhängerschaft zu verspeisen. Von nun an
wurde der gesamte Bau auf das gemeinsame Ziel eingeschworen, alsbald in einer
konzentrierten Aktion das gläserne Gefängnis zu überwinden, den
großen Unterdrücker niederzuringen und ein neues Zeitalter freier
und selbstbewusster Ameisen einzuläuten. Habentus Tain, der über den
Rand eines dicken Buches beinahe liebevoll die wuselnden Geschöpfe
beobachtete, ahnte nicht, dass seine tierischen Mitbewohner ihn unlängst
zu ihrem neuen Hauptfeind erkoren hatten.
Trotz ihrer geradezu
pionierartigen Denkleistung, ein riesiges Wesen als Gefahr für das
eigenen Kollektiv anzuerkennen und Schritte in Erwägung zu ziehen, die
Ketten der eigenen Unterdrückung sprengen zu wollen, unterlief den
Ameisen in ihrer Bewertung der Situation ein entscheidender Fehler.
Irrtümlicherweise bestärkte die Tatsache, dass Habentus Tain
aufgrund seiner fragwürdigen Vorstellungen über zwischenmenschlichen
Kontakt, niemals Besuch empfing, die Ameisen in ihrer folgenschweren Annahme,
bei ihm handele es sich tatsächlich um das einzige Exemplar eines
ameisenhassenden Volks von Riesen, und es genüge, diesen Hünen in
einem einzigen großen Kraftakt zu bezwingen. Diese Einschätzung,
obwohl falsch, verlieh den Ameisen überhaupt erst die Moral, sich
ernsthaft mit einem derartig kühnen Vorhaben auseinanderzusetzen. Wie so
oft basierte auch in diesem Fall ein gewagtes Unterfangen zunächst auf
einem groben Irrtum.
Habentus hatte zwischenzeitlich den Kontakt
zu anderen Menschen weitgehend verlernt. Und wie alles, dass man nicht
beherrscht, stieg auch bei Habentus zunehmend Unwohlsein, kam er mit anderen
Personen in Kontakt. Um derlei unangenehmen Begegnungen vorzubeugen,
entschloss sich Habentus dazu, dass Haus nur noch im absoluten Notfall zu
verlassen. Auf seinen erzwungenen Expeditionen hastete er wie getrieben durch
die Straßen und achtete penibel darauf, bloß nicht den Blick zu
heben, um das Risiko, womöglich in irgendeine Art ausufernden
Blickkontakt zu geraten, so gering wie möglich zu halten. Habentus
Sozialphobie verlief phasenweise und befand sich momentan in einem besonders
drastischen Zustand. Dass innerhalb dieser kritischen Zeitspanne das Haus
nicht zu verlassen war, stellte für Habentus ein ebensolch
unabänderliches Faktum dar, wie die Tatsache, dass der Regen nun einmal
vom Himmel fällt oder, dass auf den Tag die Nacht folgt. Es stand
schlicht nicht zur Debatte. Selbst wenn das Haus in Flammen gestanden
hätte, wäre er vermutlich zunächst dazu gezwungen gewesen, erst
einmal tief in sich zu gehen und darüber nachzudenken, ob ein Tod in den
Flammen nicht vielleicht doch vorzuziehen war. Dass er ausgerechnet in dieser
Verfassung auf Ameise 37012 traf, die gerade dabei war, die Lage
außerhalb des Baus zu sondieren, war für ihn ein Schlag ins Gesicht
und wahrlich kein feiner Zug, sollte sich herausstellen, dass hierhinter
irgendwelche ominösen schicksalsgetriebenen Kräfte steckten.
Einige Stunden zuvor hatten die Ameisen ein winziges Loch in ihrem
gläsernen Gefängnis entdeckt und sogleich beschlossen, das Habitat
ihres Feindes zu erkunden. Eine Ameise namens A37012 hatte sich mutig
freiwillig gemeldet, diesen gefährlichen Auftrag auszuführen, und
wurde in einer wirklich hoch emotionalen Zeremonie in ihr Abenteuer
verabschiedet.
„Viel Glück!“
A37012 hatte bereits mehrere Meter erfolgreich zurückgelegt und befand
sich in einem Zustand euphorischer Erregung, als Habentus nichts ahnend das
Zimmer betrat, zufällig die Ameise erblickte und reflexartig zuschlug.
