Tales of the West
Heiße Colts und harte Kerle
1
Die Zeltstadt vor Deadwood ist von Männern errichtet worden, die vom
großem Glück träumen.
1875 rief Henry Newton die Newton-Jenney-Party ins Leben und bestätigte
damit, im Rahmen einer Landvermessung, die Berichte Custers, dass es in den
Black Hills Gold gäbe. Ein Jahr später entstand eine illegale
Goldgräberstadt, die sich Deadwood nennt.
2
Dan Langley ist auf den Weg nach South Dakota. Er ist aus Washington und
arbeitet dort als Journalist bei einer kleinen Zeitung, die sich privat
finanziert.
Dan hat nie versucht, an große Zeitungen wie die New York Times zu
kommen, obwohl es durchaus Menschen gibt, die sagen, er habe das Zeug dazu.
Doch er wollte nie besonders groß, oder besonders berühmt sein. Dan
ist froh, dass er von dem leben kann, was er tut und das reicht ihm.
Aber jetzt reizt Dan die Herausforderung, ein Buch zu schreiben. Eine
Geschichte, vor den Kulissen von Deadwood. Nachdem er ein Jahr lang darum
gekämpft hatte, sein eigenes Projekt machen zu dürfen, stellte man
ihn schließlich frei. Dan versprach, zurückzukommen und
verließ die kleine Zeitung, die über die Jahre zu seinem zweiten
Zuhause geworden ist.
Jetzt sieht er aus dem Fenster und hört das gleichmäßige
Stampfen der Dampflokomotive.
„Na? Wohin verschlägt es Sie denn?“ fragt plötzlich
jemand. Dan sieht auf. Der Mann neben ihm trägt einen Mantel und hat eine
rundliche Figur.
„Deadwood“, sagt Dan.
„Was wollen Sie dort?“ fragt der Mann.
„Ich habe vor, eine Geschichte zu schreiben“, sagt Dan.
„Ich bin aus Indiana. Lebe aber seit zehn Jahren in Ohio. Ich bin auf
Verwandtenbesuch“, sagt er und fügt dann schnell hinzu: „Tut
mir leid. Wo sind denn bloß meine Manieren? Ich bin Rick“, er
streckt Dan die Hand hin.
„Dan“, sagt er und ergreift sie. Dann sieht er wieder aus dem
Fenster. Um diese Uhrzeit kann der niemanden brauchen, der so redselig ist wie
es sein Nebenmann zu sein scheint.
Den Rest der Fahrt schweigen sie und wechseln nur noch gelegentlich ein paar
Worte miteinander. Irgendwann verabschiedet Rick sich und Dan sieht aus dem
Fenster, wie er von zwei Frauen, einer älteren und einer jüngeren,
und drei Kindern empfangen wird.
3
Deadwood ist eine wilde, gesetzlose Stadt, in der jeder versucht, so gut er
kann, zu überleben. Dan checkt im „Welch’s Hotel“ ein
und macht sich dann daran, die Stadt zu erkunden. Inzwischen ist Deadwood
schon eine richtige Stadt, aber es ist nach wie vor nicht zu übersehen,
dass sie gerade erst gegründet wurde. Dan geht in den Saloon und setzt
sich an einem der hinteren Tische. Er denkt plötzlich an einen Mord unter
den Goldsuchern.
Dan geht an den Tresen und bestellt sich einen Kaffee.
Einen Mord, vor diesem unwirtlichen Panorama. In einer Stadt, in der man nur
dann zur Gerechtigkeit kommt, indem man selber zur Waffe greift. Dan trinkt
seinen Kaffee aus und geht in sein Zimmer.
Heiße Colts und harte Kerle
Frankie kommt in die Stadt gelaufen. Er läuft die Hauptstraße
entlang und ist nicht zu beruhigen.
„Hilfe! Man hat ihn umgebracht!“ ruft er. Sofort kommen von
überall her Menschen angelaufen.
„Was ist denn los? Wen hat man umgebracht?“ fragt der Wirt, der
aus seinem Saloon gelaufen kommt.
„Man hat Robby getötet. Auf einmal fiel ein Schuss. Er war sofort
tot!“ ruft Frankie aufgeregt. Robby ist der ältere Bruder von
Frankie. Er und Frankie sind den Ruf des Goldes gefolgt und haben ihr Lager
bei den anderen Zelten, draußen vor der Stadt. Der Wirt bittet ihn
herein und schenkt ihm ein Glas Whiskey ein. Nachdem Frankie das dritte Glas
geleert hat, beruhigt er sich wieder ein wenig.
„Wer war es denn?“ fragt der Wirt.
„Ich habe ihn nicht richtig gesehen. Eigentlich habe ich ihn gar nicht
gesehen“, antwortet Frankie. Er steht auf und geht zur
Flügeltür. Nach kurzem Zögern, verlässt Frankie den Saloon
und läuft durch die Straße. Irgendwann sieht er keinen Sinn mehr
darin, ziellos durch die Stadt zu irren und kehrt deshalb wieder in sein Zelt
zurück. Er legt sich hin und kommt den Rest des Tages nicht mehr
heraus.
Als Billy zum Bordell geritten kommt, warten seine Freunde schon auf ihm.
Gemeinsam betreten sie das Hurenhaus und treffen sich dann bei William auf ein
paar Drinks. Letzte Nacht hatte Billy gegen einen der beiden McCortney-
Brüder gepokert und dabei eine Menge Geld verloren. Billy wollte ihm
schon im Saloon erledigen, aber dieser Hurensohn zog seine Waffe als erster
und Billy ist nur der Rückzug geblieben. Gedemütigt hatte er auf
eine Gelegenheit gewartet, es ihm heimzuzahlen und hatte Glück. Ein alter
Säufer, den Billy drei Dollar gegeben hatte, verriet ihm, dass die
McCoutneys immer in den Hügeln nach Gold suchen.
„Er wird hinter dir her sein“, sagt Ben und schenkt sich neuen
Whiskey ein.
„Soll er nur. Aber da muss er verdammt schnell ziehen
können“, sagt Billy.
„Mensch, Billy! Red nicht so. Mit dieser Einstellung, wird er dich erst
recht erschießen“, sagt William.
„Glaubst du, so ein Junge kann mir etwas anhaben? Denkst du wirklich,
dass ich vor einem Kind davonlaufe?“ fragt Billy.
„Gut. Es ist ja nicht mein Leben“, sagt William und trinkt einen
Schluck Whiskey.
4
An diesen Morgen ist Dan auf dem Weg zu jenem Ort, an dem Goldschürfer
seit Anbeginn der Stadt ihr Glück suchen. Er hat sich einen Platz abseits
des Trubels gesucht und beobachtet die Menschen. Plötzlich sieht Dan vor
seinem geistigen Auge einen Mann mit einem Revolver am Fluß stehen. Er
sieht, wie ein anderer zu Boden geht und nähert sich den Goldsuchern.
Einer der Männer sieht ihm an und widmet sich dann kopfschüttelnd
wieder seiner Tätigkeit. Dan verlässt die Glückssuchenden und
geht wieder Stadt einwärts. Er muss die Geschichte sehen. Er muss dort
hingehen, wo Frankie ist und bleibt vor dem Saloon stehen. Dan betritt ihn und
bestellt einen Kaffee. Dan sieht sich nach den Leuten um, von denen einige
wenige schon am Whiskey trinken sind.
„Ihr Kaffee“, sagt der Wirt und Dan sieht ihn an.
„Danke.“
„Was tun Sie hier?“ fragt er.
„Ich bin wegen einer Geschichte hier“, entgegnet Dan.
„Sind Sie Schriftsteller?“ fragt der Barmann.
„Nein, eigentlich nicht. Ich arbeite bei einer kleinen Zeitung“,
sagt Dan.
„Na ja, die einen suchen nach Gold und die anderen probieren es mit
Geschichten“, sagt der Wirt.
„Sie sagen es“, Dan trinkt einen Schluck und setzt sich dann mit
seiner Tasse an einen der Tische.
5
Seit sie mit ihrer Familie von Colorado über Wyoming nach South Dakota
gekommen ist, lebt sie und ihre Familie auf der anderen Seite der Stadt.
Linsey hat gelernt, sich unter den Männern zu behaupten und einige von
ihnen nehmen sie manchmal mit zum Gold schürfen. „Big drunk“
Jones, ein Mann mit eleganten Anzügen, die er sich von einem befreundeten
Zuhälter leiht um seriös zu wirken, nimmt Linsey ab und zu, nicht
ohne Protest begleitet, mit in den Saloon. Ihre Eltern sind der dunklen Seite
Deadwoods verfallen und kümmern sich nicht sonderlich darum, was Linsey
tut. Als sie mit „Big drunk“ Jones in den Saloon kommt, traut Dan
seinen Augen nicht. Diese Frau,, die da in den Saloon kommt, ist in Begleitung
eines betrunkenen Mannes. Er trinkt seinen Kaffee leer und kann sich nicht
länger zurückhalten.
„He?“ sagt er. Die Frau sieht ihn an. „Ich möchte nicht
aufdringlich wirken oder so, aber was macht eine so junge Frau an einem Ort,
wie diesen hier?“
„Ich denke ich weiß, was ich tue“, sagt Sie.
„Wirklich?“ Dan lächelt. Der betrunkene Mann macht ein paar
Schritte auf ihm zu.
„Hören Sie, Mister wer auch immer Sie sind …“
„Ist schon gut“, sagt die Frau und bestellt einen Whiskey. Dan
seufzt und geht zum Tresen.
„Na gut“, sagt er und bezahlt. Mit einem letzten Blick auf
die noch sehr junge Frau verlässt Dan den Saloon.
6
„Letzte Chance, Jake! Komm raus und stell dich!“ Der Mann, der an
diesem strahlenden Nachmittag auf der Hauptstraße steht, hält
seinen Colt umklammert. Er steht vor dem Bordell während die Leute, einer
nach dem anderen, halt machen.
„Schrei doch nicht so“, ruft ihm eine der Damen entgegen.
„Halt du dich da raus, Süße!“ ruft der Mann. Im
nächsten Moment erscheint ein anderer im Türrahmen und geht auf
seinen Herausforderer zu.
„Was willst du!?“ fragt Jake.
„Komm her! Glaubst du, ich weiß nicht was du mit meiner Frau
machst!?“
„Das ist ihre Entscheidung!“ sagt Jake und geht auf dem Mann zu.
Als sie sich gegenüber stehen, zieht Jake seine Waffe noch bevor es sein
Gegenüber tun kann. „Na los. verschwinde, Collins.“
„Nimm dich ja in Acht. Sieh dich vor, wenn du das Haus verlässt und
blick lieber zweimal in alle Richtungen. Ich bin noch nicht mit dir
fertig“, sagt er und verlässt den Schauplatz.
„Jake!“ die Frau, mit der sich Jake eben noch vergnügt hatte,
kommt zu ihm gelaufen. „Jake. Er meint es ernst und … Na ja, es
ist mir egal, was du so außerhalb dieses Hauses machst, aber du solltest
einige Dinge klären“, sagt sie. Jake packt sie am Arm und
schüttelt sie.
„Sag mir nicht, was ich machen soll!“ ruft er. Dann drückt er
ihr ein paar Scheine in die Hand und geht in die entgegengesetzte Richtung
davon. Die Frau sieht ihm noch lange nach und geht wieder zu den anderen ins
Bordell.
7
Nachdem Frankie die ganze Nacht hindurch geweint hat, ist es an diesen Tag der
Hunger, der ihn in die Stadt treibt. Nach dem Essen gibt er sich den
Verführungen dieser Stadt hin und wacht in einer dieser Höhlen auf,
in der ein Mann seinen ganzen Kummer für eine Weile vergessen kann.
Frankie versucht, die schmuddeligen Ecken Deadwoods zu meiden, doch im Moment
sieht er keine andere Möglichkeit
Es ist eine Dame aus einem Bordell, die ihm rät, aufzuhören, solange
er es noch kann.
„Ich will dir helfen“, sagt Linda als Frankie ihr in den Armen
liegt.
„Was meinst du?“ fragt er.
„Ich weiß, wer es getan hat. Es war Billy. Der läuft hier rum
und erzählt jedem, wie unwiderstehlich er ist. Er hat deinen Bruder auf
dem Gewissen“, sagt Linda.
„Woher weißt du das?“ fragt Frankie.
„Du bist doch McCourtney, oder?“
„Ja“, sagt er. Frankie steht auf. Er zieht sich an und nimmt ein
paar Scheine aus seiner Tasche.
„Was wirst du tun?“ fragt Linda.
„Keine Ahnung“, erwidert er. Er geht zur Tür, bleibt aber
noch einmal stehen. „Wo finde ich diesen Billy?“
„Im Saloon. Er ist ein großer Kerl mit Bart. Er sitzt immer am
Tresen und trinkt seinen Whiskey“, sagt sie.
8
Die Mutter von Linsey liegt in ihren Zelt und ist nicht ansprechbar. Ihr Vater
ist jetzt gerade im Saloon und lässt sich wahrscheinlich wieder
volllaufen. Linsey selbst hat eine Affinität, für die wilde Seite
dieser wilden Stadt und gibt sich gerne ihren Reizen hin. Das sie es
inzwischen nicht mehr ohne Opium und Laudanum aushält, hat sie lange Zeit
nicht eingesehen. „Big drunk“ Miller, „Whiskey joe“
und Harrison Glenley, sind mit ihr raus gefahren um jagen zu gehen. In Joes
Hose, seinem Hemd und mit einen seiner unzähligen Revolvern, fühlt
sie sich übermächtig. Sie hat das Gefühl, als wäre sie da,
wo sie schon immer sein wollte. Leicht benommen vom Opium und vom Whiskey,
begleitet sie die Männer durch die Wildnis. Sie hat sich bei Miller
untergehakt, weil ihr das gehen, unter diesen Umständen,
schwerfällt.
„Alles klar?“ fragt er.
„Haben wir den Whiskey?“ fragt Linsey.
„Ja. Brauchst du eine Pause?“ fragt „Big drunk“
Miller.
„Nein“, sagt Linsey. Doch nach einer Weile sackt sie zusammen und
sie machen eine Rast. Harrison hält der benommen Linsey den Whiskey unter
die Nase. Sie sieht zu den Männern hoch.
„He!“ ruft Harrison. Er tätschelt ihre Wange und hält
ihr die Flasche erneut hin.
„Ja“, sagt sie. „Whiskey Joe“ feuert zweimal in die
Luft und Linsey schreckt hoch.
„So ist gut. Komm zurück, Kleines“, sagt Harrison und sieht
sie an.
„Wo ist die Flasche?“ fragt sie. Harrison sieht zu den anderen
Männern.
„Haben sie dich wieder alle allein gelassen?“ fragt Miller.
„Meine Mama ist im Zelt und mein Daddy trinkt wahrscheinlich
wieder“, sagt Linsey. Joe streckt die Hand nach der Flasche aus.
„Ja, er ist wieder im Saloon“, sagt er nachdem er einen Schluck
getrunken hat.
Zurück in Deadwood nimmt Joe sie mit zu sich kocht ihr eine Kanne Kaffee.
Nach drei Becher fühlt Linsey sich besser und nach einer weiteren
verlässt sie sein Haus.
9
Der alte Goldsucher ist jeden Tag am Fluss. Doch das, was er aus dem Fluss
zieht, sind meistens nur Steine und Schlamm. Trotzdem geht er jeden Tag raus
und jagt seinem Traum hinterher. Abends sitzt er im Saloon und träumt von
seinem Reichtum.
„Eines Tages, da finde ich einen großen Stein“,
verkündet er jedes mal.
„Warum fängst du nicht damit an und ersparst uns dein Gequassel,
alter Mann?“ fragt jemand.
„Geh doch lieber zu Al Swearengen. Da verdienst du wenigstens
was“, sagt Lionel Laurence, Linseys Vater, was ihn für diese
Bemerkung viel Gelächter einbringt. Doch sie kennen alle den alten Ed. Er
ist ein Mann, der niemanden etwas böses will und der, wenn es ihm
möglich ist, jede Form der Konfrontation meidet. Es heißt, Ed sei
mit Outlaws nach South Dakota gekommen. Ab der Grenze habe er sich dann
alleine durchgeschlagen. Doch wie er wirklich nach Deadwood kam, weiß
keiner. Er verdient sein Geld als Geschichtenerzähler. Doch Ed ist
ein Einzelgänger. Ein alter Kauz, den man einfach lieb haben muss aber er
ist auch ein merkwürdiger Gefährte: Tagsüber schürft er
nach Gold und abends sitzt er im Saloon und erzählt jedem, dass er
irgendwann den großen Fang machen wird. Er ist aus Texas und wuchs in
einer Farm auf.
Als 1861 der Krieg ausbrach, schloss sich sein Bruder den Konföderierten
an. Man sagt, der alte habe seitdem nichts mehr von ihm gehört.
10
Frankie ist auf dem besten Wege, sich zugrunde zu richten. Es ist ein
Revolvermann und Cowboy aus Oklahoma, der ihm jedoch vor dem schlimmsten
bewahrt. Er nimmt Frankie auf und gibt ihm halt, in dieser Zeit der Trauer.
Jetzt sitzen sie am Fluss und Frankie fühlt sich, das erste
mal seit Wochen, wieder einigermaßen wohl. Don, der Cowboy aus Oklahoma,
nimmt seinen Schürfteller und füllt ihn mit Wasser.
„Hier. Komm das nächste mal direkt zu mir, Frankie. Lass den
Whiskey und das ganze Zeug“, Frankie trinkt einen großen Schluck
vom Teller.
„Danke“, sagt er.
„Als mein Bruder vom Krieg wiederkam, war er am Ende, genau wie du. Doch
er hatte keinen, der ihm aufgefangen hat. Ich war auf einem wochenlangen
Viehtreck und konnte nicht für ihm da sein“, sagt Don.
„Er hat es nicht geschafft, oder?“ fragt Frankie.
„Nein. Eines Tages fand man ihm mit einer leeren Whiskeyflasche in
seinem Haus. Um ihm herum lagen noch drei andere Flaschen“, Don sieht zu
Boden.
„In Ordnung. Ich reiße mich zusammen“, verspricht Frankie.
Er trinkt den Teller leer, schöpft neues Wasser hinein und leert ihn
abermals.
„Geht’s wieder?“ fragt Don.
„Ja“, antwortet Frankie.
11
Dan sieht, dass die junge Frau, der er im Saloon begegnet ist, Mühe hat,
sich auf den Beinen zu halten. Er fängt sie im letzten Moment auf und
läuft mit ihr, weil er nicht weiß wohin, in den Saloon.
„Ich brauch Hilfe“, sagt er. Die Männer sehen ihm nur an und
Dan wendet sich ab.
„He, moment mal, Mister“, sagt ein Gast und geht auf Dan zu.
„Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht“, gibt Dan zurück.
„Ich habe leider keine anständige Bleibe und sie auch nicht. Aber
ich zeige Ihnen, wo sie lebt“, sagt der alte Mann. Sie gehen in die
Zeltstadt, die sich vor Deadwood befindet..
Die Frau die Dan erblickt, sitzt in einem dieser Zelte und kocht sich was zu
essen. Sie sieht zu Dan.
„Da, legen Sie sie auf die Decken. Da“, sie zeigt auf die Decken
am anderen Ende der provisorischen Unterkunft. Dan legt sie hin und
verlässt das Zelt. Als der alte Mann seinen Blick begegnet sagt er:
„Tja, manche Dinge kann man nicht erklären. Die Welt ist hart und
wir müssen alle zusehen, wie wir mit ihr fertigwerden.“ Sie gehen
die Hauptstraße runter zum Saloon.
„Wie heißen Sie?“ fragt Dan.
„Ich bin Ed. Ich bin noch nicht lange hier, aber ich habe genug gesehen,
dass es für ein ganzes Leben reicht, dass Können Sie mir
glauben“, sagt er.
„Was ist mit ihr“, er nickt in die Richtung zurück, aus der
sie gekommen sind.
„Oh, ihre Mutter ist ständig im schlimmen Teil der Stadt. Da, wo
die Opiumhöhlen und die Hurenhäuser sind. Bitte verzeihen Sie, meine
Ausdrucksweise. Ich sehe, Sie sind nicht von hier. Und ihr Vater ist da drin.
Der Kerl am Tresen. Der ganz vorne sitzt, Die kleine hat niemanden und das
Leben, dass ihre Eltern führen, ist auch auf sie abgefärbt“,
sagt er.
„Wie heißt sie?“ fragt Dan.
„Linsey“, antwortet der alte Mann. „Ach, ich kenne Ihren
Namen noch nicht.“
„Dan“, sagt er.
„Schön, Sie getroffen zu haben, Dan“, sagt Ed und geht in den
Saloon. Dan bleibt noch eine ganze Weile an der Flügeltür stehen,
dann geht auch er hinein.
Eine Woche später klopft es an seiner Tür und Dan öffnet sie.
Draußen steht Linsey. Sie ist völlig aufgelöst.
„Was ist?“ fragt Dan.
„Ich weiß nicht, wo ich hinkann“, sagt sie benommen.
„Sie haben mir letztens geholfen, da dachte ich, ich könnte bei
ihnen bleiben.“ Dan tritt zur Seite und lässt die junge Frau
eintreten. Er hilft ihr, sich aufs Bett zu setzen und dreht den Schreibtisch
Stuhl zu ihr herum.
„Gib mir das“, er entnimmt ihr ein Flächen Laudanum.
„Ich brauche es“, sagt sie.
„Ich kann dir helfen. Wieso sonst bist du hier?“ sagt Dan. Er
setzt sich neben sie und sie lässt sich in seinen Schoß fallen. Dan
nimmt sie und legt sie auf das Bett. Lindsey regt sich schwach und Dan sieht
sie einfach nur an. Er streicht ihr die Haare aus dem Gesicht und setzt sich
wieder nan den Schreibtisch.
12
Als an diesem Abend sieben Männer in die Stadt geritten kamen, hatte sich
die Nachricht, über die Eisenbahnraube, wie ein Lauffeuer verbreitet. Die
Männer machten vor dem Saloon halt, stiegen ab und gingen hinein.
„Sieben mal Whiskey“, sagte ihr Anführer zum Wirt. Zu diesem
Zeitpunkt, hatte sich ein Trupp bewaffneter Männer bereits auf den Weg
gemacht, um ihrem Treiben ein Ende zu bereiten.
Als die Männer den Saloon verlassen, werden sie von dem bewaffneten
Empfangskomitee erwartet.
„Was soll das?“ fragt der Anführer.
„Ihr habt wohl gedacht, ihr könnt einfach so weitermachen? Ein
Mucks und ihr seid tot“, erwidert der Mann, mit der Winchester.
„Na kommt. Wir sind doch alle auf der gleichen Seite“, sagt ein
anderer. Der Mann lädt sein Gewehr.
„Vorwärts. Ihr geht voraus“, sagt er. Vor der Stadt binden
die Männer drei Seile um einen Ast. „Immer schön der Riehe
nach.“ Einer der Outlaws zieht seinen Revolver doch ein Mann aus dem Mob
ist schneller.
„Ich würde nicht abdrücken“, sagt er.
„Was hätte ich davon? Es ist doch vollkommen egal, wie ich
sterbe“, der Outlaw drückt ab und wird von einem anderen Mann
getötet. Dann werden die ersten drei gehängt. Doch die anderen
denken gar nicht erst dran, auf die gleiche Weise zu sterben wie ihre Freunde,
und liefern sich mit den Männern aus dem Lynchmob eine Schießerei.
Am Ende sind zwei verletzt und einer tot.
„Lasst uns dieses Schlachtfeld hier räumen“, sagt einer der
Männer, als das Spektakel vorbei ist. Sie holen den Bestatter aus den
Bett und schaffen die Toten in die Stadt. die verletzten, die eine Schusswunde
erlitten haben, werden zum Arzt gebracht. Dann geht das Leben weiter und die
Männer feiern im Saloon den Schlag gegen jene Verbrecher, die seit
einiger Zeit, die Eisenbahn unsicher machten, und die Belohnung, die sie
erhalten werden.
Dan steht vor dem Strick und sieht hinauf. Er sieht die Blutspuren auf dem
Boden und versucht sich vorzustellen, was passiert sein könnte.
„Man hat die Männer aufgehängt, die für viele
Eisenbahnüberfälle in dieser Gegend verantwortlich waren“,
sagt eine Stimme hinter ihm. Es ist Ed, der gerade zum Fluss
hinunterläuft.
„Wieder auf der Suche nach etwas kostbarem?“ fragt Dan.
„Von irgendwas muss man ja leben, mein Freund“, erwidert Ed und
geht weiter. Dan wirft noch einen letzten Blick auf die drei Seile, dann geht
er zurück in Richtung Hotel.
Dort sitzt Linsey. Sie hat eine Whiskeyflasche in der Hand und trinkt gerade
einen Schluck. Dan setzt sich zu ihr auf die Stufen.
„Hast du auf mich gewartet?“ fragt er.
„Ich wusste nicht, wann Sie kommen und wo Sie sind“, sagt sie
betrunken.
„Wie alt bist du?“ fragt Dan.
„Fünfzehn. Bald sechzehn“, antwortet Linsey. Sie führt
sich die Flasche erneut an den Mund, doch Dan ergreift sie.
„Nicht“, sagt er. Sie befreit die Flasche von seinem Griff und
trinkt einen weiteren Schluck. „Was machst du hier?“
„Big drunk Jones hat keine Zeit und „Whiskey Joe“
schläft seinen Rausch aus. Glenley ist mit den anderen Männern aus
geritten“, sagt sie.
„Bist du Hungrig?“ fragt Dan.
„Haben Sie Geld?“ erwidert sie.
„Hab ich. Würde ich sonst fragen?“ lächelt er. Als sie
das Restaurant betreten, gibt Dan die Flasche beim verdutzten Kellner ab und
setzt sich mit Linsey an einen der hintersten Tische. Linsey sieht sehr
benommen aus sodas Dan sie festhalten muss.
„Warum tun Sie das?“ fragt sie.
„Du kannst so nicht weitermachen. Als du in mein Zimmer gekommen bist,
wolltest du etwas von mir. Was war es?“ fragt Dan. Er haut ihr auf die
Wange.
„Ich wollte nicht alleine sein“, sagt sie.
Linsey hatte den ganzen Tag nichts gegessen und verschlingt das Rind, ohne
einmal aufzusehen.
„Ich kann dich hier rausholen. Mir scheint, dass sich niemand um dich
kümmert“, sagt Dan.
„Ich gehe oft mit ein paar Männern raus zum jagen“, sagt
Lindsey mit vollem Mund.
„Aber ist es das, was du willst?“ fragt Dan. Daraufhin erwidert
sie nicht mehr. Stattdessen verschlingt sie ihr Essen, ohne kaum einmal Luft
zu holen. Nach dem Essen begleitet Dan sie zu ihrem Zelt. Er weiß, dass
er sie ab da an alleine lassen muss, er hat keine Wahl.
„Kommst du klar?“ fragt er als sie schließlich dort sind.
„Ja, mir geht es gut“, sagt Linsey. Dann geht Dan ins Hotel
zurück und fragt sich, wie lange es wohl dauert, bis sie wieder betrunken
auf den Stufen vor dem Hotel sitzt.
13
Nach einer Weile steht Don auf.
„Komm“, er geht zu seinem Pferd. Sie reiten zur Stadt, die keine
richtige Stadt, sondern viel mehr eine Ansammlung aus Zelten und einzelnen
Holzgebilden ist. Dort angekommen, hat sich eine Menschenmenge versammelt. Die
beiden steigen ab und Frankie geht auf die Männer zu.
„Was ist hier los?“ fragt er.
„Todd hat Remington erschoßen. Nach allem was ich gehört
habe, hat er es verdient“, sagt ein Mann.
„Ich habe nachgedacht“, sagt Frankie auf einmal. „Diese Frau
aus dem Bordell hat mir erzählt, dass es ein Mann namens Billy war, der
meinen Bruder ermordet hat.“
„Was willst du damit sagen?“ fragt Don.
„Ich werde ihn finden. Und er wird sich wünschen, es niemals getan
zu haben“, erwidert Frankie.
„Du hast doch so etwas noch nie gemacht“, entgegnet Don.
„Mir würde es nichts ausmachen, diese Ratte tot zu sehen. Ich kann
diesen verlogenen Mistkerl nicht ausstehen“, sagt Don.
„Woher kennst du ihn?“ fragt Frankie als sie auf den Weg zu Dons
Hütte sind.
„Ich hatte ein paar male mit ihm zu tun“, sagt Don. „Ich
habe in Oklahoma, bei einem Streit, einen Mann erschoßen. Dieser Mann
war der Bruder eines skrupellosen Eisenbahnunternehmers. Ich hatte mich mit
ein paar Männern zusammengetan, um sie aus der Stadt zu jagen und
dafür zu sorgen, dass sie den armen Farmern und Hauseigentümern
ihren Besitz nicht wegnehmen. Es kam zum Streit zwischen mir und einem Mann
namens Leramy.“
„Und Billy?“ fragt Frankie.
„Billy ist einer von ihnen“, erwidert Don.
„Hat dieser Mann jetzt mit Robby zu tun?“ fragt Frankie.
„Er ist ein Spieler. Dein Bruder hat doch gespielt, oder?“
„Ja“, antwortet Frankie.
„Ich weiß, dass er nie jemanden einfach so gehen lässt.
Besonders dann nicht, wenn er beim Kartenspiel verliert. Bist du sicher, dass
du gegen ihn antreten willst?“ Don sieht den Jungen an.
„Bin ich. Er wird dafür bezahlen“, sagt Frankie.
14
Im Saloon trifft Dan den alten Ed, der an der Theke sitzt und Whiskey trinkt.
Dan setzt sich daneben und bestellt einen Kaffee.
„Trinken Sie nicht?“ fragt Ed.
„Ist schon eine Weile her“, erwidert Dan und sieht auf Eds Glas.
„Wollen Sie?“
„Nein. Also, ich könnte wenn ich wollte. Aber ich habe so oft
danach gegriffen, dass ich irgendwann beschloßen habe, erstmal mit dem
Alkohol zu brechen“, sagt Dan.
„Erstmal?“ Ed trinkt sein Glas leer.
„Ich hab mich noch nicht entschieden“, sagt Dan.
„Und? Was war es?“ fragt Ed. Diese Frage lässt Dan
unbeantwortet. Er nimmt den Kaffee entgegen, trinkt aus und bezahlt.
„Tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein“, sagt Ed.
„Wir haben alle unsere Geschichte“,
„Ja“, antwortet Dan.
„Sie wollen Lindsey helfen? Sie wird Sie nicht mehr in ruhe
lassen“, wechselt Ed das Thema. Dan setzt sich wieder zu ihm.
„Was meinen Sie?“ fragt er.
„Sie kann mit Zuneigung nicht umgehen. Ich wollte es auch und als ich
sie wegstieß, fing sie wieder mit den ganzen Sachen an. Überlegen
Sie es sich, Dan“, Ed bestellt noch einen Whiskey.
„Ich kann nicht anders“, sagt Dan.
„Es ist nicht zu übersehen, dass sie jemanden braucht. Versuchen
Sie es“, Ed wendet sich den Tresen zu, wo er das Glas entgegennimmt.
„Aber danke für die Warnung“, Dann verlässt Dan den
Saloon.
15
Der Regen prasselt schon seit Stunden auf die Stadt nieder und hat die meisten
Menschen von der Hauptstraße vertrieben. Deadwood. Hier kann ein Mann
noch Cowboy sein. Ein Outlaw. Ein Grenzgänger, zwischen Recht und
Unrecht, immer auf der Flucht vor dem Gesetz. Der Mann, hinter dem Frankie her
ist, ist wahrscheinlich nicht allein. Nach allem, was Don ihm erzählt
hat, gehört er zu einer Gruppe von Männern, die keine Skrupel haben
und nicht davor zurückschrecken, zum Colt zu greifen. Don hat ihm
geraten, erstmal abzuwarten und sie im Auge zu behalten, doch er kann nicht
warten. Er sitzt im Saloon, in der hintersten Ecke, und beobachtet die
Männer am Tresen. Er will losrennen. Er will seine Waffe ziehen und geht
auf sie zu.
„He!“ ruft er und zieht. Als die Männer sich umdrehen,
erschießt er einen von ihnen und flüchtet aus der Stadt. Für
mehr blieb keine Zeit.
Im strömendem Regen, reitet er davon und hört die Männer dicht
hinter sich. Er reitet weiter, als die Schüsse fallen und als er den
stechenden Schmerz in der Schulter spürt. Er reitet, bis er die Verfolger
abgehängt hat und er völlig durchnässt ist. Irgendwann kommt er
zu einer Stadt wo er, durchgefroren, hungrig und mit einer Schusswunde, die
ihm jetzt richtig wehtut, halt macht. Er lässt sich versorgen und nimmt
eine warme Mahlzeit zu sich. Dann reitet er weiter.
Irgendwo, auf offenem Gelände, steigt er ab. Aber Frankie ist kein
erfahrener Cowboy und ein Outlaw ist er erst recht nicht. Er weiß, dass
er weder richtig jagen, noch ein Feuer machen kann. Also legt er sich hin. Er
liegt da und denkt an Robby. Es ist ein Gedanke, der schmerzt aber er kann ihn
nicht zurückhalten. Genauso wenig, wie er seine Tränen
zurückhalten kann, die ihm die Wangen runterlaufen. Irgendwann
schläft er ein und träumt von Deadwood und von seinem Bruder Robby.
Es ist ein schöner Traum, doch als er erwacht, ist er wieder nur ein
Junge, der um seinen toten Bruder trauert.
16
Dan lehnt sich auf seinem Stuhl zurück als Ed plötzlich die Tür
zu seinem Zimmer aufreißt.
„Dan! Kommen Sie. Schnell!“ ruft er.
„Was ist denn?“ fragt er.
„Lindsey“, Dan eilt aus dem Zimmer und folgt Ed zum Saloon.
Lindsey liegt inmitten einer Menschenmenge und ist nicht ansprechbar.
„Lindsey!“, sagt Ed und rüttelt sie. Dan beugt sich über
sie und haut ihr auf die Wange. Lindsey bewegt die Augenlieder.
„Sie ist in dem Saloon gekommen und dann zusammengebrochen“, sagt
ein Mann.
„Wieso hat ihr keiner geholfen?“ fragt Dan und sieht sich
um.
„Sie hat ständig Ihren Namen genannt“, sagt Ed.
„Dan“, sagt Lindsey schwach.
„Komm, ich bring dich zurück“, sagt Dan. Er trägt sie
zum Zelt und geht wieder in Richtung Hotel. „Wieso tut sie das?
“
„Ich kenne ihre Eltern. Wenn Sie die ganze Wahrheit kennen würden,
wüssten Sie es“, sagt Ed.
„Sie kann hier nicht bleiben“, sagt Dan.
„Das müssen Sie entscheiden. Als ich ihr damals geholfen habe,
sagte sie, ich sei der einzige Grund, wieso sie nicht mehr nach dem ganzen
Zeug greife. Sie ist kein schlechter Mensch, aber sie setzte mich unter Druck.
Sie sagte, dass sie wieder anfangen würde, wenn ich nicht wäre.
Wäre ich nicht gegangen, hätte sie mich in den Wahnsinn
getrieben“, sagt Ed. Dan denkt darüber nach. Doch er hat bereits
den Entschluss gefasst, Lindsey nach Washington zu nehmen.
17
Frankie sitzt im Saloon und hält einem Mann eine Zeitung hin. Er hat ihm
an der Theke getroffen und lässt sich von ihm daraus vorlesen. Im
Gegenzug spendiert Frankie ihm einen Whiskey.
„Was weiß man?“ fragt er. „Weiß man, wo ich bin?
“
„Tja“, sagt der Mann am Tresen. Frankie wendet sich dem Barman zu
und bestellt noch einen Whiskey. Dann legt er das Geld auf die Theke.
„Schönen Abend noch“, er verlässt den Saloon und reitet
weiter. Frankie hinterlässt Spuren. Wo immer er ist wird er gesehen. Er
hat in Erfahrung gebracht, dass man ihm dicht auf den Fersen ist und er
weiß, dass man ihm irgendwann aufspüren wird.
Als er klein war, hatte er gelernt, sich an einen Büffel oder ein anderes
Tier heranzuschleichen. Frankie schleicht sich an ein Tier ran und legt an. Er
zögert jedoch ein bisschen zu lange und verfehlt es. Erst am Nachmittag
hat er es geschafft ein Tier zu schießen und am Abend hat er ein Feuer.
Frankie kann seine Beute, einen Vogel, auch tatsächlich essen, nachdem er
ewig gebraucht hat, ihn zu zerkleinern.
18
Einst werden die Geschichten zu Legenden geworden sein. Namen wie „Wild
Bill“ Hickok und „Calamity Jane“ werden sich in den
Geschichtsbüchern verewigt haben und für immer ihre Spuren in der
Amerikanischen Geschichte hinterlassen. Doch noch ist Deadwood eine wilde
Stadt, die am Anfang steht. Und mitten in dieser Stadt versucht ein Mann, der
sich nie etwas aus Ruhm gemacht hat, etwas neues.
Dan sitzt mit Lindsey im Restaurant und isst zu Mittag. Wie immer greift
Lindsay herzhaft zu und Dan fragt sich jedes mal auf neue, was sie wohl zu
essen bekommt, wenn sie alleine ist.
„Schmeckt es?“ fragt Dan.
„Ja. Ich komme selten dazu, eine richtige Mahlzeit zu mir zu
nehmen“ erwidert sie. Lindsey ist san diesem Tag nicht vollgepumpt,
worüber sich Dan freut.
„Was isst du den sonst?“ fragt Dan.
„Suppe. Oft esse ich gar nichts“, sagt Lindsey. „Ich will
zur anderen Seite der Stadt. Ich will trinken. Ich will mich betäuben,
bis ich umfalle. Sie denken, dass es kein Leben für mich ist?“,
sagt sie.
„Ja, das denke ich. Aber ich will dir mal was sagen: Ich will manchmal
auch trinken, bis ich nicht mehr weiß, wo ich bin. Man hat seine Leute,
man hat Kontakte geknüpft und alles andere war einen egal. Ich
weiß, wovon ich rede, Lindsey“, sagt Dan.
„Und wieso“, fragt sie.
„Ich verlor meine Frau. Zwei Jahre später verlor ich auch mein Kind
und wenn ich hier gelebt hätte, wäre ich auch zu den
Opiumhöhlen gegangen“, sagt Dan und lächelt.
„Ich brauche dich“, sagt sie.
„Ja, das stimmt. Und ich werde dich hier rausholen“, sagt Dan.
„Wohin?“ fragt sie.
„Nach Washington. Weißt du wo Washington ist?.“ fragt Dan.
„Nein. Ich kenne es natürlich. Wer nicht?“ sagt Lindsey.
„Nicht dieses Washington. Das im Nordwesten“, erwidert Dan.
Lindsey widmet sich wieder ihrem Teller.
Nach dem Essen geht Dan wieder ins Hotel zurück und legt sich aufs Bett.
Er lauscht in die Stille hinein und erinnert sich, wie sehr er sie gehasst
hat. Und jetzt ist es genau diese Stille, die er genießt. Dan
schließt die Augen und atmet tief durch.
19
Dan erkennt, dass es wenig Sinn macht, mit Lindsey an einem Ort zu bleiben,
der für sie so viele Verlockungen bereithält, also kauft Dan, mit
der Hilfe von Ed eine Fahrkarte zurück nach Washington. Ed hat ihm
ausserdem eine größere Summe gegeben und gesagt, er solle sich
keine Gedanken um das Geld machen.
Sie warten ewig am Bahnsteig und Lindsey wird ein wenig traurig.
„Du wirst diesen Ort vielleicht wiedersehen. Ein wenig anders. Ein wenig
zivilisierter, aber erst einmal musst du dich aber um dich selber
kümmern“, sagt Dan. Lindsey ergreift seine Hand.
„Ich wünsche, du wärst viel früher gekommen“, sagt
sie nur. Dan befreit sich von ihrem Griff und Lindsey sieht ihn an.
„Ich tu das, weil ich nicht will, das du dich auf den Straßen
rumtreibst und dich umbringst. Und weil du niemanden hast. Ich bin nicht dein
Vater, ich bin auch nicht dein Ehemann“, sagt er und Lindsey sieht zu
Boden. Dann fährt der Zug ein. Doch Lindsey bleibt am Bahnsteig stehen.
„Du darfst mich niemals verlassen!“ ruft sie durch den Lärm
hindurch.
„Komm jetzt! Der Zug ist da!“ sagt Dan.
„Versprich es mir, Dan!“ sagt Lindsey.
„Dann sollst du mir auch etwas versprechen!“ Dan geht auf sie zu.
„Du wirst mich nicht mehr so erpressen, wie die anderen male! Hast du
verstanden!?“ Lindsey zögert. „Lindsey!“ Sie nickt. Dan
sagt ihr, sie solle laut sagen, das sie es verstanden habe.
„Ja! Ich habe verstanden!“ dann hält der Zug und sie steigen
ein.
„Ich erinnere mich gar nicht richtig an das, was vorher gewesen
ist“, sagt Lindsey als sie auf ihren Plätzen sitzen.
„Da gibt es sicher nicht viel, was eine Erinnerung wert ist“, sagt
Dan.
„Nein. Ich war immer alleine. Die einzige Gesellschaft, die ich hatte,
waren Säufer, die sich im Saloon rumtrieben und mich oft
mitnahmen“, sagt sie.
„brauchst du was?“ fragt Dan. Lindsey bejaht es und Dan gibt ihr
eines der Flaschen, die er aus Deadwood mitgenommen hatte. Sie verschwindet
und kommt kurz darauf wieder.
„Kannst du einfach so weg?“ fragt sie nachdem sie sich gesetzt
hat.
„Wieso nicht?“ fragt Dan. „Ich habe hier nichts, was auf
mich wartet. Ausserdem, schreiben kann ich überall.“
„Danke, Dan“, sagt Lindsey und ergreift wieder seine Hand. Dan
lässt es diesmal geschehen.
20
Die Frau an der Bordbar trinkt Wein und unterhält sich ab und zu mit dem
Barkeeper. Sie reist alleine und da sie nichts besseres zu tun hat, geht sie
oft hierhin und sitzt an der Theke oder unterhält sich nur mit den
Leuten. Als sie Dan erblickt, spricht sie ihn an.
„Ich sehe Sie schon das fünfte mal hier. Sie und Ihr Kaffee.“
„Das mache ich nur, damit alle denken, ich wäre
vernünftig“, sagt Dan.
„Und? Sind Sie das?“ fragt die Frau.