Der Schreck der restlichen Ameisen, die den unerwartet plötzlichen
Heldentod von A37012 hatten mitansehen müssen, war gar nichts im
Vergleich zu dem emotionalen Holzhammer der Habentus, in Form der
schrecklichen Erkenntnis soeben eine Ameise a u ß e r h a l b der
gläsernen Wände angetroffen zu haben, buchstäblich von den
Füßen riss.
Der Grund für diese starke Reaktion lag
nicht etwa in dem Ameisenaufstand, der sich drohend am Horizont abzeichnete,
sondern in der abstrusen Widersprüchlichkeit, mit der Habentus sein Hobby
betrieb. Denn der Grund, warum er sein liebstes Studienobjekt hinter dickes
Glas sperrte, lag weniger am Wesen gängiger Ameisenfarmen, sondern war
hauptsächlich darauf zurückzuführen, dass Habentus wenig mehr
verabscheute, als freilaufendes Krabbelgetier. Er ekelte sich und wurde von
der irrationalen Vorstellung verfolgt, Insekten aller Art wären vorrangig
darum bemüht, in jedwede seiner Körperöffnungen zu gelangen,
wenn sich ihnen dazu die Gelegenheit bot.
Nachdenkliche
Zeitgenossen mögen sich an dieser Stelle zurecht die Frage stellen, was
Habentus in Anbetracht seiner ausgeprägten Phobien eigentlich geritten
haben mag, ausgerechnet in ein derartiges Hobby so massiv zu investieren?
Diese Frage ist schwer zu beantworten und lässt sich wohl nur über
den streitbaren Charakter Habentus versuchen zu ergründen.
In
Habentus gleichförmigem und von seiner Umwelt beinahe vollständig
abgeschiedenen Leben verlieh ihm der Umstand, seine Wohnung mit Abertausenden
Ameisen zu teilen, vermutlich einen gewissen Nervenkitzel. Vielleicht am
ehesten vergleichbar mit einer ordentlichen Prise Pfeffer, die man einer
langweiligen Suppe hinzugibt, um überhaupt irgendetwas zu schmecken.
Zudem verschaffte es ihm wohl einige Befriedigung und ein Gefühl der
Überlegenheit, dass es ihm gelungen war, seinen persönlichen
Schrecken in seine gläsernen Schranken zu verweisen. Neben dem rein
wissenschaftlichen Interesse mischte sich sicherlich auch immer das
Gefühl, die Natur eigenhändig gezähmt und in eine Art harmlosen
Einrichtungsgegenstand verwandelt zu haben.
Nachdem Habentus
seinen ersten Schrecken einigermaßen überwunden hatte, machte er
sich fieberhaft daran, entlang der gläsernen Wände nach winzigen
Löchern oder Rissen zu suchen, durch die eine Ameise hätte hindurch
schlüpfen können. Nach etlichen Stunden erfolgloser Herumkriecherei
musste er ohne falsche Bescheidenheit konstatieren, dass er sich in einer
beklagenswerten Situation befand. Draußen begann es zu dämmern und
schwere Regentropfen schlugen gegen die Fensterscheiben. Habentus brach seine
ergebnislose Suche ab und zog sich wie der letzte Überlebende einer
furchtbaren Schlacht auf seinen Sessel zurück, der ihm wie ein
Rettungsanker inmitten des ins Wogen geratenen Raumes erschien. Dumpf
betrachtete er die gläsernen Wände, die innerhalb nur eines halben
Tages jeglichen Charme eingebüßt hatten. Rückblickend
betrachtet war es wohl nicht seine beste Idee gewesen, die eigene Wohnung in
einen Ort zu verwandeln, der nur durch ein winziges Loch jegliche
Gemütlichkeit und Sicherheit einbüßte. Irgendwie waren die
Dinge wohl etwas außer Kontrolle geraten, das musste er selbstkritisch
zugeben. Vielleicht hätte er zumindest Buch darüber führen
sollen, wie viele Ameisen sich mittlerweile hinter den Wänden tummelten.