„Tut mir leid. Ich hätte das nicht sagen sollen, ich bin auf nichts
aus“, sagt Dan.
„Nur die Ruhe. Ich auch nicht“, sagt sie lächelnd. „
Jean.“
„Dan“, entgegnet er.
„Wer ist die Kleine? Ihre Tochter?“ fragt sie.
„Lange Geschichte“, erwidert Dan. Jean trinkt ihren Wein aus
und erhebt sich.
„Man sieht sich“, sagt sie und geht. Dan bleibt noch lange am
Tresen sitzen bevor er zurück an seinen Platz geht.Irgendwann, nachdem er
Lindsey wieder ein Flächen gegeben hatte und sie eine ganze Weile
schweigend dagesessen haben, fragt Dan sie:
„Wieso warst du alleine auf der Straße? In der Stadt?“
„Meine Mama hat mich versehentlich bekommen. Sie wollte nie Kinder. Sie
hat immer nur in Bordellen gearbeitet, um an Geld zu kommen. ‚Glaub
bloß nicht, dass ich dich wollte“, hat sie immer gesagt. Mein Papa
wollte mich auch nicht. Aber wenigstens hatte er soviel Anstand, es mir nicht
ins Gesicht zu sagen“, sie bricht in Tränen aus.
„Wenn wir erst mal in Washington sind, wirst du Deadwood, deine Mutter
und alle vergessen haben“, sagt Dan.
„Ich hätte dich nicht so behandeln sollen. Tut mir leid, wenn ich
dich unter Druck gesetzt haben sollte.“, sagt Lindsey.
„Schon vergessen“, erwidert er. Lindsey berührt seine Wange
und Dan ergreift zaghaft ihre Hand. Dann drückt er sie vorsichtig runter.
„Wie geht es weiter?“ fragt Lindsey.
„Was meinst du?“ fragt Dan.
„Mit Frankie. Was passiert mit ihm?“
„Wann hast du das gelesen?“ Dan lässt ihre Hand los.
„Als du nicht in dein Zimmer warst. Die paar male, wo ich bei dir war,
habe ich mir deine Sachen durchgesehen“, sagt sie.
„Ich weiß es nicht“, sagt Dan und lehnt sich wieder
zurück. Er schließt die Augen und beide verfallen in ein Schweigen.
Dan sitzt da und starrt ins leere. Er hat die kleine ins Herz geschlossen und
wird alles tun, damit sie glücklich ist.
21
Jean ist nicht in der Bar, als sich Dan mit seiner Schreibmaschine an den
Tresen setzt. Es sind sowieso viel weniger Leute hier, als das letzte mal.
„Kaffee?“ fragt der Barmann als er zu ihm kommt.
„Ja, gerne“, erwidert Dan und stellt seine Schreibmaschine auf die
Theke. Der Barmann mustert ihm, sagt aber nichts. In dem Moment kommt Jean
rein. Sie setzt sich ein paar Plätze von Dan entfernt auf einen Hocker.
„Autor?“ lächelt sie.
„Im Moment ja“, gibt Dan zurück und spannt das Papier in die
Schreibmaschine. Die Frau bestellt ebenfalls einen Kaffee und Dan beobachtet
sie, während sie ihren Kaffee trinkt. Er wendet den Blick sofort wieder
ab, als sie ihn ansieht.
22
Die kleine Gruppe, die sich in einer von Bäumen umgebenen Fläche
niedergelassen hat, nimmt Frankie auf, als wäre er einer von ihnen. Sie
geben ihm zu essen und teilen mit ihm den Kaffee. Nick „Lonely
boy“ Timmens ist ein großer Mann mit einer Vorliebe für das
Kartenspiel und den Whiskey. Chris ist ein schweigsamer Mann, doch wie Malcolm
dem Neuankömmling erzählt, ist er, wenn man ihm besser kennenlernt,
einer der nettesten Menschen, die er jemals getroffen hat.
„Wieso ‚Lonely boy‘? Woher kommt der Name?“ fragt
Frankie.
„Weil er noch nie eine Frau hatte während wir schon alle
verheiratet sind oder es bis vor kurzen waren“, erwidert Malcolm. Die
Männer sind aus dem Norden South Dakotas geflohen und sind auf den Weg
nach Wyoming. Sie fragen Frankie, ob er sie begleiten wolle.
„Ja. Ich bin auch auf der Flucht. Und wenn ich euch nicht getroffen
hätte, wäre ich vermutlich umgekommen“, sagt er.
„Raubüberfall?“ fragt Chris.
„Mord“, erwidert Frankie.
„Und wem?“ fragt Chris.
„Drei Männer. Einer von ihnen hat meinen Bruder getötet. Wir
haben zusammen in Deadwood nach Gold gesucht“, sagt Frankie.
Am nächsten Tag brechen sie auf. Sie reiten durch das Unterholz meiden
Städte und leben von der Jagt. Die Männer waren an mehreren
Raubüberfällen beteiligt und nicht selten haben sie auch zur Waffe
gegriffen.
„Wir schlafen nicht. Jedenfalls nicht viel. Wir machen nur kurz halt und
wir halten immer beide Augen offen. Du kannst schießen, nehme ich
an“, sagt Nick, der neben Frankie her reitet.
„Ja“, erwidert er.
„Gut. Bleib bei uns und beobachte. Ich glaube nicht, dass wir wieder in
eine derartige Lage kommen, in der wir unsere Waffen ziehen müssen, aber
wir wollen auf alles gefasst sein. Also, mach einfach das, was wir auch
tun“, sagt Nick.
Frankies neue Gefährten haben sich alles was sie wissen, selbst
beigebracht. Und Dieses Wissen geben sie jetzt an Frankie weiter. Sie zeigen
ihm, wie man jagt, sie bringen ihm bei, Spuren zu deuten und sie lehren ihm,
auf jedes Geräusch zu achten, selbst wenn es nur der Wind ist.
Frankie erweist sich als wissbegieriger Schüler und lernt schnell. Als
sie sich einem Hasen nähern fordert Nick Frankie auf, ihn selber zu
erlegen.
„Ganz ruhig“, flüstert er. Frankie legt an. Und trifft. Dann
geht er hin und erschießt den Hasen.
„Gut so?“ fragt er.
„Hast du es dir gemerkt?“ fragt Nick.
„Ich denke schon“, lächelt Frankie.
Am Feuer zeigen sie ihm, wie man ein Tier zerlegt und richtig brät.
„In der nächsten Stadt besorgen wir dir ein Messer“, sagt
Nick. Bis zur nächsten Stadt brauchen sie zwei Tage. Sie wollen in einen
Laden gehen doch Jimmy nimmt Frankie vorher zu Seite.
„Ich weiß, du hast gemordet, weil du es musstest. Aber solange du
hier bist, wird man hinter dir her sein und du musst schnell sein. Also, du
gehst jetzt da rain und nimmst dir das Messer“, Jimmy nimmt Frankie den
Revolver aus dem Holster und hält ihn den Jungen hin. Dieser sieht die
anderen an.
„Ja. Ich mach’s“ sagt er und betritt den Laden. Mit
gezogener Waffe, verlangt er ein Messer.
23
Dan merkt nicht, dass Jean neben ihm steht und ihm auf das Blatt guckt. Dann
fährt er herum.
„He, ich bin’s nur“, sagt sie.
„Ja“, Dan guckt sich um. Plötzlich sieht er Lindsey, die auf
einem Hocker sitzt und mit dem Barmann spricht. Er nimmt die Blätter und
springt auf.
„Lindsey“, sagt er.
„Dan, ich …“ sagt sie. Als der Barman ihr das Glas
hinstellt, nimmt Dan es an sich.
„Das ist kompliziert“, sagt Dan zum Barmann und dieser wendet
sich, nachdem er Dan kritisch gemustert hat, ab. Dan trinkt das Glas in
einem Zug aus und begleitet sie zu ihrem Sitz.
„Du bleibst hier“, sagt er und geht zur Bar zurück. Dann
räumt er die Blätter und die Schreibmaschine zusammen.
„Was bin ich für ein Idiot?“ sagt er.
„Was ist denn los?“ fragt Jean.
„Ich erkläre das später“, gibt Dan zurück und macht
den Koffer zu. Einen Augenblick später ist er wieder bei Lindsey.
„Hier“, er gibt ihr das fast leere Flächen und sie entfernt
sich. Als sie wiederkommt setzt sie sich neben ihn.
„Hast du noch was?“ fragt sie.
„Brauchst du es denn?“ erwidert Dan.
„Hast du?“ insistier Lindsey.
„Brauchst du was oder nicht? Ganz ehrlich“, Lindsey starrt
geradeaus und Dan spürt, wie der Whiskey seine Sinne trübt.
„Ich habe sie in Deadwood aufgegabelt. Ihre Eltern haben sich nicht
gekümmert und ich habe beschloßen, sie mit mir nach Washington zu
nehmen“, Dan sitzt Jean gegenüber und sieht in die Nacht hinaus.
„Na, jedenfalls scheint sie bei dir in guten Händen zu sein“,
sagt sie. Dan sieht sie an.
„Ich musste sie mitnehmen“, sagt er.
„Sie leben in Washington?“ fragt Jean.
„Ja“, sagt Dan.
„Ich fahre auch dorthin. Wenn Sie meine Hilfe brauchen, fragen Sie
einfach“, sagt Jean.
„Danke“, sagt Dan. Als sie endlich am Bahnhof von Washington
ankommen, verabschiedet er sich von Jean und nimmt eine Kutsche in seine
Wohnung.
„Alles gut?“ fragt er auf der Fahrt durch die Stadt.
„Ja“, sagt Lindsey. Als sie in seiner Wohnung ankommen,
kümmern sie sich um das Gepäck. Dan zeigt Lindsey, wo schlafen kann
und macht Abendessen. Danach stellt er seine Schreibmaschine auf den Esstisch.
„Du musst weg von dem Zeug“, sagt Dan als sie sich
gegenübersitzen.
„Hilfst du mir dabei?“ fragt Lindsey.
„Ja. Ich helfe dir.“ Und am nächsten Tag beginnt Lindsey den
Entzug.
24
Das Lindsey in sein Leben kam, hatte Dan nicht kommen sehen. Doch er hatte ihr
einfach helfen müssen. Er hatte es um seines Bruders Willen getan, der
mit zwanzig an den Folgen seiner Alkoholsucht gestorben ist. Als Dan mit
Lindsey nach Washington fuhr, dachte er, er könne seine Geschichte auch
dort schreiben. Doch es ist nicht dasselbe wie draußen in den Black
Hills zu sein. Das Gefühl, das er in dieser Stadt gehabt hatte, ist weg.
Deadwood war alles was Dan brauchte, um den Verlauf seiner Geschichte zu
sehen. Und zu spüren, was Frankie macht. Und die anderen Männer zu
sehen, mit denen er auf der Flucht ist. Doch Dan versucht es weiter. Aus einer
halben Seite wird schließlich eine ganze und aus einer ganzen werden
zwei. Lindsey fällt es noch immer schwer, ihr Verlangen nach Rauschmittel
in den Griff zu bekommen. Doch Dan tut alles, um es ihr so leicht wie
möglich zu machen.
Dan sitzt vor der Schreibmaschine und starrt auf das leere Blatt. Seit einer
Woche ist er außer Stande, auch nur einen vernünftigen Satz zu
Papier zu bringen. Er hat immer wieder angefangen und das Papier
zusammengeknüllt weggeworfen. An diesem Tag haben sich die
Papierbälle zu einer beträchtlichen Menge angehäuft. Lindsey
nimmt jeden Ball vom Boden und ließt sich den Inhalt durch.
„Und das hier?“ fragt sie und hält ein Papier hoch.
„Nein“, sagt Dan nachdem er sich die Sätze durchgelesen hat.
„Das ist gut“ Dan guckt nochmals drauf.
„Ja. Aber nicht so, wie ich es gerne hätte. Wirf sie alle
weg“, sagt er. Lindsey entsorgt die Zettel und setzt sich Dan wieder
gegenüber. Nach einer Weile ist auch das Blatt vor ihm fast zur
Hälfte vollgeschrieben. Er reißt es heraus.
„Hier“, sagt er. Lindsey nimmt es entgegen.
„Soll das weg?“ sie sieht auf das Blatt.
„Ja. Ich hör auf“, sagt er. Lindsey sieht ihn an. Dan steht
auf und geht in die Küche. Er ist unruhig, seit neuestem ist er es immer,
wenn ner ein paar Wochen lang nichts geschrieben hat. „Ich konnte es!
Und jetzt? Alles weg“, sagt er. Lindsey kommt zu ihm.
„Ich will nicht der Grund sein, dass du unglücklich bist“,
sagt sie sanft und nimmt seine Hand. Dan befreit sich aus dem Griff.
„Mir fällt schon was ein“, sagt er. Doch auch in den
nächsten Tagen kommt ihm keine Erleuchtung.
Nach ein paar weiteren Tagen hat Dan eine halbe Seite geschrieben, doch mit
dem Ergebnis ist er bei weitem nicht zufrieden. Dan gibt auf und geht mit
Lindsey zu einem Freund, den er aus der Redaktion kennt. Ricky sieht, dass Dan
unter Druck steht und versucht, ihn zu beruhigen.
„Dan, komm erst mal wieder runter. Du setzt dich beim Schreiben zu sehr
unter Druck, Das war schon immer dein Problem“, sagt er.
„Ich weiß. Denkst du, ich habe Freude daran? Ich kann einfach
nichts dagegen tun“, erwidert Dan.
„Es ist nur ein Buch. Es ist deine Fantasie“, sagt Ricky und beugt
sich zu ihm. „Sag dir das immer wieder.“
„Ich versuch es“, sagt Dan.
„Willst du auch ein Bier, Dan? Zum runterkommen“, sagt Ricky. Dan
funkelt seinen Freund an.
„Du kannst doch jetzt kein Bier trinken, denk doch man nach!“,
Ricky bemerkt seinen Fehler und sieht Dan geschockt an.
„Es … Dan, ich …“ stammelt er.
„Außerdem ist es Nachmittag, Herr Gott!“ sagt Dan.
„Dan …“
„Ricky, du bist so sensibel, wie ein Ackergaul. Weißt du das?
“ sagt Dan. Ricky lächelt schwach. Dann sieht er zu Lindsey, die
die beiden beobachtet.
„Wir reden die Tage nochmal, in Ordnung?“ sagt Ricky.
„Ja, alles klar“, sagt Dan und verlässt mit Lindsey das Haus.
25
Gefolgt von den Häschern des Gesetzes, jagen sie durch das Weideland. Sie
spüren jeden Atemzug, so süß, so klar, so intensiv, dass man
nicht genug davon bekommen kann. Frankie fühlt, das erste mal in seinem
Leben, die reizvolle Gefahr des Todes. Es ist ein Erlebnis, das er nie wieder
vergessen wird. Er sieht zu Nick, der neben ihm reitet. Frankie setzt sich an
die Spitze und kann sich nur schwer auf seinem Hengst halten.
„Nicht so schnell!“ ruft Chris. Doch Frankie hört ihn nicht.
Chris setzt sich neben ihn an die Spitze und sieht zu ihm rüber.
„Alles klar!“ ruft Frankie.
„Das sehe ich!“ ruft Chris zurück und sie jagen ihre Pferde
über die Prärie South Dakotas. Erst spät am Abend steigen sie
ab.
„Wieso kannst du so gut reiten?“ fragt Nick am Lagerfeuer.
„Ich bin seit meiner frühesten Kindheit geritten. Unser Vater hat
uns dazu angespornt, alles zu lernen. Wir konnten uns da erst gerade so auf
den Sattel halten“, erwidert Frankie.
„Diese Männer, die du in der Stadt gesucht hast, die wirst du nicht
wiedersehen“, sagt Malcolm.
„Sie wiedersehen? Wenn ich das tue, werde ich zu ende bringen, was ich
begonnen habe“, Frankie sieht ihn an.
„Ach“, macht dieser.
„Das …“ Frankie zeigt in die Prärie hinaus und seine
Augen funkeln. „Das hat gerade mein Leben verändert. Ich war dem
Tod so nahe und doch habe ich gedacht: ‚Ich will das! Ich will da
draußen sein. Ich möchte das immer und immer wieder
erleben‘“
„Frankie!“ ruft Nick.
„Was?“ erwidert er.
„Beruhige dich. Du hast so etwas noch nie gemacht“, sagt Chris.
„Wir wollten das große Geld machen. Wir wollten nach Europa oder
uns irgendwo niederlassen oder sonst was. Aber wißt ihr was? Das ist
eine mühselige Arbeit, im Schlamm zu stehen und zu hoffen, dass man etwas
findet. Ich nehme es mir einfach“, sagt Frankie.
„Es war für mich auch mal so. Ich habe genauso gedacht, wie du. Und
jetzt ist es was völlig normales. Du hältst den Leuten den Revolver
vor die Nase und wenn sie nicht hören: Peng“, sagt Malcolm.
„Das ging uns allen so“, fügt Nick hinzu. Am nächsten
Morgen satteln sie ihre Pferde und reiten weiter.
Die Männer, die im Saloon aufeinander losgehen, stehen inmitten einer
Menschenmenge. Der Kerl, mit den Dreitage Bart packt den anderen am Kragen.
Dieser reißt sich los und funkelt ihn an.
„Wir können das gern draußen klären!“ ruft er.
„Von mir aus gerne!“ sie stürmen auf die Straße und
stellen sich gegenüber. in diesen Moment kommen Chris und die anderen am
Saloon an und stellen sich zu den anderen.
„Was ist den los?“ fragt er einen Schaulustigen als in diesen
Moment der Schuss fällt.
„Keine Ahnung. Es war sicher wieder eine Kleinigkeit. Ich sagte noch zu
ihm, er soll die Finger vom Whiskey lassen. Bekommt ihn nich. Keinem von
beiden“, sagt der Mann. Im Saloon trinken sie einen Whiskey und ziehen
dann weiter. Bei Frankie hat sich die Aufregung inzwischen wieder gelegt und
als er mit den anderen Jungs an diesem Abend um das Feuer sitzen, ist er
wieder ganz er selbst.
Er zieht mit den Männern durch die Gegend und raubt Städte aus. Wie
Malcolm gesagt hat, ist es zu etwas völlig normalen geworden. Es ist
jetzt ein Teil seiner Persönlichkeit, doch Frankie hat noch lange nicht
genug von seinem Dasein als Outlaw.
„Es wird alles zur Gewohnheit“, sagt Nick als sie nebeneinander
her reiten. Frankie schämt sich, so gedacht zu haben, doch er weiß
auch, dass diese Art von Gedanken für einen jungen Mann wie ihm normal
sind. Er sieht zu Nick rüber und lächelt ihn an.
26
Dan zeigt Lindsey, wo er arbeitet. Er zeigt ihr, wie man die große
Druckmaschine benutzt und lässt sie sogar ein paar Sätze drucken.
Dann stellt er sie seinen Kollegen und Freunde vor. Lester, den Lindsey
bereits aus der Vergangenheit kennt, zeigt ihr, wie man Fotos entwickelt. Sie
zeigt sich sehr interessiert und wissbegierig und löchert Dan bei der
Rückfahrt mit Fragen.
„Ich war ein wenig älter als du und auf de Suche, nach einer
Arbeit. Als ich diese Stelle hier bekam, bin ich einfach ins Büro herein
marschiert und habe mich vorgestellt“, sagt Dan. „Kleine Zeitungen
suchen immer jemanden. Sie wollten nur, dass ich ihnen zeigte, was ich konnte.
Also schrieb ich ihnen einen Text zu einem Thema, das sie mir vorgaben und da
haben sie mich genommen.“
„War das denn so einfach?“ fragt Lindsey.
„Bei mir war es so. Interessiert dich das?“ Dan wirft ihr einen
Blick zu.
„Hast du mich deshalb mitgenommen?“ fragt sie, statt auf seine
Frage zu antworten.
„Lester, ich und die anderen sind uns einig, dass wir dir helfen wollen.
Ich bringe dir auch Schreiben bei. Professionell meine ich. Aber wir arbeiten
dich nur empfehlen. Entscheiden, muss das jemand anderes und das wird nicht so
einfach“, sagt Dan.
„Ich tue alles, hum aufgenommen zu werden“, sagt Lindsey.
„Ich Kümmere mich darum, das du es tust“, erwidert Dan und
als sie in seiner Wohnung sind, verbringen sie den Abend damit, zu planen, was
zu tun ist.
Dan hat Lindsey zu ihrem Geburtstag keine Feier versprochen, da diese es nicht
wollte. Überraschte sie aber dennoch mit einem Essen im Restaurant. Als
er, Lester, Ricky und ein paar andere seiner Kollegen das Restaurant
verlassen, unterhalten sie sich über Lindseys Zukunft.
„Ja, das könnte zu machen sein“, sagt T..J, das wichtigste
Glied, in der Redaktion.
„Du könntest ein gutes Wort für sie einlegen und sagen, das
ihr seelisches Wohl davon abhängt“, fügt Ricky hinzu.
„Ich rede mal mit Travis“, sagt er.
„Ricky?“ Ricky geht zu Dan rüber und dieser nimmt ihm zur
Seite. „Wir hatten noch nicht die Gelegenheit, miteinander zu reden,
aber in Zukunft trinkst du dein Bier, wenn du alleine bist.“
„Dan …“
„He, ich meine es ernst. Das muss nicht sein“, unterbricht Dan den
Protest seines Freundes.