Was heißt ihr sollen? Müssen! Dann wäre er jetzt zumindest in
der komfortableren Situation, ungefähr abschätzen zu können mit
wie vielen dieser Biester er es möglicherweise in absehbarer Zeit zu tun
bekommen würde. Schaudernd betrachtete Habentus die riesige Ameisenfarm,
in der es erkennbar wimmelte. Neben dem Geräusch des Regens, der immer
stärker zu werden schien, bildete er sich ein, Tausende von
Insektenbeinchen hören zu können, die sich in ihrem Bau hin und her
bewegten. Mittlerweile war es dunkel geworden und da Habentus es nicht mehr
wagte, aus seinem Sessel aufzustehen, blieb ihm nur, durch das Entzü!
;nden dr
eier mickriger Kerzen für etwas spärliches Licht in seiner
unmittelbaren Nähe zu sorgen. Flackernde Schatten krochen an den
Wänden entlang und Habentus schien es beinahe so, als ob das unruhige
Licht den Raum eher verdunkelte als erhellte. Aufgrund der schummrigen
Lichtverhältnisse konnte er auch nicht mehr erkennen, was sich hinter den
gläsernen Wänden abspielte, aber zu seinem großen Schrecken
war ihm, als ob es in den dunklen Ecken des Raumes ebenfalls zu wuseln
begonnen hatte. Unwillkürlich zog Habentus seine Beine an die Brust, um
seine ungeschützten Füße vor den plötzlich unkalkulierbar
gewordenen Gefahren des Fußbodens zu schützen. Er kniff die Augen
zusammen und konzentrierte sich auf eine Ecke des Raumes. Tatsächlich,
dort schien sich etwas zu bewegen. Allerdings war es ihm aufgrund der diffusen
Lichtverhältnisse unmöglich zu sagen, ob seine in Mitleidenschaft
gezogenen Nerven das Flackern der Kerzen falsch interpretierten, oder ob sich
im Schutz der Dunkelheit eine wütenden Armee schwarzer Ameisen darauf
vorbereitete, ihren gemordeten Artgenossen zu rächen und sich wie ein
dunkle Welle auf Habentus zu stürzen.
Er war sich inzwischen
ziemlich sicher, dass sich irgendetwas in den dunklen Ecken des Raumes tat.
Habentus machte sich keine Illusionen mehr über seine derzeitige
Situation. Es war ganz offensichtlich, dass er sich in einem Zustand der
Belagerung befand. Allerdings ohne den entscheidenden Vorteil einer dicken
Mauer zwischen sich und dem Feind. Fieberhaft ging er die begrenzten
Möglichkeiten durch, die ihm blieben. Er konnte natürlich versuchen,
um Hilfe zu rufen, um seine Nachbarin, die unter ihm wohnte, auf seine
bescheidene Lage aufmerksam zu machen. Allerdings war die Dame bereits weit
über 70 und taub wie ein Stück Holz, und es erschien ihm daher
unwahrscheinlich, dass sie seine verzweifelten Hilferufe überhaupt
wahrnahm. Außerdem war nun einmal nicht von der Hand zu weisen, dass sie
ihrem äußeren Erscheinungsbild nach, eine gewisse
Ähnlichkeiten mit Insekten hatte und nicht zuletzt aufgrund der
feindseligen Blicke, die sie Habentus bei den seltenen Zusammenkünften im
Treppenhaus zugeworfen hatte, war nicht abschließend geklärt, wo
ihre Loyalität in einer derartigen Situation liegen würde. Nein, von
dieser Seite war vermutlich keine Hilfe zu erwarten.
Auch das
Naheliegendste, in einer Art Befreiungsschlag aufzuspringen, zur
Wohnungstür zu hechten und sich draußen in Sicherheit zu bringen,
war für Habentus keine Option. Zum einen fühlte er trotz der Gefahr,
ein geradezu übermächtiges Verlangen innerhalb seiner Wohnung zu
verbleiben. Es war ihm beinahe so, als existiere gar keine Wohnungstür
mehr, ganz so, als befinde er sich in einem dunklen Verlies, dass ihm nicht
erlaubte, es zu verlassen. Zum anderen wagte er es mittlerweile auch nicht
mehr, in die dunklen Ecken des Raumes zu treten, da er befürchten musste,
im Schatten sofort von allen Seiten angefallen zu werden, sobald er die
trügerische Sicherheit des belagerten Sessels verlassen würde. Blieb
also noch das altbewährte Mittel der Diplomatie. Leider nicht unbedingt
eine seiner Kernkompetenzen, aber was sollte er schon anderes machen?