„Ja. Ja, ich halte mich zurück“, sagt er.
„Danke“, entgegnet Dan.
27
Während der Zugfahrt hatten sich Dan und Jean sehr ausgiebig unterhalten.
Dan hatte ihr erzählt, wo er arbeitet und was. Also hatte sich Jean, nach
langer Überlegung, auf den Weg gemacht, um Dan zu suchen. Sie fand
schließlich die Redaktion und ließ sich von einem Mitarbeiter den
Weg, zu Dans Haus, erklären.
Als Dan die Tür an diesen Abend öffnet, sieht er sie ein paar
Sekunden lang verblüfft an.
„Ich bin Jean“, sagt sie zögern. „Wir haben uns
…“
„Ich weiß.“, erwidert Dan noch immer überrascht.
„Wir können uns auch hier vor der Tür unterhalten und du
kannst mir den Kaffee hier raus bringen“, sagt sie lächelnd.
„Äh, nein. Komm ruhig rein“, Dan tritt zur Seite. Am Tisch
sitzt Lindsey und Jean begrüßt sie. Dann macht sich Dan daran, den
Kaffee zu kochen und Jean setzt sich.
„Wie geht es dir?“ fragt sie Lindsey.
„Ganz gut“, antwortet sie.
„Habt ihr alles im Griff?“
„Wir geben uns Mühe“, sagt Lindsey. Nach einer Weile kommt
Dan kurz ins Wohnzimmer.
„Der Kaffee kocht gerade“, sagt er. Dann sieht er Jean fragend an.
„Du hast mir gesagt, wo du arbeitest. Also habe ich mich irgendwann auf
den Weg dorthin gemacht. Ich wusste nicht, ob das so eine gute Idee
ist“, sagt sie.
„Ja. Ich meine, du kommst ziemlich überraschend, aber ja“,
sagt Dan noch immer perplex, was Jean zum lächeln bringt.
„Der Kaffee“, sagt sie.
„Ja, richtig“, Dan verschwindet wieder in der Küche und kommt
Augenblicke später mit den Kaffee und zwei Tassen zurück.
„Und wie geht’s mit der Geschichte voran?“ fragt sie ihn.
„Nicht sehr gut“ sagt Dan und schenkt ihnen Kaffee ein. Dan
erzählt, was er und Lindsey die ganze Zeit über gemacht haben und
fragt Jean, ob sie bleiben wolle.
„Nein, ich suche mir ein Hotel“, sagt sie.
„Gut. Wie lange bleibst du?“ Dan trinkt einen Schluck.
„Zwei, drei Tage“, sagt Jean und fügt dann hinzu: „Eher
zwei.“
Sie bleibt länger. Am fünften Tag holt Dan sie zu sich und quartiert
sie in seinen Zimmer ein. Er selber schläft in einem bequemen Sessel, den
er aus einem der leerstehenden Zimmer holt. Obwohl Dan Keine feste Beziehung
eingehen möchte, tut es ihm gut, jemanden bei sich zu haben, der ihm das
Gefühl gibt, Teil eines ganzen zu sein. Lindsey, die in Dan ihren
Beschützer sieht, fällt es schwer, diese Situation zu akzeptieren,
doch nach einer gewissen Zeit hat sie gelernt, damit umzugehen. Jean fragt
Dan, ob er nicht wieder nach Deadwood zurück wolle, um seine Geschichte
zu Ende zu schreiben. Es ist spät nachts und Lindsey hat sich vor einer
Stunde schlafen gelegt. Dan setzt sich neben sie.
„Ich kann hier nicht weg“, sagt er.
„Ich kann ja bleiben. Ich kümmere mich hier um alles“, sagt
Jean.
„Das ist doch verrückt. Nein, ich bleibe mit dir hier“, sagt
Dan und fühlt sich, wie ein Schuljunge, der zum ersten mal mit einem
Mädchen ausgeht.
„Gut. Das ist deine Entscheidung, Dan“, sagt sie und als sie
schlafen gehen, küssen sie sich. Dan bereut seine Entscheidung sofort,
aber es gibt kein zurück mehr. Sie legen sich schlafen und er fragt sich,
wann er es sich endlich wieder erlaubt, jemanden in sein Leben zu lassen.
28
Dan sitzt auf seinen Sitz und schließt die Augen. Er atmet tief durch
und sieht dann wieder sein Gegenüber an, der eine Zeitung in den
Händen hält. Dan hat letztlich eingewilligt, zurückzufahren und
Jean mit Lindsey alleine zu lassen. Eine Entscheidung, für die er zu
treffen, beinahe zwei Wochen brauchte. Der Zug fährt ab und Dan hat in
der ganzen Zeit des Wartens nur zwei mal auf den Bahnsteig hinuntergesehen.
Jetzt wirft er einen letzten Blick aus dem Fenster. Die Trennung von Lindsey
ist ihm schwergefallen. Auch der Abschied von Jean war nicht einfach doch Dan
verspürt eine seltsame Vorfreude, bei dem Gedanken, zurückzukehren.
29
In Deadwood angekommen, geht Dan die Hauptstraße entlang und fühlt
sich sofort heimisch. Es ist Abend und Dan geht in den Saloon, in dem er am
Tresen einen alten bekannten wieder trifft. Dan gesellt sich zu Ed und
bestellt einen Kaffee.
„Dan!“ ruft Ed und lacht ihn an.
„Na? Alles klar?“ fragt Dan.
„Man schlägt sich so Durch. Und bei Ihnen?“ Ed sieht ihm
neugierig an.
„Lindsey geht es gut. Ich habe versprochen, so bald wie möglich
zurückzukommen. Ich habe Bekanntschaft mit einer Lady geschloßen,
die jetzt bei ihr ist“, erwidert Dan.
„Das ist gut. Das ist sehr gut“, sagt Ed. In diesen Moment kommt
der Barmann mit Dans Kaffee.
„Danke“, sagt er.
„Im Hotel ist ein Zimmer frei. Ich helfe Ihnen mit dem
Gepäck“, sagt Ed. Sie trinken aus und bringen Dans Sachen im Hotel
unter.
Dan schlendert durch die Stadt und lässt das Treiben der Straße auf
sich wirken: Cowboys, die durch die Straße reiten, Betrunkene, der Dreck
die Holzhäuser und die Tatsache, dass „Wild Bill“ Hickok vor
nicht allzu langer Zeit, im Saloon erschoßen wurde. Dan geht durch die
Straße und verspürt dieses Gefühl, das er auch damals hatte,
wenn er irgendwas schreiben wollte. Irgendwann geht er zum Hotel zurück,
in dem er sicher nicht mehr lange wohnen kann, und setzt sich an die
Schreibmaschine.
30
Soweit sich Frankie zurück erinnert, haben er und sein Bruder nur eine
Reise unternommen. Die, als seine Eltern mit unzähligen anderen
Männern und Frauen auf den Weg nach Deadwood waren. Wyoming allerdings
ist ein Ort, in dem er noch nie gewesen ist.
Die Stadt, in de sie halt machen ist nicht anders als die duzenden anderen,
die er schon gesehen hat. Die vier Männer machen an einem Hotel halt und
bleiben zwei Tage. Am ersten Tag, decken sie sich mit Proviant ein und gucken
sich die Stadt an. Am zweiten Tag reiten sie weiter.
„Wir müssen noch ein ganzes Stück durch die Prärie
reiten“, sagt Chris zu Frankie. Dann irgendwann, erreichen sie das Ziel
ihrer Reise. Sie steigen ab und klopfen an die Tür.
„He, Hank, Vivian. Wir sind es!“ sagt Nick und ein paar Sekunden
später geht die Tür auf. Sie stellen Frankie ihren beiden Freunden
vor und machen es sich an den Großen Tisch gemütlich.
„Und? Wie geht es euch?“ fragt die Frau namens Vivian.
„Ganz gut. Du siehst gut aus“, sagt Nick.
„Wir kennen uns schon seit Ewigkeiten“, sagt Vivian zu Frankie.
„Und wo haben sie dich aufgegriffen?“ fragt Hank an Frankie
gerichtet.
„In der Prärie. Ich bin … ich war … Nein, eigentlich
bin ich noch immer hinter ihnen her“, erwidert Frankie.
„Hinter wem?“ fragt Hank.
„Hinter Männern“, sagt Frankie. Vivian fragt, ob die
Männer hungrig seien. Als die Männer dies bejahen, begibt sie sich
in die Küche.
„Braves Mädchen“, sagt Chris.
„Wer seid ihr?“ fragt Frankie den Mann, ihn gegenüber.
„Wir kennen uns schon seit Jahren“, sagt Hank. „Ich bin
damals mit denen mitgereist. Dann hab ich Vivian kennengelernt und mich hier
niedergelassen.“
„Sie sind sowas wie unsere Zuflucht“, sagt Malcolm.
31
1876 ist nicht nur das Jahr, in dem Deadwood gegründet wurde, es ist auch
das Jahr, in dem die Schlacht am Little Bighorn River geführt wurde. Das
Rad der Geschichte, hat sich an jenem schicksalhaften Tag, zu Gunsten der
Indianer gedreht und die Welt um ein paar Legenden und Mythen bereichert.
Legenden, die sich auch Dan zu nutze machen kann. Als er an diesem Abend mit
Ed im Saloon sitzt und sich über diese Ereignisse unterhält wird
klar, das Ed recht offen für die Weißen und deren Ansichten ist,
sie hätten ein Recht auf dieses Land. Da Ed Goldsucher ist,
überrascht es Dan nicht besonders.
„Wissen Sie, Dan? Jeder hat seine Meinung darüber; und es ist in
Ordnung“, sagt Ed. Dan denkt darüber nach und trinkt seine Tasse
leer.
„Ja. Für Sie als Goldsucher ist es das“, erwidert Dan.
„Wollen Sie noch eine Tasse?“ fragt Ed.
„Gerne“, sagt Dan. Ed bestellt ihm noch einen Kaffee und
gönnt sich ebenfalls einen.
„Eine Möglichkeit wie hier, bekommt man nicht alle Tage. Bedenken
Sie doch, wie viel Gold es hier in dieser Gegend gibt“, sagt Ed.
„Von dem du aber nie etwas findest. Hallo Ed“, sagt ein Mann und
gesellt sich zu ihnen.
„Ah, hallo Murray“, erwidert Ed.
„Dan? Wieder da?“ der Mann sieht ihn an.
„Ja. Sieht so aus“, sagt Dan.
„Die Inspiration“, sagt Ed.
„Ja, was denn sonst. Inspiration gibt es hier mehr als Genug. Ihr seid
bedient, wie ich sehe?“, sagt Murray.
„Uns geht es gut“, sagt Ed und Dan spürt wieder dieses
seltsam vertraute Gefühl, angekommen zu sein.
Das Gold, das diese Stadt aufgebaut hat, hat zwei Seiten: Auf der einen,
stehen jene, die es zu Geld bringen. Auf der anderen Seite stehen die, die von
Männern mit großen Hüten und Revolvern in der Hand, umgebracht
werden. Zu diesen Männern, die Opfer jener Schlacht wurden, die sich im
Verborgenen abspielt, zählt der Goldhändler Tom Bridge. Als Tom tot
aufgefunden wird, fällt der Verdacht erst auf einen Mann, der mit dem
Goldhändler in Feindschaft lebte.
„Ich sage euch: Wenn man ihn nicht umgebracht hätte, dann
hätte ich es irgendwann selbst getan!“ sagt er, als die Männer
ihm im Saloon darauf ansprachen. Doch es gibt noch jemanden, der sich mit dem
Händler überworfen hatte. Ernest, der Vater von Lindsey und
mittlerweile Witwer.
Er hat sich so ziemlich mit jeden überworfen, der ihm über den Weg
lief. Nur ein paar Männer sind noch bereit, sich mit Ernest einzulassen.
Diese Männer treffen sich gerade im Saloon und beraten, was als
nächstes passieren soll.
Desperados, denen man besser nich begegnet. Männer, die für Geld
bereit sind, alles zu tun.
„Na, was ist denn so wichtig?“ fragt Clark. Er schenkt sich gerade
Whiskey aus der Flasche ein, die der Barmann ihn überlassen hatte. Diesen
Männern gibt man besser was sie wollen. Das weiß jeder in Deadwood.
„Ernest hat die Beherrschung verloren“, antwortet Clyde.
„jetzt sind wir Mörder. ‚Wir dürfen kein Aufsehen
erregen‘, weißt du noch?“ Ernest schenkt sich neuen Whiskey
ein.
„Die Dinge haben sich geändert“, sagt er.
„Ist ja auch egal. Es ist passiert und es hilft nicht mehr, sich
darüber aufzuregen“, sagt Lucas. Die Männer sehen ihn an.
„Und was ist jetzt der Plan?“ fragt Clark.
„Unter uns muss es noch sehr viel Gold geben. Wir müssen nur Platz
schaffen.“ sagt Lucas. Die anderen Männer sehen sich fragend an.
„Du willst aufräumen?“ fragt Ernest.
„Ja. Genau hier. Dort. Gegenüber“, sagt er.
„Wir vier?“ fragt er.
„Nicht wir vier. Ernest, du bist der überzeugendste von uns. Du
fährst nach Washington und fragst deine alten Freunde in der Regierung,
ob sie etwas für uns tun können“, sagt Lucas. Die Männer
gönnen sich noch ein paar Gläser Whiskey und Ernest tritt vor. Er
sieht zu den Gästen und ruft:
„Hat jemand was dagegen!?“ das Schweigen, das sich im Saloon
erstreckt, gefällt ihm. Er dreht sich zu seinen Kumpanen um.
„Kommt, setzen wir uns“, sagt Clyde. Sie suchen sich einen Tisch,
während im Saloon noch immer Schweigen herrscht. Dan sieht sich um. Er
wartet noch eine ganze Weile, bezahlt und verlässt schließlich den
Saloon.
Die Nachmittagssonne scheint auf ihm herab und Dan atmet tief durch. Er war
heute noch nicht am Fluss und vielleicht trifft er auf Ed. Dan weiß
nicht, wie er über den alten Mann denken soll, doch er ist ihm auf eine
Weise ans Herz gewachsen, dass Dan bereit ist, alle seine Bedenken über
Bord zu werfen. Als er am Fluss ankommt, sieht er Ed, der wieder mal nach Gold
sucht.
„Und?“ fragt Dan. Ed wäscht den Schürfteller aus und
setzt sich zu ihm.
„Ich weiß gar nicht, wieso ich das tue. Das Glück ist wohl
den anderen vorbestimmt“, sagt er.
„Da waren Männer im Saloon. Die sprachen von Gold“, sagt Dan.
„Eine Menge Männer tun das“, erwidert der alte.
„Ich glaube, sie haben jemanden umgebracht.“ Ed sieht Dan mit
großen Augen an.
„Sind Sie sicher?“ fragt er.
„Ja“, sagt Dan und Ed hält sich den Zeigerfinger an die
Lippen.
„Seien Sie bloß leise. Was gedenken Sie zu tun?“ er sieht
sich um.
„Erstmal nicht in Panik verfallen“, sagt Dan. Er sieht auf das
Panorama hinaus, das sich ihm bietet.
„In Ordnung. Wir machen erstmal ganz normal weiter“, sagt Ed. Sie
reden noch eine Weile; dann geht Ed wieder zum Fluss und Dan sitzt nur da, und
beobachtet die paar Männer, die dort auf ihr Glück hoffen.
32
Ernest schwingt sich in den Sattel. Er war mal für die Regierung
tätig, bis ein Eklat ihn zur Niederlegung seiner Ämter zwang. Doch
er hofft, die Gunst seiner ehemaligen Parteifreunde gewinnen zu können.
Während er aus der Stadt jagt, wäre er beinahe mit einem Mann
zusammengestoßen, der auf dem Weg zum Saloon ist. Ernest denkt daran,
dass ihn dieser Plan reich machen könnte. Hier in den Black hills muss so
viel Gold vergraben sein, dass es problemlos für sie alle reichen
würde. Doch er denkt nicht daran, zu teilen. Er würde mit dem Geld,
dass er für seine Beute bekommen wird, nach New Mexico flüchten.
33
Lester sieht zu Lindsey rüber. Heute wirkt sie unkonzentriert und nicht
bei der Sache, weshalb er zu T.J. an die Druckmaschine geht.
„T.J. Machst du für mich weiter?“ sagt er und geht zu
Lindsey. „Was ist?“
„Nichts“, erwidert sie.
„Es wird besser. Versprochen“, sagt Lester und drückt sie an
sich. Lindsey sieht ihn an und legt ihren Kopf auf seine Schulter.
„Ich hab … Dan alles zu verdanken“, sagt sie.
„Er kommt sicher bald zurück“, sagt Lester. Als er sich
abwendet, hält Lindsey ihm zurück.
„Warte.“
„Lindsey, ich muss zurück an die Arbeit. Du brauchst mich nicht.
Ich bin für dich da, aber du musst lernen, alleine klarzukommen“,
Lester lächelt sie an und geht zurück. Nach einer Weile macht sich
auch Lindsey wieder an die Arbeit.
34
Dan geht in die Eingangshalle und will auf sein Zimmer gehen, als Ed ins Hotel
kommt.
„Dan! Ich hab mich hier mal umgehört“, sagt er und Dan dreht
sich zu ihm rum. „Können wir in Ihrem Zimmer reden?“
„Sicher“, sagt Dan und sie gehen hoch. Ed setzt sich und Dan nimmt
auf dem Bett platz.
„Die Leute hier, es sind zwar Goldsucher, aber sie sind auch Menschen.
Und sie wollen nicht, dass hier alles niedergemacht wird“, sagt Ed.
„Was hab ich damit zu tun?“ fragt Dan.
„Diese Männer haben sich bis jetzt weitgehend zurückgehalten.
Aber jetzt sprechen sie davon, hier irgendwas zu machen. Wie, glauben Sie,
wollen diese Leute an das Gold kommen?“
„Dann haben sie auch diesen Mord begangen“, schlussfolgert Dan.
„Tom Bridges war Goldhändler. Ich habe mich ab und zu mit ihm
unterhalten. Ich weiß nicht, wieso sie das getan haben, aber sie waren
es. Da bin ich sicher“, sagt Ed. Dann verlässt er Dans Zimmer. Dan
bleibt noch eine ganze Weile auf dem Bett sitzen und nach ein paar Minuten,
die ihn wie eine Ewigkeit erscheinen, spannt er ein leeres Blatt in die
Maschine und fängt an zu tippen.
35
Die Männer bleiben nur ein paar Tage im Haus von Hank und Vivian, und
reisen dann weiter nach Montana. Sie haben kein bestimmtes Ziel vor Augen,
für sie ist es in Ordnung. Frankie vergisst bald, weshalb er
überhaupt fortgeritten ist. In einer Stadt machen sie halt, um dort eine
Weile zu bleiben um das erste mal seit langer Zeit, sesshaft zu werden.
Als die Mutter von Aquila 1848 einen weißen Siedler heiratete, schien
die Welt für die beiden noch in Ordnung zu sein. Doch als es für sie
bedrohlich zu werden drohte, überredete er den Stamm, in den westlichen
Teil von Montana zu fliehen. Weg von der Besitzgier der Weißen. Sie
ließen sich nieder und lebten, wie sie es seit hunderten von Jahren
taten. Doch irgendwann werden Kinder groß und wollen ihre eigenen Wege
gehen. Und so zog es Aquila, entgegen den Wunsch seiner Mutter, in die
Stadt.
Als die vier Männer in die Stadt kommen machen sie im Saloon halt. Der
Mann, mit dem indianischem Aussehen, sieht zu den neuen Gästen
hinüber. Einer der Männer spricht ihn an, woraufhin er sich wieder
seinen Kameraden zuwendet.
„He, ihr seid doch diese Outlaws, die diese Männer in dieser Stadt
in South Dakota ermordet haben“, sagt der Barmann, als Malcolm den
Whiskey bestellt.
„Und?“ gibt dieser zurück.
„Nichts, ich … bring euch den Whiskey“, sagt der Barmann
und kommt kurz darauf mit den Gläsern zurück. Er schenkt jeden ein
und wendet sich wieder ab. Malcolm grinst Nick an.
„Was?“ fragt er.
„Das war nicht nett“, sagt Malcolm.
„Ich weiß nicht, was du meinst“, grinst Nick zurück und
Lacht. Malcolm steigt in sein Lachen ein und sie trinken den Whiskey in einem
Zug aus.
Wie jeder junge Mann versucht auch Aquila herauszufinden, wohin er
gehört. Und wie jeder junge Mann will er wissen, wo seine Grenzen sind.
Doch diese Männer, mit denen er sich im betrunkenem Zustand angelegt hat,
hätten ihn beinahe umgebracht, wären ihm nicht Frankie und die
anderen zu Hilfe gekommen. Als sie ihn am nächsten Tag wieder treffen,
fragt Frankie, wieso er das getan habe.
„Ich weiß es nicht“, sagt Aquila.
„Du bist ein halber Indianer, richtig?“ fragt Frankie.
„Ja“, erwidert der Mann mit dem langen Haar.
„Frankie, komm“, sagt Chris. Frankie sieht ihn an und sagt, sie
sollen schonmal vorgehen.
„Sie mögen mich nicht“, sagt Aquila.
„Sieht ganz so aus. Was bedeutet der Name Aquila?“
„Er bedeutet ‚Adler‘ erwidert er. Nach einer Weile
verabschieden sie sich voneinander und Frankie schließt sich wieder
seiner Gruppe an.
36
„Du hast vielleicht Neven. Nachdem, was du dir und uns angetan hast,
tauchst du hier wieder auf. Du bist nicht mehr in der Partei“, der
Generalsekretär sieht ihm von seinem Schreibtisch aus an.
„Aber es ist eine vielversprechende Sache. Ihr werdet daran auch
verdienen“, sagt Ernest. Der Mann sieht ihn an.
„Ja. Das stimmt. Ich kann versuchen, dein Anliegen bei unserer
nächsten Sitzung anzusprechen“, sagt er. Dann hebt er den Finger.
„Aber sie werden mich fragen, wer das alles bezahlen soll.“
„Wenn ich recht habe, und dort wirklich so viel Gold unter der Erde
liegt, werdet ihr das Geld ganz schnell wieder reinkriegen“, sagt
Ernest.
„Wenn du recht hast? Soll ich vielleicht sagen: ‚Unser ehemaliger
Freund, Ernest Ferguson, hat etwas lukratives in Aussicht, aber er weiß
es nicht‘? Kannst du dir vorstellen, was die mir dann sagen werden?
“
„Deadwood. In dieser Gegend stößt man auf viel mehr Gold, als
du wegschaffen kannst! Das Gebiet gehört doch sowieso uns“, sagt
Ernest. Der Mann, auf der anderen Seite des Schreibtisches, überlegt kurz
und sagt dann:
„Ich sag dir was ich tun werde: Ich werde zwei meiner Männer
dorthin schicken. Sie sollen sich einen ersten Überblick verschaffen. Und
ihr werdet diskret vorgehen. Verstanden? Wenn sie sagen, dass du recht haben
könntest, werde ich versuchen, einen kleinen Trupp zusammenzustellen der
herausfinden soll, ob du mit deiner Vermutung richtig liegst.“
„Danke“, sagt Ernest und erhebt sich.
„Ich tue das nur, weil du mir damals auch genug gefallen getan hast.
Betrachte es als eine sentimentale Geste zum Andenken unserer alten
Freundschaft“, sagt Ernests ehemaliger Kollege und begleitet ihn aus
seinen Büro. Bevor Ernest abreist, versichert sein Freund ihm, dass er
sich so schnell wie möglich um alles kümmern wird.
Dan muss die ganze Zeit an Lindsey und Jean denken. Während er durch die
Stadt streift, wenn er im Saloon ein Kaffee trinkt, oder wenn er sich mit Ed
unterhält. Er denkt, dass er den Verstand verloren haben muss, sein Haus
einer Frau, die er kaum kennt, überlassen zu haben. Doch stimmt das? Ist
Jean wirklich eine Unbekannte? Die paar Wochen, die sie beide in seinem Haus
zugebracht haben, bewiesen ihm das Gegenteil. Selbst jetzt kommt es ihm noch
vor, als wäre diese Entscheidung richtig gewesen.
Der Schleier weht ihr ins Gesicht, als sie zum Grab ihres Mannes hinaufgeht.
Es ist frisch, doch sie hat sich trotzdem auf den Weg zum Friedhof begeben.
Tiffany Bridge ist beinahe jede Woche dort. Sie legt dort Blumen nieder,
verweilt einen Augenblick am Grab und geht dann wieder zurück. In der
Stadt begegnet sie Dan, den sie schon ein paar mal dort begegnet ist.
„Misses Bridge?“ sagt Dan.
„Hallo“, sagt sie nur und geht an ihm vorbei. Dan sieht ihr nach
und geht zu Ed, bei dem er inzwischen wohnt, da er das Hotel nicht mehr
bezahlen kann. Sie sitzen in seinem Zelt zusammen und essen zu Mittag,
während Ed unaufhörlich auf Dan einredet.
„Es stimmt. Diese Männer im Saloon, von denen du gesprochen hast,
haben tatsächlich jemanden umgebracht. Den Goldhändler. Er wohnte
die Straße runter“, sagt Ed.
„Das habe ich schon gehört“, erwidert Dan und wendet sich
seiner Schreibmaschine zu.
37
Erst war Aquila sauer, dass Frankie ihn verschwiegen hatte, dass er Goldsucher
in Deadwood gewesen ist; doch mit der Zeit ist seine Wut auf ihm weniger
geworden und jetzt sitzen sie gemeinsam im Saloon.
„Die anderen haben mich vor die Wahl gestellt. Entweder du oder
sie“, sagt Frankie.
„Was wirst du tun?“ fragt Aquila.
„Ich weiß es nicht“, sagt Frankie betrübt.
„Was sagt dir dein Herz?“ fragt er.
„Aquila, ich weiß es nicht! Wer sind diese Männer? Wer bin
ich? Wer bist du? Was mache ich hier eigentlich?“ sagt Frankie.
„Ja, das frage ich mich auch manchmal. Wer ich bin und was ich hier tue,
meine ich“, sagt Aquila.
„Du hast wenigstens deine Wurzeln. Ja, ich dachte immer Deadwood ist
mein Zuhause. Ich dachte, es wäre in Ordnung“, sagt Frankie.
„Was ist in Ordnung?“ fragt Aquila.
„Ich weiß auch nicht“, sagt er. Aquila trinkt einen Schluck
Whiskey.
„Glaubst du, es ist einfach, so zu leben? Ich meine, hier zu sein und zu
wissen, dass hier die Menschen sind, die dir das Land wegnehmen“, sagt
Aquila. Frankie fällt es schwer, Aquila zu verstehen. Als Sohn einer
Familie aus Farmern, die sich, wie alle anderen, in der Hoffnung, auf ein
besseres Leben nach Westen aufgemacht haben, kann er diese Gefühle
selbstverständlich nicht teilen.
„Meine Eltern hatten irgendwo in den weiten Virginias eine Farm. Sie
hörten, dass alle nach Westen wanderten, also haben sie sich auch
aufgemacht“, sagt Frankie.
„Hat es euch was gebracht?“ fragt Aquila.
„Nein, meine Eltern sind unterwegs gestorben. Mein Bruder und ich haben
uns dann nach Deadwood aufgemacht, aber dort brachte man ihn um“, sagt
Frankie. „Ich bin nur hier, weil ich es nicht geschafft habe, alle von
diesen Männern zu töten.“ Frankie bezahlt und verlässt
den Saloon. Aquila sieht ihn hinterher und bezahlt ebenfalls.
„Warte!“ ruft er. Als Frankie stehen bleibt tritt er vor ihm.
„Du hast dich entschieden.“
„Ja“, Frankie lässt den Kopf hängen. Sie lassen einen
Mann vorbei und schlendern durch die Stadt.
„Na gut. Es stimmt übrigens nicht, dass ich meine Wurzeln habe. Ich
weiß, wohin ich gehöre. Aber ist es richtig, dass ich hier bei euch
bin?“ Aquila lächelt. Es ist ein Lächeln, dass seine
Unsicherheit überspielen soll.
„Ich muss weiter“, sagt Frankie.
„Wohin weiter?“ fragt Aquila. Darauf weiß Frankie keine
Antwort.
38
Wenn Dan nicht schreibt, läuft er durch die Stadt und lässt die
Eindrücke, die sich ihm bieten, auf sich wirken. Er sieht den
Goldschürfern beim Schürfen zu und trinkt im Saloon seinen Kaffee.
Und er fragt sich unaufhörlich, was diese Männer gemeint haben als
sie sagten, sie wollen alles kahl schlagen. Dan ist bewusst, das dies nur eins
bedeuten kann. Nämlich, dass sie vorhaben, die umliegenden Bäume zu
fällen. Alleine können sie das niemals bewerkstelligen. Wer
würde sie dabei unterstützen? Die Regierung? Gut möglich. Er
hat mitbekommen, dass einer von den Männern früher mal bei der
Regierung gewesen ist. Ansonsten bieten die Tage, abgesehen vom Schreiben,
nicht viel Abwechslung.
39
Die Männer erwarten ihn bereits als Ernest vom Pferd steigt. Clark
führt sein Pferd in den Mietstall während die anderen in Ernests
Haus hineingehen.
„Und?“ fragt Clyde.
„Wir können mit Washington rechnen. Mein ehemaliger Partner wird
zwei seiner Leute hierher schicken“, erwidert Ernest.
„Solche Partner muss man haben“, sagt Lucas und grinst. Einen
Augenblick später kommt Clark zur Tür rein und setzt sich an den
Tisch. Er nimmt seinen Revolver aus dem Holster und beginnt ihn auseinander zu
nehmen.
„Wann können wir mit der Ankunft dieser Männer rechnen?“
fragt Lucas.
“Bald“, erwidert Ernest. Clark unterbricht seine Tätigkeit
und sieht auf. Nach ein paar Sekunden widmet er sich wieder seinen Revolver.
„Ernest hat veranlasst, dass wir bei der Goldsuche Hilfe
bekommen“, sagt Lucas, der die Botschaft verstanden hat. Clark sagt nie,
wenn er etwas nicht versteht. Er sieht seinen Gegenüber immer
sekundenlang an und wendet sich dann wieder dem zu, womit er gerade
beschäftigt ist. Die anderen sind anders; sowieso sind diese Männer
grundverschieden. Doch sie alle eint ihre Gier nach Reichtum. Und das Streben
danach, mehr aus dem machen zu wollen, was sie bereits haben. Selbst Ernest
strebt danach. Auch wenn er dabei ganz andere Ziele verfolgt.
Dan hat sich am Vortag sehr spät schlafen gelegt, da er mit ein paar
Männern, mit denen er Freundschaft geschloßen hatte, bis früh
morgens im Saloon geredet hat. Dan späht aus dem Zelt und gähnt. Auf
der Hauptstraße sieht er zwei der Männer, die er vor einer Woche im
Saloon gesehen hatte. Sie gehen die Straße runter in Richtung Fluss als
plötzlich Ed vor dem Zelt auftaucht.
„Du machst ja einen Eindruck, als ob du ein ganzes Jahrhundert nicht
geschlafen hättest“, begrüßt er Dan.
„Ich war gestern noch lange wach“, entgegnet dieser.
„Aha“, macht Ed.
„Wieder auf Goldsuche?“ fragt Dan.
„Tja, irgendwann muss es ja mal was werden“, antwortet Ed und
sieht sich um.
„Ich gehe erst mal in den Saloon Kaffee trinken“, sagt Dan und
zieht sich an.
„Brauchst du Geld?“ fragt Ed.
„Ich brauche wohl eher einen Job“, sagt Dan.
„Ich kümmere mich drum. Aber solange spendiere ich dir die
Kaffees“, sagt Ed und begibt sich mit Dan in den Saloon.
40
Frankie zieht weiter. Von Staat zu Staat, von einer Stadt in die nächste,
immer weiter in Richtung Norden. Sie machen schließlich Halt in
Minnesota und ziehen nach ein paar Tagen weiter. Frankie liebt diese
ziellose Herumreisen und doch sehnt er sich danach, länge als nur ein
paar Tage in einer Stadt zu bleiben. Irgendwann, bei einer ihrer
unzähligen Übernachtungen im Freien fragt Frankie:
„Habt ihr nie darüber nachgedacht, irgendwo einmal länger zu
bleiben?“
„Nein“, antwortet Chris.
„Er lügt“, entgegnet Nick. „Darüber nachgedacht
haben wir natürlich.“
„Ja, du“, Chris sieht ihn an. Nick antwortet mit einem Grinsen.
„Willst du irgendwo halt machen?“ fragt Chris und versichert
Frankie, dass sie sich irgendwo niederlassen würden. Es zieht sie nach
New York. Frankie denkt sogar darüber nach, sich von den Männern zu
verabschieden und sein eigenes Leben zu leben. Nach zwei Wochen geht er und
lässt sich ein wenig Geld mitgeben. Frankie sucht sich ein Hotel und
bliebt dort ein paar Tage. Er bleibt, bis er Jenny kennenlernt.
Die beiden kennen sich kaum eine Woche, da schlägt Jenny vor, dass
Frankie bei ihr wohnen könne. Eine weitere Woche später sind die
beiden ein Paar. Jenny verschafft ihm Arbeit im Restaurant ihres Vaters, der
ihn aufnimmt, als wäre Frankie sein eigenes Kind.
41
Die zwei Männer steigen ab und betreten den Saloon. Sie steuern sofort
auf den Tresen zu, wo Ernest mit seinen Kumpanen Whiskey trinkt. Ernest nickt
ihnen zu und sie machen sich auf den Weg in Richtung des Hotels, in dem Dan
einst einquartiert gewesen war.
„Sie wollen die gesamte Gegend hier roden?“ fragt einer der
Männer.
„Wieso nicht?“ entgegnet Ernest.
„Wo wollen Sie anfangen? Das Gebiet hier ist ziemlich groß“,
sagt der andere.
„Ich dachte, wir folgen den Verlauf des Flusses“, sagt Ernest.
„Schön. Aber Ihnen ist klar, dass wir uns erstmal ein Bild von der
Lage machen müssen. Sie werden keine Unterstützung erhalten,
für ein Vorhaben, bei dem nicht sicher ist, ob es durchführbar
ist.“
„Natürlich“, sagt Ernest. Dann verabschieden sie sich
voneinander und die Männer beziehen ihre Zimmer.
Am nächsten Tag machen sie die Männer auf den Weg in den Black
Hills. Ernest, der es nicht erwarten kann, seinen Plan in die Tat umzusetzen,
geht voraus.
„Da dürften Sie recht haben“, sagt Trevers, einer der
Männer der Regierung. „Hier liegt vielleicht wirklich noch viel
Gold unter der Erde.“ Ernest sieht ihn an.
„Das denke ich auch“, sagt er.
„Allerdings sollten Sie ihre Erwartungen nicht allzu hoch schrauben,
Mister Ferguson. Es gibt zwar Leute, die an ein solches Vorhaben interessiert
sind, aber die wollen sicher sein, dass es hier auch wirklich was zu holen
gibt“, sagt Trevers.
„Aber ich bin ganz seiner Meinung. Hier gibt es sicher so einiges, was
man zu Tage fördern kann“, sagt der andere, Jennings. Nachdem sie
eine ganze Weile gelaufen sind, bleiben sie stehen.
„Hier meinen Sie?“ fragt Trevers.
„Es ist der beste Ort“, erwidert Ernest. Trevers sieht sich um.
„Na schön. Ich glaube, ich habe einen ersten Eindruck von der
Gegend hier bekommen“, sagt Trevers und macht kehrt.
„Wann hören wir von Ihnen?“ fragt Ernest.
„Geduld. Das geht nicht so schnell“, sagt Jennings. Als sie
zurück nach Washington reiten, erbitten sie eine Untersuchung, des
gesamten Gebietes.
Da Ed die Goldsuche nicht mehr so sinnvoll erscheint, hat er beschloßen,
ganz in die Stadt zu ziehen. Es ist in einigen Kreisen ein offenes Geheimnis,
dass Ed von den dubiosen Geschäften, bestimmter Menschen profitiert und
das nicht erst seit kurzem. Als Ed merkte, dass er kein Glück bei seiner
Suche nach den begehrten Steinen hat, ging er zu Männern, die sich
jenseits des Gesetzes befinden, und bot seine Hilfe an. Irgendwann nahm man
ihn schließlich ernst genug, und gab ihm seinen ersten Auftrag.
„Diese Männer wollen auf dem laufenden sein“, versucht er Dan
an diesen Morgen zu erklären.
„Das glaub ich nicht. Was ist mit mir? Hast du auch über mich
geredet?“ fragt Dan.
„Ja“, sagt Ed. Dan geht an ihn vorbei und ignoriert seine Rufe. Er
muss das alles erstmal begreifen und sich überlegen, ob er noch etwas mit
Ed zu tun haben will.
42
Ed weiß, dass er ein Pakt mit dem Teufel geschlossen hat, als er diesen
Männern seine Hilfe anbot. Ed sagte Dan, dass er nicht mehr zurück
könne. Er wisse nicht, wer diese Männer seien. Sie sind
gefährlich und sie zu verraten bedeutet, zu sterben.
„Was hast du ihnen erzählt? Was sollst du ihnen berichten?“
fragt Dan.
„Ich soll mich nur umhören. Die Leute hier vertrauen mir“,
sagt Ed.
„Und du nutzt das aus“, Dan trinkt einen Schluck Kaffee. Ed sieht
sich um.
„Sie kriegen ja auch viel mit, aber ich bin näher dran an den
Menschen hier. Also ja. Aber ich werde dir etwas anvertrauen: Einige von ihnen
sind Ganoven. Die schlimmste Sorte, die du dir nur vorstellen kannst“,
sagt er und trinkt sein Glas leer. „Sie lebten davon, Postkutschen zu
überfallen. Aber frag nicht weiter.“ Ed bestellt ein Bier und
für Dan noch einen Kaffee. Sie sitzen in der hintersten Ecke des Tresen,
wo sie sich ungestört unterhalten können. Dan wagt einen neuen
Anlauf.
„Und wer ist Ernest?“ fragt er. Ed antwortet nicht und tut so, als
hätte er ihn nicht gehört. Schließlich gibt Dan auf und widmet
sich seinen Kaffee.
„Erinnerst du dich als vor einem Jahr alle Zeitungen über diese
Geldgeschichte berichteten?“ sagt Ed auf einmal.
„Ja. Ich habe einen Artikel darüber geschrieben“, sagt Dan.
„Dieser Mann - Ernest - hing da mit drin“, sagt Ed. Dan
beschließt, Ed nicht weiter nach dieser Sache zu fragen. Als sie den
Saloon verlassen, ahnen die beiden nicht, dass die Männer ihnen bereits
auflauern.
Clyde steht am gegenüberliegenden Haus und mustert Ed und Dan feindselig.
„Komm“, raunt Ed und die beiden gehen in Richtung Fluss, wo noch
immer sein Zelt steht. Doch schon bald werden die beiden von einem weiteren
Mann verfolgt und bald gesellt sich Ernest dazu. Dan ist nicht wohl bei der
Sache und auch Ed geht jetzt schneller. Doch die Männer lassen sich nicht
abschütteln und folgen ihnen bis zum Zelt.
„He, Alterchen“, ruft Lucas und zieht seinen Revolver. Dan sieht
sich um und sieht den Mann leicht erschrocken an.
„Mit dir hat keiner geredet“, sagt Clark. Ed dreht sich ebenfalls
um.
„Ich hab euch nichts zu sagen“, sagt er.
„Tatsächlich?“ Lucas spannt den Hahn und Dan stellt sich
schützend vor Ed.
„Na gut. Wie du willst“, sagt er und zielt auf Dans Stirn. Lucas
drückt ab, doch die Waffe ist ungeladen. Der Mann grinst. Dan atmet
erleichtert auf
„Wir sehen uns wieder“, sagt Lucas. Dann machen sie kehrt.
43
Die Zeit vergeht und wie allen jung verliebten, sind auch Frankie und Jenny
glücklich. Sie kaufen Sachen, damit Frankie sich bei ihr einrichten kann
auch wenn er immer wieder betont, dass er nichts braucht.
„Also“, sagt Jennys Vater als sie einmal beim Abendessen
zusammensitzen. „Wann nimmst du dir ein Herz und nimmst sie zur
Braut.“ Als er sieht, wie geschockt er von seiner Tochter angesehen
wird, beginnt er zu lachen.
„Weiß ich noch nicht“, lacht Frankie.
„Wie lange seit ihr jetzt zusammen?“ fragt eine Frau, die mit am
Tisch sitzt.
„Seit fünf Wochen, Tante Ronda“, erwidert Jenny.
“Bitte. Lasst uns das Thema wechseln“, lächelt Frankie. Den
Rest des Essens reden sie über Politik und die Geschäfte der
Ehemänner.
44
Die Worte, die er von Ed gehört hatte, hallen Dan wie ein Echo im Kopf
nach. Kann das wirklich sein? Womit hat es Dan zu tun? Er will nicht in
irgendeine Sache hineingeraten, die er nicht steuern kann. Es ist frisch und
alles deutet darauf hin, das es bald regnen wird. Dan macht einen Spaziergang
durch die Natur; Seit er in Deadwood ist hat er es sich zur Gewohnheit
gemacht, hin und wieder lange Wanderungen zu unternehmen. Als er wieder in der
Stadt ist hört er, Leute aufgeregt durcheinander reden. Dan rennt die
Hauptstraße entlang in die Richtung, aus der die Stimmen kommen und
bleibt abrupt stehen. Die Männer, die sich zusammengefunden haben sind
gerade dabei, den Leichnam von Ed zu bergen. Man hatte ihm mit einem Strick
erhängt, der an einer Straßenbeleuchtung befestigt gewesen ist. Dan
drängt sich nach vorne und hilft mit, Ed auf den Boden zu legen.
„Was ist passiert?“ fragt er und bemüht sich darum, die
Fassung zu bewahren.
„Sie wissen, was passiert ist“, sagt ein Mann, der unter den
Schaulustigen steht. Dan sieht ihn an. „Sie wissen es.“
„Das kommt davon, wenn man sich mit dem Teufel einlässt“,
sagt jemand anderes. Dan weiß nicht, was er denken soll. Er entfernt
sich von den anderen und läuft in Richtung Saloon. Vor dem Eingang bleibt
er stehen und geht dann in Richtung Fluss, nur um dort ebenfalls auf halbem
Wege stehen zu bleiben. Ja. Er weiß, was passiert ist. Er weiß,
wer Ed umgebracht hat. Und er weiß auch, dass es allgemein bekannt ist,
dass die Leute, die für Ernest arbeiten, aus Postkutschenräuber
bestehen und eine Stadt wie Deadwood der perfekte Ort ist, an dem ein Outlaw
untertauchen kann.