Vielleicht gelang es ihm ja, die Wogen zu glätten, indem er einige
beschwichtigende Worte in Richtung der Schatten richtete. Habentus
räusperte sich und begann seinen unsicheren Vortrag damit, dass er
versicherte, im Grunde ein großer Freund der gemeinen Ameise zu sein.
Aus einer professionellen Distanz heraus fand er die Leistungen, die sich
innerhalb des Baus zutrugen wirklich bewundernswert und er wolle an dieser
Stelle zumindest einmal die Frage aufwerfen, ob es nicht im beiderseitigen
Interesse war, in den Zustand zurückzukehren, in welchem sie so lange
nebeneinander friedlich koexistiert hatten. Zeichnete sich der bisherige
Monolog, trotz einiger nervöser Unsicherheiten in der Art und Weise wie
Habentus sich ausdrückte, zumindest dadurch aus, dass er einen roten
Faden erkennen ließ, kam er spätestens an der Stelle merklich ins
Straucheln, an der er die Vorkommnisse rund um die Eskalation zum Nachteil von
A37012 zu thematisieren suchte. Er druckste zunächst unbeholfen herum,
murmelte etwas von „keine Absicht im herkömmlichen Sinne“,
verlor dann !
weitestg
ehend den Faden und flüchtete sich schließlich in nervös
glucksendes Gelächter.
Es wird wohl nie vollständig
geklärt werden können, inwieweit der missglückte
Schlichtungsversuch schlussendlich für die nachfolgende Eskalation der
Ereignisse verantwortlich gemacht werden kann. Dennoch hätte Habentus
vermutlich besser daran getan, sich nach Gegenständen umzusehen, mit
denen er sich verteidigen konnte, womit zumindest in diesem konkreten Fall die
steile These, die Feder sei mächtiger als das Schwert, als widerlegt
gelten dürfte.
Noch während er unbeholfen vor sich hin
gluckste, bliesen die Ameisen mit einem kollektiven „Jetzt oder
nie!“, zum Angriff. Wie ein dunkle Welle schwappten die Tiere heran und
erklommen an mehreren Stellen den Sessel. Habentus schlug in der Panik des
Ertrinkenden wild um sich und im flackernden Licht der Kerzen spielten sich in
den nachfolgenden Minuten nur schwer zu beschreibende Szenen ab. Immer mehr
Ameisen wogten heran und fielen über den verzweifelt schreienden Habentus
her. Nach etlichen Minuten intensiven Ringens strauchelte er, fiel zu Boden
und wurde sofort von einer Welle wütender Ameisen umschlossen.
Einige Tage später beschwerte sich Frau Dürer beim alten Herrn
Olsen, in ihrer unnachahmlichen Art darüber, dass im Treppenhaus Ameisen
aufgetaucht waren. Ohne auf die Antwort des gutmütigen Olsen in
irgendeiner Form zu reagieren, denn sie hörte sie nicht, fuhr Frau
Dürer damit fort, sich weiter über die hygienischen Missstände
im Hause zu echauffieren. Das Gezeter Frau Dürers gekonnt
überhörend, machte sich Herr Olsen daran, langsam und vergnügt
vor sich hin summend der Ameisenstraße hinauf in den fünften Stock
zu folgen. Unentschlossen stand er schließlich vor der Wohnungstür
Habentus Tains und überlegte, ob er anklopfen solle, denn es war nicht zu
übersehen, dass die Ameisen aus dieser Wohnung kamen. Während sich
Herr Olsen gedankenverloren am Kopf kratzte, berichtete hinter der
Wohnungstür eine aufgebrachte Ameise von ihrem schlimmen Verdacht.
Offensichtlich gab es dort draußen doch tatsächlich noch einen
Weiteren dieser schrecklichen Riesen, was nur bedeuten konnte, dass sie es in
Wirklichkeit mit zwei statt nur mit einem dieser Hünen zu tun hatten!
Die Rechte und die Verantwortlichkeit für diesen Beitrag liegen beim Autor (Tillmann Lösch).
Der Beitrag wurde von Tillmann Lösch auf e-Stories.de eingesendet.
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 10.07.2020.
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