45
Der Cowboy, der vor drei Tagen in die Stadt geritten kam, wollte sich nur ein
paar Drinks gönnen und weiterziehen. Doch dann lernte er an jenem Abend
Ernest kennen. Er unterbreitete ihm den Vorschlag, für ihm zu arbeiten,
da er nicht wisse, wohin und er ein junger Mann ohne eine besondere
Perspektive sei. Es handelt sich um Clancy Maine. Einen Mann, der nur zu gerne
bereit ist, sich Ernest und seinen Männern anzuschließen, wenn es
sich am Ende für ihn lohnen würde. Ernest willigte ein und
erzählte ihm von dem Gold.
„Ich wollte eigentlich heute weg sein“, sagt Clancy als Ernest ihn
fragt, wohin er wolle
„Woher kommst du überhaupt?“ fragt Ernest.
„Aus Kansas“, erwidert der junge Mann, der bereits beim zweiten
Whiskey sitzt. Am nächsten Tag stellt ihm Ernest seine Freunde vor und
Walter fühlt sich sofort heimisch unter den Männern. Er hat nicht
das Gefühl, im Unrecht zu sein. Vielmehr sieht er es als sein Recht, sich
zu nehmen, was ihn seiner Meinung nach zusteht.
Wie sich herausstellt, ist die Entscheidung, den jungen Clancy Maine
einzuweihen, richtig gewesen. Er kennt sich sehr gut mit der geographischen
Lage der Gegend aus und weiß, wo die Wahrscheinlichkeit, etwas zu
finden, am größten ist. Und so sind die Männer vorbereitet,
als ein paar Wochen später ein kleiner Trupp in die Stadt kommt um die
Untersuchungen vorzunehmen die entscheiden sollen, ob es sich lohnt, eine
Flächenweite Rodung vorzunehmen.
Sie beginnen am Fluss und dringen dann immer weiter in die Black Hills vor. Es
ist klar, dass diese Operation nicht unbemerkt bleibt. Drei Tage später
treffen sich ein paar Männer im Saloon und besprechen, wie man am besten
vorgehen soll.
46
„Wir schnappen uns unsere Waffen und jagen sie aus der Stadt!“
ruft jemand und zieht seinen Revolver.
„Taylor, lass doch den Unsinn“, ruft jemand anderes. „Worauf
es jetzt ankommt, ist vor allen dingen die Nerven zu behalten.“
„Was schlägst du denn vor?“ ruft Taylor zurück.
„Damit kommst du nicht weit“, der Mann zeigt auf den Revolver, den
Taylor immer noch in der Hand hält. Taylor steckt ihn weg und sieht zu
den anderen.
„Ihr wisst, dass ich Freundschaft mit den Indianern geschlossen habe und
das schon sehr lange. Ich weiß, einigen passt es nicht, aber das ist mir
gleich. Von ihnen lernte ich auch, friedlich zu handeln und wenn einer von
euch einen besseren Vorschlag hat, soll er es sagen“, sagt Taylor.
„Was ist mit Ihnen, Dan?“ fragt ein weiterer Mann. Die anderen
sehen zu Dan hinüber.
„Ich kenne solche Leute. Mit ihnen kann man nicht reden und ich bin auch
für einen friedlichen Weg. Es hilft nichts, den Kopf zu verlieren, aber
ich bin nicht hier, um euch allen eine Moralpredigt zu halten. Der Mann hat
recht. Manchmal muss man etwas tun und wenn es nicht anders geht, dann eben
mit Mitteln, denen ich mich normalerweise nicht bediene“, sagt Dan.
„Ach was“, sagt der Mann. „Sie haben bis jetzt kein Wort
gesagt und jetzt sowas. Der Mann aus Washington will kämpfen?“
„Ich bin kein Cowboy. Ich bin auch kein Revolvermann, Mister. Und
eigentlich wollte ich mir einen Gelegenheitsarbeit suchen, aber ich bin ein
Mensch und ein Bürger dieses Landes. Und wenn einem anderen Menschen
Unrechte widerfährt, muss ich handeln“, erwidert Dan.
„Sind Sie dabei?“ fragt ein anderer Mann.
„Ja. Was hier passiert, halte ich für falsch. Vielleicht ist es
auch etwas übereilt, zu den Waffen zu greifen, aber ich denke auch, das
man mit guten Worten und Gottes Hilfe allein, hier nicht weiter kommt“,
antwortet Dan. Dann verlässt er den Saloon und geht wieder an seine
Schreibmaschine.
47
Die Bedeutung des Namens „Neacail“ lautet „siegreiches
Volk“. Der Häuptling der Cheyenne bittet den Mann, der seinem Volk
schon oft geholfen hatte, in sein Tipi. Er und Taylor verständigen sich
noch hauptsächlich mit Gesten, doch der alte Stammesführer
weiß, worum es geht.
„Gut“, beendet Taylor das Gespräch und tritt mit Neacail ins
Freie. Draußen rennt ein Kind auf ihm zu und Taylor nimmt es in den Arm.
Er lächelt es an und setzt es nach einer Weile wieder ab.
„Bleibt stark“, sagt Taylor und ballt die Hand zur Faust. Er
hält sie sich vor die Brust. Neacail erwidert diese Geste und schaut
Taylor nach, als er in Richtung Steppe davon galoppiert.
An diesen regnerischen Tag befinden sich Taylor mit Dan im Restaurant. Sie
sitzen gerade beim Abendessen zusammen und reden über dies und jenes, als
Taylor auf Ernest und seine Männer zu sprechen kommt.
„Hier sind Leute. Sie sind im Hotel untergebracht. Die Männer hier
sagen, sie wären mit einem Auftrag hier“, sagt Taylor.
„Mit was für einen Auftrag?“ fragt Dan und wischt sich den
Mund ab.
„Keine Ahnung. Aber sie gehen immer in Richtung Fluss. Die Männer
sagen, sie wollen irgendwas herausfinden. Sagen Sie mal, wieso sind Sie
eigentlich so engagiert? Geht es um Ihr Buch?“ sagt Taylor. Dan starrt
ihn an.
„Das ist eine absurde Frage. Ich würde so etwas nie machen“,
sagt er.
„In Ordnung. Ich habe …“
„Sie entschuldigen sich bei mir. Bitte“, unterbricht ihn Dan.
„Es tut mir Leid“, sagt Taylor.
„Schon gut“, erwidert Dan.
„Ich habe heute mit einem befreundeten Häuptling der Cayenne
gesprochen“, sagt Taylor.
„Wofür?“ fragt Dan.
„Ich bat um Unterstützung. Mein Freund sagte mir, wir könnten
jederzeit mit ihnen rechnen“, sagt Taylor.
„Was haben Sie vor? Es muss doch einen Plan geben“, sagt Dan.
„Wenn ich einen habe, lasse ich es Sie wissen“, nach dem Essen
lädt Taylor ihn zu sich nach hause ein und sie öffnen eine
Flasche Whiskey. Dan, der sich in der Gesellschaft dieser Männer wohl
fühlt, greift zum ersten mal nach Jahren, wieder zum Alkohol.
Mitten in den ganzen Gewirre, denkt Dan an Jean. Er versprach,
zurückzukommen. Er sagte, er wolle mit ihr sein Leben verbringen, sobald
er wieder in Washington sei. Dan hat es immer für in Klischee gehalten,
doch jetzt weiß er selber nicht, wo er hingehört. Er sitzt im Zelt,
dass früher einmal Ed gehörte, und starrt auf die Schreibmaschine.
Er spannt neues Papier ein, von dem er nur noch ein paar Blätter hat, und
hält inne. Er will etwas tippen, zieht seine Hände aber wieder
zurück, nur um ein paar Augenblicke später erneut anzusetzen. Dann
gibt er auf und verlässt das Zelt.
Dan fällt es schwer daran zu denken, was Jean wohl jetzt gerade wohl
macht. Er denkt auch an Lindsey. Dan sieht sie noch immer durch die Stadt
wandeln. Es ist richtig gewesen, sie hier weg zu holen. Aber er vermisst sie.
Er vermisst sie beide und wünscht sich, sie eines Tages wiederzusehen.
48
Die IOFNA, die „Independence organization for native Americans“,
haben sich im Wohnzimmer von Scott Tanner gegründet und treffen sich nun
regelmäßig in einem ehemaligen Hotel, dass vor ein paar Jahren
schließen musste. Norman Creek, ein junger Mann mit Cherokee Vorfahren,
hatte gemeinsam mit Scott die Organisation gegründet und wäre
bereit, für sie sein Leben zu opfern. Den Begriff
„Organisation“ hat Scott gewählt, obwohl sie viel mehr eine
Gruppierung sind, die sich notfalls auch mit Gewalt Gehör verschaffen.
„Das ist Krieg!“ sagt Mike, der gerade aus den Gefängnis
entlassen wurde. „Da draußen, ja? Da tobt ein Kampf um das Land,
welches den Ahnen dieses Landes gehört!“
„Wir werden niemanden töten oder entführen oder sonst was,
Diesmal nicht“, zischt Scott.
„Also soll das so weitergehen?“ fragt Mike.
„Moment mal“, sagt Norman. „Ich gebe Mike recht, wir
müssen etwas tun. Aber nicht so. Wir müssen dorthin, wo der wahre
Krieg ist. Bis jetzt haben wir immer nur auf eine Art gehandelt. Versteht mich
nicht falsch, ich würde den Vorschlag von Mike annehmen, aber zu welchem
Preis? Terry sitzt hinter Gitter. Vor zwei Jahren haben wir Walt verloren
… Das ist Krieg. Und in einem Krieg muss man kämpfen. Aber lasst
uns auf Scott hören.“ Mike setzt sich wieder auf den Stuhl, von dem
er eben aufgesprungen ist.
„Ich schätze dich sehr, Mike. Ohne dich wäre das ganze hier
nicht möglich, aber diesmal muss es einen anderen Weg geben“, sagt
Scott.
„Grundgütiger“, sagt Mike leise.
„Vor Ort können wir viel mehr erreichen“, sagt Charly. Er ist
der Bruder von Scott und hat sich den Namen für die Gruppe
überlegt.
„Von mir aus“, willigt Mike schließlich ein. Insgesamt
umfasst die Organisation zwanzig Mann. In den vergangenen neun Jahren waren
sie an mehreren teils kleineren und teils größeren Vergehen
beteiligt. Den Höhepunkt der Gewalt erreichte die Gruppe, als sie einen
Abgeordneten ermordeten, der öffentlich das Vorgehen General Custers
verteidigte. Walter Bloom erklärte dem Gericht und der versammelten
Presse, dass dies nur der Anfang sei. Ein halbes Jahr später
entführten sie einen reichen und sehr geschätzten Geschäftsmann
und forderten die Rückgabe, eines Indianergebietes. Heute sind sie sowas
wie die regulators von Washington.
Der Barmann stellt Charly einen Whiskey hin. Scott trinkt gerade den letzten
Schluck seines Biers aus und bestellt ein neues. Zu dieser Zeit ist immer
recht viel los hier und die Männer der „Independence organization
for native Americans“ gehen jeden Freitag in diese Bar. Gerade als Scott
mit seinen Bruder die Gaststätte verlassen will, kommen Norman und
Donovan zur Tür herein.
„Na, wo wollt ihr den hin?“ fragt Donovan.
„Wo sind die anderen?“ fragt Charly.
„Mike ist nach Hause gegangen und fragt sich wahrscheinlich, ob wir
jetzt den Kopf in den Sand stecken. Du kennst ihn ja, und Lawrence wollte
durcharbeiten“, sagt Donovan.
„Was? Wieso denn das?“ fragt Scott. Donovan zuckt die Achseln.
„Wahrscheinlich hat er wieder irgendwelchen Ärger von dem er uns
nichts erzählen will“, sagt Norman. Die Männer verlassen die
Bar und frequentieren eine Kneipe, in der ein Cousin von Norman arbeitet. Sie
bleiben bis kurz nach Mitternacht und kehren dann in ihre Wohnungen
zurück.
Bis auf Lawrence leben sie alle alleine. Norman hat immer als Junggeselle
gelebt. Mike war einmal verheiratet, hat sich dann aber für die Jungs und
die Sache entschieden. Scott hatte eine Freundin, die sogar ein paar Jahre
eine wichtige Funktion bei ihnen übernommen hatte. Doch sie kam bei der
Festnahme eines Gruppenmitgliedes auf tragische Weise ums Leben. Charly war
zweimal verheiratet und hatte eine Affäre irgendwo in New York, bevor
seine erste Frau dahinter kam. Seine zweite, hat es nicht mehr ausgehalten,
was er tut und nach zweieinhalb Jahren, ließ sie sich von ihm
scheiden. Seit dieser Zeit teilt sich Charly mit seinen Bruder Scott eine
kleine Zweiraumwohnung, und hier planen sie auch jede Aktion der IOFNA.
49
1875 kamen Menschen in die Black Hills und errichteten eine Stadt, die
für viele von ihnen zu einen Ort der Hoffnung werden sollte. 1870 schloss
die U:S Regierung mit den Cheyenne, den Lakota, den Dakota und den Arapaho
Indianern einen Vertrag ab. Im selben Jahr schlugen sie die siebte Kavallerie
unter dem Kommando von General Georg Armstrong Custer in einer Schlacht, die
als die „Schlacht am Little Bighorn“ in die Geschichte eingehen
sollte. Und irgendwo schürft ein Goldschürfer nach den begehrten
Steinen, um die so viel Blut vergoßen wird, während irgendwo, in
irgendeinem Reservat ein Indianer in den Himmel sieht und sich fragt, wie es
soweit kommen konnte. Vielleicht wäre es ein Trost für all die
Männer und Frauen wenn sie wüssten, dass man die Spuren unserer
Existenz niemals auslöschen kann. Denn solange man den Adler am Himmel
sieht und noch immer irgendwo ein Paar Bisonherden die Erde bevölkern,
solange werden auch die Urahnen weiterleben und jeden Menschen daran erinnern,
das sie, die wahren Herrscher des Westens sind.
1879. Dan lebt mittlerweile bei Taylor und die große, geheime Mission
hat inzwischen größere Dimensionen angenommen, als am Anfang
erwartet. Während in Washington D.C. heftig darüber diskutiert wird,
wie man am besten vorgeht, sind die Männer in Deadwood dabei, ganz andere
Pläne zu schmieden. Unter ihnen sind auch ein paar Frauen, die es sich
nicht nehmen ließen, den Männern beizustehen.
„Lora, du kannst doch gar nicht mit so einem Revolver umgehen“,
sagt Frank, der insgeheim ein bisschen verliebt ist, in die hübsche,
zierliche Frau.
„Irgendeiner wird bestimmt in der Lage sein, es mir beizubringen“,
erwidert sie.
„Was ist eigentlich ihre Aufgabe bei dem ganzen hier, Dan?“ fragt
Jefferson Hawley.
„Ich versuche nur, mir einen Überblick zu verschaffen. Aber
vielleicht sollte ich den Umgang mit der Waffe ebenfalls beherrschen“,
sagt Dan. Doris, die Schwester eines Ranchers kommt auf die Gruppe zu. Sie ist
schlammverschmiert und ihre Haare hängen ihr im Gesicht.
„Was? Eine Versammlung ohne mich?“ fragt sie.
„Du weißt, worum es geht, Doris. Du wolltest nicht“, sagt
Hank.
„Darf man seine Meinung nicht ändern?“ fragt Doris.
„In Ordnung. Mal sehen, was wir für dich tun können“,
Terence wird sofort mit einer Kugel bestraft, die dicht an seinem Kopf vorbei
zischt.
„Ich mag ja nicht gerade die klügste von euch sein, aber ich
weiß, wie man mit dem Ding hier umgeht. Und jeder hier kann
bestätigen, dass ich mehr Zeit mit einer Waffe verbracht habe als mit
irgendetwas anderem“, sagt Doris.
„Das liegt nur daran, dass du auf manche Männer abschreckend
wirkst“, sagt Hancock, der die Frau nicht besonders leiden kann. Doris
funkelt ihn wütend an.
„Ma’am?“ sagt Dan, um die Situation zu entschärfen.
„Sagen Sie Doris“, sagt sie.
„Mister?“ der Mann sieht zu ihm rüber.
„Vielleicht bin ich auch gerade der schlauste aber wenn wir Krieg
gegeneinander führen, hilft uns das nicht. Und nur damit kein falscher
Eindruck entsteht, ich bin gerne bereit zu lernen, wie man schießt, wenn
es der Sache hilft“, sagt er. Hancock reicht ihr die Hand. Doris
zögert, steckt dann aber ihre Waffe weg und ergreift sie.
„Eine Woche“, sagt Frank. „Dann habt ihr euch wieder in die
Haare gekriegt.“ Die anderen Männer brechen in Gelächter aus.
50
Die Expedition hat in Washington großes Interesse hervorgerufen, und
nicht wenige sind gewillt, Geld für eine Rodung bereitzustellen.
Inzwischen ist dieser Vorschlag auch beim Kongress angekommen und hat, hinter
verschlossenen Türen, eine heftige Debatte ausgelöst Doch nicht alle
können dies mit ihrem Gewissen vereinbaren und so sickert etwas davon an
die Öffentlichkeit. Die IOFNA um Scott und Norman erklärten,
ebenfalls über die Zeitung, dies nicht hinnehmen zu wollen und riefen den
Krieg gegen die Verantwortlichen aus, sollten sie an ihrem Vorhaben
festhalten.
„Wir, die ‚Independence organization of native Americans’,
dulden es nicht, dass freie Menschen die hier leben ausgebeutet und um ihrer
Heimat beraubt werden! Deshalb fordern wir euch auf: Stoppt die Gewalt.
Andernfalls werdet ihr erleben was es bedeutet, sich mit der IOFNA
einzulassen“, lautet die Botschaft. Längst schon hat sich die Sache
zum gesellschaftlichem Dynamit entwickelt und sorgt nicht mehr nur in
Washington für aufsehen. Es gab Menschen, die die IOFNA für
radikale Spinner hielten oder einfach nur für eine Verbrecherbande, die
seit Jahren das Land tyrannisieren. Mittlerweile ändert sich jedoch bei
einigen die Meinung über die selbsternannte Organisation.
Der Mann, der am Tisch an der Wand sitzt und ein Bier nach dem anderen trinkt,
mustert Norman, Scott, Lawrence, Donovan und die ganzen anderen Männer am
Tresen. Donovan sieht zu Norman.
„Was will der Kerl?“ fragt er. Norman zuckt die Achseln und sieht
zu dem Mann hinüber.
„Was ist?“
„Hallo, Norman“, sagt der Mann.
„Kennen wir uns? fragt Norman und hält inne.
„Ich glaube ja“, sagt der Mann. Norman geht auf ihn zu.
„Und?“
„Du bist nicht … Terry?“, sagt er.
„Doch“, entgegnet er.
„Was machst du hier? Ich dachte, du bist im Gefängnis!“
„Nicht so laut“, zischt Terry.
„Du verdammter Hurensohn“, lächelt Norman. Die anderen
Männer kommen ebenfalls rüber.
„Terry“, sagt Lawrence.
„Ich bleibe nicht lange. Ich wollte euch nur wiedersehen, bevor ich
verschwinde“, sagt er.
„Du hattest noch drei Jahre“, sagt Scott.
„Versuch du es, wenn sie dich erwischen. Ich wäre selbst dann
geflohen, wenn ich nur noch ein halbes gehabt hätte“, sagt er und
erhebt sich.
„Ruh dich erst mal aus“, sagt Scott.
„Nein“, entgegnet Terry und verlässt die Bar. „Du
hast mir immer vorgeworfen, zu schwach für diese Sache zu sein. Ich sagte
dir, das dem nicht so ist. Aber du hattest recht. Es ist etwas anderes, Gewalt
auszuüben als sie selber zu erleben. Unter anderen Umständen
wäre ich gerne länger geblieben“, sagt Terry und tritt auf die
Straße hinaus.
Im U.S. Kongress ist man sich schnell einig, dass man dieses Vorhaben
verfolgen wird und sich nicht durch Einschüchterungen in die Knie zwingen
lassen will.
„Es gibt einige, die durchaus der Ansicht sind, dass es falsch sei. Aber
es wäre verwerflich, sich den leeren Drohungen irgendwelcher
Weltverbesserer zu beugen!“ Andere unternehmen einen letzten Versuch, an
die Vernunft ihrer Kollegen zu appellieren.
„Wollen wir es wirklich zulassen, dass die Lebensexistenz der
indianischen Bevölkerung zerstört wird? Können Sie damit
leben, dass man mit dem Finger auf uns zeigen wird und uns für immer in
einem dunklen Kapitel der Geschichte verbannen wird? Wenn wir das jetzt tun,
wird alles, wofür wir stehen und was wir uns aufgebaut haben, Geschichte
sein.“
Im großen und ganzem war klar, dass diese Entscheidung von der U.S.
Regierung autorisiert werden würde. Und so kam es, dass man am folgenden
Tag, die Maßnahmen, die man bereits ein Jahr zuvor beschlossen hatte,
erweiterte.
51
Einer der prägenden Szenen, die in der nächsten Woche zum Symbol des
Protestes der „Independence organization for native Americans“
wird, ist, als ein Mann namens Kenny Reeves einen Politiker auf offener
Straße ins Gesicht spuckt. Er hat sich der IOFNA angeschlossen, nachdem
der Beschluss des U.S. Kongresses bekannt wurde. Derweil denkt man in der
Organisation bereits darüber nach, die gesamte Stadt lahmzulegen. Dieser
Vorschlag musste natürlich von Mike kommen.
„Jetzt mal ganz langsam.“, sagt Scott.
„Wir müssen handeln!“ ruft Mike. „Scott, willst du den
gar nichts tun?“
„Du weißt genau so gut wie ich, dass ich Schulter an Schulter mit
dir da raus gehen würde. Ich war mir nie für eine Sache zu schade
und ich war es, der die Entführung von dem Kerl vorgeschlagen hat. Aber
wir dürfen nicht einfach kopflos da draußen in blinder Wut
handeln“, erwidert Scott.
„Du hast recht. Auch wenn ich es nur ungern zugebe“, sagt Mike
nach reiflicher Überlegung.
„Sie wollen das Gebiet um South Dakota roden“, sagt Lawrence. Die
Männer sehen ihn an.
„Ja“, sagt Mike.
„Du sagtest, das wir dorthin, müssten wo der Krieg ist, Norman.
Dann lasst uns dorthin. Lasst uns nach South Dakota reiten und sehen, was
passiert. Da haben wir zehnmal mehr Möglichkeiten zu handeln, als in
diesem Zimmer hier“ sagt Lawrence.
„Ist das für dich in Ordnung, Mike?“ fragt Scott seinen
Freund.
„Verdammt, ja“, erwidert dieser und zwei Tage später machen
sie sich auf den Weg in die Black Hills.
52
Dan rennt, noch halb verschlafen, aus dem Haus. Dicht gefolgt von Taylor, der
einen Kaffeebecher in der Hanf hält. Die beiden sehen zu den zahlreichen
Männern, die mit ihren Pferden durch die Stadt reiten und auf sie
zukommen.
„Wer ist das?“ fragt Taylor.
„Ich weiß es nicht“, antwortet Dan und winkt den
Männern zu. Einer der Männer zeigt auf Dan und sieht zu seinen
Leuten.
„Hallo“, sagt er als er vor ihm zum stehen kommt.
„Hallo. Darf man erfahren, was ihr hier macht?“ fragt Dan.
„Wir haben gehört, dass die Regierung hier vorhat, alles
niederzumachen“, sagt der Mann. Dan, der im Schlafanzug vor den
Männern steht, sieht zu den übrigen Reitern.
„Ja. Das ist richtig. Das hab ich auch gehört“, sagt er. Der
Mann nickt ihm zu und reitet an ihnen vorbei.
Nach einer Weile finden sie ein Hotel und zügeln ihre Pferde. Unter
anderen Bedingungen hätten sie ihren Aufenthalt in der Stadt
genießen können. Sie mögen diese Umgebung sehr, doch die
gegebenen Umstände zwingen sie dazu, sich nicht allzu sehr auf das zu
freuen, was sie erwartet. Erschöpft mieten sie sich ihre Zimmer und erst
am späten Nachmittag schwingen sie sich auf ihre Tiere um sich ein Bild
von der Stadt zu machen.
53
Die Männer sitzen im Saloon und beäugen die Neuankömmlinge
neugierig. Einer von ihnen ergreift schließlich das Wort.
„Mein Name ist Scott Tanner. Ich habe zusammen mit Norman Creek, Charly,
Lawrence, Donovan und all den anderen Männern, die ihr hier seht, eine
Organisation. Wir sind die ‚Independence organization for native
Americans‘. Wem das nicht passt, der kann gehen. Alle anderen sollten
besser zuhören“, Scott sieht in die Runde und wartet. Als niemand
etwas sagt, fährt er fort: „Uns ist ebenfalls zu Ohren gekommen,
was die Regierung vorhat und wie ich bereits beim Eintreffen hier sagte,
werden wir alles tun, um es zu verhindern. Dies ist keine leichte Aufgabe, das
hier ist Krieg. Und unsere Gegner sind nicht irgendwelche ungeübten
Soldaten … Es handelt sich um die Regierung in Washington!“ Im
Saloon herrscht totenstille.
„Schöne Rede, aber jetzt wird es Zeit, dass wir kämpfen.
Irgendwann werden uns Männer gegenüberstehen, die bereit sein
werden, sich zu verteidigen wenn’s nötig ist“, sagt jemand
nach einer Weile aus der Menge.
„Was genau wollt ihr Jungs eigentlich hier?“ fragt Taylor.
„Wie wollt ihr uns helfen?“
„Wenn irgendwo ein Kampf stattfindet, nutzt es nichts, wenn man nicht am
Ort des Geschehens ist. Dann erreicht man gar nichts. Wir versuchen seit
Jahren, etwas zu ändern, aber unsere feinen Freunde da oben haben
anscheinend etwas besseres zu tun, als im Sinne aller Menschen zu
handeln“, sagt Scott. Taylor legt die Hand auf den Griff seines
Revolvers.
„Dann haben wir wohl dasselbe Ziel“, sagt er.
Nach dieser Ansprache sagt Taylor, dass sie ihn entschuldigen müssten, da
er zu seinen Cheyenne Freunden wolle, um mit ihnen zu sprechen. Dan geht zu
Scott an die Theke.
“Ich bin Dan Langley. Das waren harte Worte, aber ich bin auch
überzeugt davon, dass es sehr schwer werden wird“, sagt er.
„Leben Sie hier, Mister Langley?“ fragt Scott.
„Nein. Ich bin zum schreiben hier“, sagt Dan.
„Zum schreiben?“
„Ja. Ich schreibe eine Geschichte. Äh, Entschuldigung. Kann ich
bitte einen Kaffe haben?“ sagt Dan. Scott trinkt sein Bier leer.
„Was genau wollt ihr hier machen?“ fragt Dan. Scott holt tief
Luft.
„Wir sind nicht gerade zimperlich wenn es darum geht, für etwas
einzustehen, Mister Langley“, sagt er.
„Ich habe viel von euch gehört. Und das meiste was ich gehört
habe, war nicht gut. Wollt ihr hier einen Krieg entfachen?“ der Barmann
bringt Dan seinen Kaffee.
„Wir sind schon mitten drin“, sagt Scott. „Oder nicht?
“ Auch wenn es Dan nicht geheuer vorkommt, sagt ihn dennoch eine innere
Stimme, dass dieser Mann recht hat.
„Was werden wir tun?“ fragt Dan.
„Abwarten. Wir warten, bis sie kommen“, antwortet Scott. Und
während dieser Zeit läuft alles in gewohnten Bahnen. Die Leute gehen
raus, trinken im Saloon und reden auf der Straße miteinander. Aber man
kann spüren, das etwas in der Luft liegt.
An diesem Tag sind Norman, Scott und Kenny, der Neue im Bunde, ausgeritten, um
sich die Gegend anzusehen. Sie wollen auf alles vorbereitet sein und haben
sich für einen mehrtägigen Ausritt entschieden. Sie sind bereits den
ganzen Tag unterwegs und machen jetzt, wie echte Cowboys, am Lagerfeuer eine
Rast. Mit dem Proviant, das sie aus Deadwood mitgenommen haben, kommen sie gut
über die Runden. Dennoch ermahnt Scott seine beiden Gefährten,
sparsam mit dem umzugehen, was sie haben.
„Bist du der einzige, mit Indianischen Vorfahren aus dieser Gruppe?
“ fragt Kenny und traut sich dabei nicht, Norman anzusehen.
„Ja“, erwidert dieser.
„Aber geboren ist er in Washington“, sagt Scott.
„Wie das?“ Kenny blickt auf.
„Es wurde erzählt, dass sich mein Urgroßvater in eine
weiße Frau verliebt hat. Meine Eltern waren schon halbe
Cherokees“, sagt Norman.
„Wenn man solange unter weißen lebt und ihre Kultur so gut kennt,
dann wird man doch auch … vom Gefühl her mehr wie einer“,
sagt Kenny.
„Nein“, erwidert Norman. „Es stimmt, ich hätte allen
Grund dazu. Ich lebe unter weißen. Ich bin in einer Stadt aufgewachsen.
Ich heißer wie einer. Aber ich bin es nicht. Als Scott, den ich schon
kenne, seit wir Kinder sind, mir irgendwann sagte, er wolle etwas gegen den
Landraub unternehmen, und auch schon wisse, wie, fiel es mir nicht schwer, ihm
meine Hilfe anzubieten.“
„Das glaube ich gerne“, sagt Kenny.
„Sie nennen uns ‚radikal‘. Sie sagen, wir würden selbst
vor Mord nicht zurückschrecken. Aber wer sind den hier die Mörder?
Der einzige Unterschied ist, dass die sich hinter der Verfassung
verstecken“, sagt Scott, der manchmal bei diesem Thema emotionaler wird
als Norman.
„Lasst uns essen und weiterziehen. Es ist ein viel zu schöner Tag
für Gespräche dieser Art, die wir immer noch führen
können, wenn wir zurück sind“, wechselt Norman das Thema.
54
„Würdest du, das Leben eines Freundes opfern, um das eines
Kameraden zu retten?“ Billings sieht seinen Freund an.
„Was soll den die Frage?“ fragt er.
„Würdest du?“ fragt Billings. Danny Carson sieht ihn an.
„Halten Kameraden nicht zusammen?“
„Das ist nich deine Meinung. Ich frage dich und nicht den
Soldaten“, sagt Danny. In diesen Moment kommt Bryan Hammersmith. Der
Oberleutnant sieht die beiden an.
„Alle Mann zur Hauptkaserne“, sagt er.
„Wir besprechen gerade, die wichtigsten Fragen des Lebens“, sagt
Billings.
„In fünf Minuten hat sich die gesamte Einheit in der Kaserne
eingefunden“, mit diesen Worten tritt er weg.
„Wir reden später weiter“, sagt Billings. In der Kaserne
erklärt der Hauptmann, dass sie in zwei Wochen losmarschieren
würden.
„Hat jemand ein Problem damit?“ fragt er.
„Nein, Sir!“ lautet die Antwort.
„Gut. Weggetreten!“
Das Fort im südwestlichsten Teil von Montana ist eines der neunzehn
wichtigsten Forts, das zwischen 1861 und 1890 im Westen der USA errichtet
wurde. Zwischen den Jahren 1865 und 1878 verlor die indianische
Bevölkerung einen Großteil ihres Landes an die Vereinigten Staaten
von Amerika. Dieses Kapitel der amerikanischen Geschichte sollte eines der
düstersten werden, die dieses Land jemals erlebt hat. Dennoch sind nicht
alle der Meinung, dass es falsch sei, was die Politik macht. Scott und seine
Leute mögen in Deadwood Gleichgesinnte gefunden haben, aber die Mehrheit
ist nicht bereit, sich ihrer Regierung entgegenzustellen.
55
Norman schreckt hoch. Er kriecht zu Scott und rüttelt ihn wach. Dieser
sieht ihm verschlafen an.
„Was ist los?“ fragt er. Norman sieht sich panisch um. „He,
Norman! Komm schon, ganz ruhig“, Scott packt ihm an den Schultern.
„Was ist?“ fragt Kenny, der sich in seinem Schlafsachen eingeigelt
hat. Norman sieht zu Kenny, dann wieder zu Scott.
„Alles gut. Wir sind hier“, sagt Scott.
„Mir geht es gut“, sagt Norman. „Es ist alles in
Ordnung.“
„Sicher?“ Scott sieht ihn an.
„Ja“, sagt Norman und legt sich wieder schlafen.
Norman träumt von Dingen, die einst geschehen sind. Dinge, die man nicht
aussprechen oder gar wieder gutmachen kann. Er hat mit niemanden, ausser mit
Scott, darüber gesprochen. Er tat es aus Rücksicht vor seinen
Freunden, er wollte ihnen nicht auf die Nerven fallen.
Nach einer beinahe schlaflosen Nacht, machen sie sich wieder auf den
Weg.
Unterwegs will Kenny wissen, woran Norman gedacht und was ihn verstört
hat.
„Das Leben“, lächelt Norman.
„Solange du damit zurecht kommst …“ sagt Kenny.
„Ich sorge dafür, dass ich beschäftigt bin. Also ja, ich komme
damit zurecht“, erwidert Norman und setzt sich an die Spitze.
„Frag ihn nicht mehr danach“, sagt Scott.
„Tut mir leid“, entgegnet Kenny, Er fühlt sich schlecht doch
Scott sagt ihm, dass er sich keine Sorgen zu machen braucht.
„Wenn er es dir erzählen will, dann tut er es schon. Vielleicht
will er dich einfach nur nicht belasten“, sagt er.
Da keiner weiß, wann die Männer der Regierung kommen werden, bleibt
Dan, Taylor, Donovan und all den anderen Leuten aus der Stadt nichts anderes
übrig, als zu warten. Dan sitzt oft an seiner Schreibmaschine, doch wenn
er es vor lauter Arbeit nicht mehr aushält, geht er in den Saloon, in dem
sich immer einer von Scotts Männern befindet. Diesmal trifft Dan auf
Doris, einen Mann namens Illies, Hank und einen weiteren von den Männern
der IOFNA.
„Ah. Hallo, Dan“, sagt Illies.
„Gibt es was neues? fragt Dan.
„Nein. Und bei Ihnen? Kommen Sie mit ihrem Buch voran?“ fragt der
Mann und spielt mit einer Patrone rum.
„Ja. Es läuft ganz gut“, sagt Dan.
„Meine Güte, Dan. Setzen Sie sich doch“, sagt Doris und Dan
zieht sich einen Stuhl heran. In diesen Moment steht Hank auf und nimmt ein
paar Whiskeygläser. Er fordert Dan auf, mit ihm mitzukommen und geht
hinaus. Hank positioniert die Gläser auf einer Veranda eines Hauses und
zieht seine Waffe. Er zerschießt zwei der fünf Gläser und
hält Dan den Revolver hin.
„Versuchen Sie mal“, Dan sieht ihn an und greift nach dem Colt.
Dann zielt er auf eines der Gläser und verfehlt es nur knapp.
„An dem Rückstoß muss man sich gewöhnen, was?“
sagt Hank.
„Ja“, Dan zielt erneut und lässt die Waffe dann wieder
sinken.
„Ganz ruhig“, sagt Hank. Dan atmet tief durch, zielt und trifft.
„He, habt ihr sie noch alle!?“ ruft jemand aus dem Haus. Hank
tritt einen Schritt vor, doch Dan hält ihn zurück.
„Nein“, sagt er
„Meinen Revolver. Keine Angst, ich werde niemanden
erschießen“, sagt Hank nach einer Weile und Dan übergibt ihm
seine Waffe.
„Tut mir leid“, sagt Dan in Richtung des Hauses und betritt
gemeinsam mit Hank wieder den Saloon.
Drinnen nimmt Hank sich einen Whiskey und setzt sich wieder an den Tisch.
„Was? Ich kenne den Besitzer gut. Stimmt’s?“ fragt Hank und
sieht zum Tresen.
„Ja. Er ist ein sehr guter Kunde“, erwidert er und Hank
lächelt.
Gegen Abend fängt der Saloon an, sich mit Menschen zu füllen. Es
ist deutlich zu spüren, dass bald etwas passieren wird. Doch die
Mehrheit kümmert es nicht, dass bald ein Großteil der Natur,
für immer dem Erdboden gleichgemacht werden soll.
56
Die Männer waren zu siebt. Sie sahen den jungen Mann mit seinem Freund
reden. Beide Männer führten ihre Pferde am Halfter und lachten
über etwas. Sie umzingelten die Jugendlichen und warfen ein brennendes
Streichholz auf einen der beiden. Dann hielten sie den anderen fest und
zwangen ihn, zuzusehen, wie sein Freund verbrannte. Der junge Mann hörte
die Schreie. Er roch den Geruch nach verbranntem Fleisch und wurde von den
sieben Männern mitgenommen. Sie sperrten ihm ein und quälten ihm auf
jede Art, in der Man einen Menschen quälen kann. Mehr als einmal verlor
der Junge das Bewusstsein. Sie nannten ihm einen Wilden und zwangen ihm dazu,
rohes Fleisch zu essen. Sie banden ihm mit einem Seil an, wie man einen Hund
anbindet. Und sie hätten ihn vermutlich auch dort sterben lassen,
hätte ein Farmer ihn nicht zufällig entdeckt und Hilfe geholt. Zu
diesem Zeitpunkt war der junge Mann mehr tot als lebendig.
„Es sind nicht die Qualen. Es ist nicht die Demütigung. Es sind die
Schreie von Nicky, die mich nachts wachhalten“, sagt Norman.
„Wie lange warst du dort. In der Hütte?“ fragt Kenny.
„Zwei Wochen. Sie nannten mich eine dreckige Rothaut und sagten, dass
dies die einzige Art sei, wie man uns behandeln müsse“, Norman
sieht zu Scott.
„Dann sind wir uns begegnet und ich erzählte ihm, was ich vorhatte.
Norman sagte, dass er dabei wäre. Irgendwann sind dann auch all die
anderen gekommen. Wir waren ein wilder Haufen, aber wussten, was wi
wollten“, sagt Scott.
„Angst und schrecken verbreiten“, sagt Kenny.
„Es gibt Menschen, die das so sehen“, erwidert Norman.
„Diese Menschen haben recht, aber ich bin trotzdem hier. Ich bin hier,
weil ich an euch glaube, Scott“, sagt Kenny. Scott sieht sich um.
„Das Gelände ist weit und man hat einen guten Überblick.
Dieser Typ, der aus der Stadt. Der hat doch Indianerfreunde. Vielleicht
können die besser Ausschau halten als wir“, sagt er.
„Jetzt wissen wir wenigstens, was uns hier erwartet“, sagt Kenny.
Die drei räumen alles zusammen und satteln ihre Pferde. Fünf Minuten
später reiten sie wieder den Weg zurück, den sie gekommen sind.
In diesen drei Tagen hatten sie Gelegenheit, die Gegend ein wenig
kennenzulernen und können sich ein Bild davon machen, was sie erwarten
wird. Scott überlegt, wie sie strategisch vorgehen werden und wie ein
Kampf gegen einen so übermächtigen Gegner aussehen soll.
57
Zwei Wochen später marschiert eine 125 Mann starke Einheit in die Black
Hills. Scott hatte recht. Es war keine einfache Aufgabe und es gab zahlreiche
Verluste. zu beklagen. Sie kämpften, bis zum Abend. Sie kämpften,
bis der Himmel schwarz und der Boden mit Blut getränkt war. Dan kam nicht
mehr dazu, seine Geschichte zu Ende zu schreiben. Scott verlor den
Großteil seiner Leute und machte sie zu jenen Männern, die zu
tausenden ihr Leben gelassen haben. Für ein Stück Land, um das schon
Jahrhunderte vor ihnen gekämpft wurde.
58
Als sie 1908 an jenem Ort zurückkehrt, an dem sie aufwuchs, gab es keine
Prärie mehr. Die Gebiete, in denen einst die Sioux, die Cheyenne, die
Apachen, die Blackfoot, die Creek, die Cherokee und all die anderen
großen Stämme des Westens beheimatet waren, hatte sich so drastisch
verkleinert, dass es schwerfällt zu glauben, dass sie einst die weiten
der Prärie beherrschten.
Lindsey ist nun wieder in Deadwood. Doch es ist ein anderes als das, dass sie
damals verlassen hatte. Sie ist Dan in seinen Beruf gefolgt, doch nach
fünfundzwanzig Jahren der Selbstzerstörung, der Drogen des
Alkoholkonsums und dem, was dieses Leben mit sich bringt, hat sie diese
Anstellung nicht lange halten können. Sie muss daran denken, dass Dan ihr
gesagt hatte, sie würde diese Stadt eines Tages vielleicht wiedersehen.
Und Dan hatte rech behalten. Lindsey hat ihm damals vergöttert. Hat ihm
dafür geliebt, dass er sie aus Deadwood geholt und ihr ein neues Leben
geschenkt hatte. Sie bleibt vor einem Restaurant stehen und sieht hinein.
„Sie machen einen Eindruck, als würden Sie das hier gerade zum
ersten mal sehen“, Lindsey dreht sich um und der Mann, der hinter ihr
aufgetaucht ist, lächelt sie an. Er ist ungefähr in ihrem Alter und
hat das freundlichste Lächeln, dass Lindsey jemals gesehen hatte.
„Ein bisschen ist das auch so. Ich bin hier seit Jahren nicht mehr
gewesen“, erwidert sie.
„Ich bin Jacob“, sagt er und reicht ihr die Hand. Lindsey ergreift
sie und stellt sich ebenfalls vor. Der junge Mann fragt sie, ob sie hungrig
sei.
„Ja. Sehr sogar.“
„Darf ich Sie einladen? Das Essen da ist köstlich“, sagt
Jacob und sie gehen hinein. Nach dem Essen gehen sie den ganzen Tag durch die
Stadt und reden. Linsey hatte ganz vergessen., wie schön es sein kann,
einfach mal über alles reden zu können und wie schön es ist,
wenn jemand zuhört. Und Jacob hört ihr zu. Er fragt nicht, er
urteilt nicht über sie. Er hört einfach zu.
Shotgun Jane
1
1794 kamen französische Einwanderer auf der Suche nach einem neuem Leben
in die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie waren nicht wohlhabend, dennoch
siedelten sie sich in dem zwei Jahre zuvor gegründete Kentucky an und
setzten damit den Grundstein für diese Geschichte.
2
1856. Die fünf Reiter, die über die Weiten des texanischen
Graslandes reiten, spüren, wie sich ihr ihr Herzschlag mit jeder Sekunde
beschleunigt. Sie spüren, wie sich ihnen die Nackenhaare sträuben
und sie spüren jeden Atemzug, als wäre es ihr letzter. Der Geruch
von Schießpulver liegt schwer in der Luft und sie vernehmen das
gleichmäßige Geräusch der heraneilenden Verfolger. Jeff reitet
an der Spitze. Sein Hut wirbelt an der Hutschnur herum, als versuche er sich
losreißen. Daneben reitet Bill. Er treibt die anderen an und sieht zu
Jim. Die Nachhut bilden Parker und Dexter. Parker sieht sich um und ruft
Dexter etwas zu. Doch der kann ihn nicht verstehen. Seit etwa einem halben Tag
jagen sie nun schon über jenes Land, für das Sam Houston in den
1830er Jahren den Unabhängigkeitskrieg führte.
An diesem Morgen hatten die fünf Brüder die Bank der Stadt um
mehrere hundert Dollar erleichtert und damit die Reihe von
Überfällen fortgesetzt, die seit Jahren das ganze Land in Atem
hält.
Am Abend machen sie das erste Mal seit vierundzwanzig Stunden eine Rast. Sie
steigen ab. Jim und Parker suchen Holz für ein Lagerfeuer, während
Bill, Jeff und Dexter sich auf die Suche nach etwas Essbarem machen. Und als
die Sonne gerade noch zu sehen ist sitzen sie am Lagerfeuer.
„Was war das heute Nachmittag, Jeff?“ fragt Parker.
„Was meinst du? Wir haben doch was wir wollten“, erwidert er.
„Du solltest ruhig bleiben und nicht sofort drauflos
schießen“, sagt Parker. Jeff schweigt.
„Lass ihn“, sagt Jim. „Du kennst ihn. Wenn er denkt, dass es
richtig ist, dann ist es auch so.“
„Das war es. Erfolgreich ist man erst dann, wenn man zupacken
kann“, sagt Jeff. Jim lacht und reicht seinem Bruder den Whiskey. Jeff
trinkt einen Schluck und gibt ihn wieder zurück. Danach sitzen sie
einfach nur da und lauschen in die Nacht hinein. Beim Schein des ersten
Sonnenstrahls reiten die fünf weiter.
3
Mary Jane Thompson sitzt am Esstisch und näht ein Kleid, das ihr eine
Dame vor zwei Tagen vorbeigebracht hatte. Sie ist zweiunddreißig Jahre
alt, brünett und hat dunkle Augen. Als sie vor siebzehn Jahren mit ihren
Eltern nach Texas kam, wusste sich nicht, wie sehr sich ihr Leben
verändern sollte. Mary wuchs als einziges Kind armer Bauern auf, die
nicht oft da waren, wenn sie sie brauchte. Das junge Mädchen begann sich
ihre eigene Welt zu erschaffen und bei einem ihrer Streifzüge durch die
Stadt erfuhr sie Geschichten von Cowboys und Banditen. Mary stellte sich vor,
selbst ein Outlaw zu sein und träumte von den Weiten der Prärie. Bis
heute vergeht kein Tag, an dem sie nicht an dieses Verlangen denkt, das sie
seit ihrer Kindheit umtreibt.
Mary sieht aus dem Fenster und stellt fest, dass es bereits Abend ist. Sie
hatte sich wieder in ihre Arbeit vertieft und, wie so oft, die Zeit vergessen.
Als Mary das Nähzeug weglegt und hoch auf ihr Zimmer geht, entzündet
sie die Petroleumlampe auf ihrem Nachttisch. Sie nimmt die Zeitungen heraus
und ließt sich die Artikel durch. Es sind Berichte über diese
Überfälle, von denen seit ein paar Jahren alle reden. Mary
lächelt und legt die Zeitungen wieder beiseite. Dann löscht sie das
Licht. Sie liegt noch lange wach und denkt an Schurken und Banditen. Ihr geht
es nicht um Freiheit. Auch nicht um Unabhängigkeit oder darum, dass sie
nicht von dem leben könnte, was sie tut, sie kommt sogar recht gut
über die Runden. Es ist vielmehr, dass Mary immer davon träumte, den
Menschen, der sie ist, hinter sich zu lassen. Den Namen Mary abzulegen, denn
der hat keine Bedeutung mehr für sie. Mary starrt in die Dunkelheit und
schläft irgendwann ein.
4
Bevor Mary geboren wurde gingen ihre Eltern zu Fuß von Nebraska nach
Texas. Dort bauten sie sich, irgendwo mitten in den weiten der Prärie,
eine Hütte und brachten eine Tochter zur Welt. Mary. Ihr Vater war auf
der Suche nach Arbeit oft wochenlang unterwegs, während sich ihre Mutter
um sie kümmerte. Er muss, Mary bekam es mit achtzehn heraus, in einer
Stadt eine andere Frau kennengelernt haben. Auf jeden Fall überredete er
seine Frau dazu, mit Mary ebenfalls in die Stadt zu ziehen.
Dort traf er sich regelmäßig mit seiner Geliebten. Sie war eine
halbe Mexikanerin, die ihm den Kopf verdrehte. Unglücklicherweise war sie
aber schon verheiratet. Ihr Mann Federico tobte und nachdem er seiner untreuen
Frau eine Lektion erteilt hatte, forderte er Peter zum Duell heraus. Peter
starb und Federico floh und ließ seine Frau zurück. Nach dem Tod
von Peter zog Marys Mutter alleine weg. Und so blieb Mary nichts außer
ihren Träumen und der Hoffnung, dass alles besser werden würde. Als
sie anfing als Näherin Geld zu verdienen, vergaß Mary beinahe, dass
sie weg wollte. Eine Zeit lang schaffte sie es sogar nicht mehr daran zu
denken. Das alles änderte sich jedoch vor ein paar Jahren, als die
Überfälle anfingen. Eine Bande von Outlaws machte das Land unsicher
und es hieß, sie gingen nicht gerade zimperlich vor. Seit dieser Zeit
sammelt Mary alles, was sie über diese Bande in die Finger bekommt.
5
Bill wird von Jeff wachgerüttelt. Er wehrt ihm im Halbschlaf ab, doch
Jeff lässt nicht locker. „Wir müssen weiter“, sagt Jeff.
Sie haben an diesem Nachmittag kurz Halt gemacht und sind dabei eingeschlafen.
Jeff, der gelernt hat, nie lange durchzuschlafen, ist als erster wach.
„Wie lange haben wir geschlafen?“ fragt Bill.
„Nicht lange. Komm jetzt“, entgegnet Jeff und reicht seinem Bruder
die Hand. Dieser ergreift sie und lässt sich von seinen Bruder
aufhelfen.
Am nächsten Tag erreichen sie eine kleine Stadt und gehen in den Saloon.
„Jeff, was meinst du, wie lange wir dieses Mal bleiben?“
lächelt Dexter.
„Lange genug für ein paar Drinks“, erwidert Jeff und legt ihm
den Arm um die Schulter. In diesem Augenblick fällt ein Schuß.
Jeff, der seine Waffe in Richtung des Tresen richtet, erstarrt. Unfähig,
auch nur einen klaren Gedanken zu fassen, starrt er auf die Frau am Tresen.
Diese Frau hält eine Waffe, eine Winchester, in der Hand und steht mit
dem Rücken zur Theke. Sie starrt die fünf Männer an,
während alle Geräusche in der Bar verstummt sind. Die Frau
trägt einen Cowboyhut, Hose, Hemd, Halstuch, und ist bildschön. Ihre
schwarzen Haare umrahmen ihr Gesicht.
„Ich werd´ verrückt“, raunt Dexter.
„Was zum Teufel …“ sagt Jeff und steckt seinen Revolver
weg. Als er endlich seine Sprache wiedergefunden hatte, fragt er:
„Was willst du?“
„Nehmt mich mit“, sagt die Frau. Jeff sieht sie fragend an.
„Bitte?“
„Du hast mich genau verstanden“, sagt sie.
„Ja. Aber ich glaub´, ich hab mich verhört“, sagt Jeff
und lächelt.
„Wer bist du überhaupt?“ fragt Bill.
„Jane“, erwidert die Frau mit der Winchester. Sie lässt das
Gewehr sinken.
„Wie bist du hineingekommen? Erzähl mir nicht, du wurdest
reingebeten“ fragt Jeff.
„Nein“, antwortet Jane. Jeff geht zur Theke, ohne dabei die Frau
aus den Augen zu lassen. Die anderen folgen seinem Beispiel. Doch am
nächsten Tag ist sie wieder kurz im Saloon und am darauflegenden
ebenfalls. Mary beobachtet die Männer auf Schritt und Tritt, und als sie
am dritten Tag wieder im Saloon auftaucht, platzt Jeff der Kragen.
„Was soll das!? Was glaubst du, wer oder was wir sind?“ fragt er.
„Mörder“, erwidert Jane. „Ihr seit die Sorte
Männer, die man lieber am Galgen sieht. Ihr tötet und stehlt und
zerstört Leben.“
Ein Mann kommt und packt sie am Arm, doch sie reißt sich los.
„Doch für mich seid ihr der einzige Weg aus dieser gottverlassenen
Stadt.“
„Kommen Sie, Miss“, sagt der Mann und drängt sie in Richtung
Ausgang.
„Moment!“ ruft Jeff. Jane befreit sich erneut seinem Griff.
„Ich bin zwar eine Frau, aber ich kann schießen“, sagt sie.
Jeff geht auf sie zu und die Frau richtet ihre Waffe auf ihm.
„Nein, ruhig. Beruhige dich“, sagt er. „Wie heißt du
nochmal?“
„Jane“, sagt sie und sieht ihn mit festem Blick an.
„Gut. Jane. Würdest du dein Leben hier auch aufgeben wollen?“
fragt er.
„Ja“, sagt sie leise.
„Was?“ fragt er.
„Ja“, sagt Jane lauter.
„Wir schlafen, aber nicht lang. Wenn wir reiten, sind wir müde.
Wenn wir fliehen, hungern wir. Ich erwarte viel, Jane. Sehr viel. Das
Schlimmste ist die Anspannung. Dieses ständige Gefühl, dass
irgendetwas passieren wird“, sagt er, während er dicht an sie
herangetreten ist.
„Ich kann … damit leben“, sagt sie.
„Wirklich?“
„Ja.“
„Was ist mit Mord?“ fragt Jeff.
„Mord? Das kann ich“, sagt Jane.
„Dann töte“, sagt Jeff.
„Was?“ fragt Jane erschrocken.
„Töte“, wiederholt er.
„Hier?“ fragt Jane.
„Ja. Hier“, erwidert Jeff. Jane lacht nervös und Jeff geht
wieder zu den anderen. „Wir brechen auf. Kommt“, sagt er, als ein
Schuß fällt. Jeff fährt herum und sieht einen Mann am Boden
liegen. Einen Augenblick später rappelt er sich auf und hält sich
den Arm. Jeff sieht zu seinen Brüdern.
„Wir müssen aus diesem Staat raus. Ein Wort von dir und du stehst
alleine mit deiner Winchester in der Prärie.“, sagt Jeff und sie
verlassen den Saloon.
6
Sie reiten Tage, und Mary, die sich den Clarence-Brüdern gegenüber
als ‚Jane‘ vorgestellt hatte, sagt den ganzen Weg über,
während sie auf Bills Pferd sitzt, kein einziges Wort. Irgendwann bei
einer ihrer Lagerfeuerpausen ist Dexter es leid, sich das weiter mit
anzusehen.
„Wir sind aus Kentucky“, erzählt er Mary.
„Ich bin von hier“, sagt sie. Jeff reicht ihr die Flache.
„Nein, danke.“
„Hast du sowas noch nie gemacht?“ fragt er.
„Gib mir was Zeit“, erwidert Mary.
„Probier doch mal“, sagt Jeff, der ihr noch immer die Flasche
hinhält.
„Jeff! Sie hat ‚nein‘ gesagt“, sagt Bill. Dann sieht
er Mary an. „Nimm es nicht persönlich.“ Sie lächelt.
„Du weißt, wer wir sind?„ sagt Dexter.
„Ja, weiß ich“, antwortet Mary.
„Auch namentlich?“ fragt Parker.
„Ja“, sagt sie. Und dann: „Mein Name ist nicht Jane. Ich
heiße Mary Jane. Thompson.“
„Jane finde ich besser“, sagt Jeff, woraufhin Mary lächeln
muss.
„Wieso kannst du mit dem Gewehr umgehen?“ fragt Jim.
„Ich verbringe manchmal Zeit mit üben. Das Gewehr hat meinem Vater
gehört. Die Sachen hier auch“, sagt Mary lächelnd.
„Und deine Mutter?“ fragt Bill.
„Die ist weg. Da war ich fast neunzehn“, sagt Mary.
„Woher genau aus Texas bist du?“ fragt Bill.
„Aus der Stadt, in der wir uns begegnet sind“, sagt sie. Dann
schweigen sie.
Es vergehen mehrere Tage und Jeff fängt langsam an, sich an Marys
Anwesenheit zu gewöhnen. Sie fragt, wann sie ihr eigenes Pferd haben
könne. Jeff sieht sie verständnislos an, verspricht ihr aber, sich
sobald wie möglich darum zu kümmern. Bald merkt Mary, was es
bedeutet, mit einem Gefährten wie Jeff Clarence zusammen zu reiten.
Besonders wenn er sie mitten in der Nacht weckt und weiter scheucht, oder wenn
sie einen ganzen Tag lang geritten sind und ihre Mägen knurren. Jeff
treibt sie bis an den Rand ihrer Belastbarkeit und oft darüber hinaus.
„Du gewöhnst dich dran“, hatte Jim ihr einmal gesagt. Sie
bekommt oft Gespräche zwischen den Brüdern mit und schlussfolgert,
dass Jeff sie noch immer nicht voll akzeptiert hat. Bei einer Rast spricht sie
ihm darauf an.
„Ja“, sagt er. „Es fällt mir schwer, dich zu
mögen. Ich sage dir das, weil ich dir diese Ehrlichkeit schuldig
bin.“
„Und wieso magst du mich nicht?“ fragt Mary.
„Ich habe ein Problem damit, eine Frau als Outlaw zu akzeptieren. Es
geht nicht gegen dich persönlich“, sagt Jeff. Bill horcht
plötzlich auf.
„Bill?“ fragt Jim.
„Ruhig“, zischt dieser. In diesen Moment fällt ein
Schuß. Er trifft Dexter.
„Los, weg hier!“ ruft Jeff.
„Aber Dex! Wir können ihn doch nicht alleine lassen!“ ruft
Bill. Als die nächsten Schüsse fallen zerrt Jeff seinen Bruder auf
die Füße.
„Er ist tot, Bill!“ Dann jagen sie davon.
7
Sie reiten, bis sie nicht mehr können und machen irgendwann im offenen
Gelände halt. Bill hat sich sofort auf den Boden gesetzt und weint
bitterlich. Und Mary versucht ihn zu beruhigen, indem sie sich einfach neben
ihm setzt und ihm Gesellschaft leistet. Etwas weiter entfernt schreien sich
Jim und Jeff an.
„Du kaltschnäuziges Ekel! Geh wenigstens zu ihm!“ ruft Jim.
„Wir mussten weg, und zwar schnell!“ entgegnet Jeff.
„He, ihr zwei“, sagt Mary. „Könnt ihr euch vielleicht
beruhigen?“
„Mary … Jane“, wimmert Bill.
„Ja?“
„Sag Jim und Jeff … sag ihnen, dass wir zurück
müssen“, sagt Bill.
„Was?“ fragt Jeff und sieht zu Bill.
„Wir müssen ihn beerdigen. Wir können ihn doch nicht einfach
… Jim?“.
„Beruhige dich erst mal“, sagt Jim.
„Parker?“ Parker wendet den Blick ab.
„Wo ist der Whiskey?“ fragt Bill.
„Den mussten wir zurücklassen“, sagt Jeff mit
tränenerstickter Stimme. Bill weint noch stärker.
„Genau wie Dex. Ganz genau wie Dex“, schluchzt er. Während es
allmählich stockfinster wird, da sie auf ein Feuer verzichtet haben,
beruhigt sich Bill ganz langsam. Er und Mary sitzen da und sehen in die
Dunkelheit hinaus.
„Hast du Geschwister?“ fragt Bill.
„Nein“, entgegnet Mary.
„Keinen … keine einzigen?“ Bill versucht zu lächeln.
„Nein“, wiederholt Mary.
„Ich habe nur sie. Jeff ist ganz schön hart. Er zeigt nicht viele
Emotionen, aber dafür ist er extrem loyal. Er würde nur dann
jemanden zurücklassen, wenn es nicht anders geht. Und das ist bisher noch
nie vorgekommen. Jim folgt ihm. Er sieht zu ihm auf und ist der Einzige, der
Jeff gelegentlich die Meinung sagt. Parker ist ruhig. Beinahe zu ruhig.
„Er spricht selten, er reitet einfach nur mit“, sagt Bill. Jim
dreht sich zu den beiden um.
„Und Bill ist ziemlich sensibel. Es war Dexters Idee, ihn
mitzunehmen“, sagt er, woraufhin Bill wieder zu weinen beginnt.
„Haben wir dich geweckt?“ fragt Mary.
„Nein. Jeff ist auch noch wach. Wir alle sind es“, sagt Jim. Mary
nimmt Bill in den Arm.
„Wir waren sehr eng … Dex und …“
„Dex und du“, lächelt Jim.
„Ja. Dex und ich“, erwidert Bill. Sie bleiben die ganze Nacht wach
und reiten irgendwann noch in der Dunkelheit weiter.
8
Der Ladenbesitzer John Morgan hatte bisher das Glück gehabt noch nie
überfallen worden zu sein. Bis zu jenem Tag, an dem er den Clarence-
Brüdern begegnete.
Mary hat mittlerweile einen festen Platz bei den ihnen eingenommen und nennt
sich selber nur noch ‚Jane’. Beim Verlassen der Stadt spürt
sie wieder die Gefahr, die wahrscheinlich für sie nie ganz zur Routine
werden wird. Die Schüsse, das Geräusch der galoppierenden Pferde
hinter ihnen und das erhöhte Adrenalin, das jede Faser ihres Körpers
einnimmt. Nach einer langen Verfolgungsjagd kehrt Ruhe ein und irgendwann
machen sie ein Feuer. Jeff nimmt eine Zeitung aus der Satteltasche und gibt
sie Jane.
„Kannst du lesen?“ fragt er.
„Ja. Du nicht?“ fragt sie und nimmt sie entgegen.
„Wir alle nicht. Wir müssten es mal lernen, aber wir wissen nicht,
wie“, sagt Jeff.
„Die Sachen stehen dir“, sagt Jim.
„Danke“, entgegnet Jane und schlägt die Zeitung auf.
„Clarence-Überfälle gehen weiter: Gesetz machtlos. Nach dem
letzten Überfall der Clarence-Bande vor einem Tag sind die vier noch
lebenden Brüder und ihre Begleiterin, ‚Shotgun Jane‘, immer
noch auf freiem Fuß ...“
Plötzlich hören sie Reiter, die sich nähern. Jim und Jeff
springen auf und ziehen ihre Revolver.
„Nicht schießen!“ ruft eine Stimme. Es sind vier
Männer.
„Wer seid ihr?“ fragt Bill. Die Fremden zügeln ihre Pferde.
„Das, was ihr auch seid. Gesetzlose.“ Die Neuankömmling sind
schmutzig und haben sich wahrscheinlich eine Woche lang nicht rasiert. Wenig
später sitzen sie zusammen am Feuer.
„Ich bin Dick, und das hier sind meine Freunde John, Tell und Earl. Ihr
seid die Clarence, ich weiß.“ Parker gibt Dick die Flasche. Dick
trinkt einen großen Schluck.
„Woher kommt ihr?“ fragt Jim.
„Wir sind auf der Durchreise. Wir wollen nach New Mexico.“
„New Mexico“, wiederholt Parker.
„Ja. Wir haben Verwandte dort“, sagt Earl.
„Ihr seid also die berühmte Bande, von der alle sprechen“,
sagt John.
„Tun das alle?“
„Allerdings“, John nickt.
„Dann sind wir das wohl“, wirft Jeff ein.
„Wohin wollt ihr?“ fragt John.
„Das wissen wir selbst noch nicht. Wir machen Überfälle, sonst
nichts“, sagt Bill, der mittlerweile im Besitz der Flasche ist.
„Da haben wir was gemeinsam“, sagt John und nimmt die Flasche von
Bill an. Nach einer Pause erklären die Outlaws, dass sie weiter
müssten, weil man sie sonst finden könne. John gibt Bill die Flasche
zurück und sie steigen wieder auf ihre Pferde.
„Viel Glück“, sagt John und die vier reiten davon.
„Shotgun Jane“, sagt Mary, die jetzt auch von den Clarence
‚Jane‘ genannt wird.
„Shotgun Jane“, bestätigt Jim.
„Sag’ das nochmal“, fordert sie ihn auf.
„Komm runter, Jane. Denn es ist genau das, was dich das Leben kosten
kann“, sagt Jeff.
„Hör nicht auf ihn“, Bill sieht zu Jeff rüber.
„Schon gut, ist nicht schlimm“, sagt sie. „Wolltet ihr in
eurem Leben jemals etwas Normales machen?
„Es ging nicht. Die nächste Stadt war Meilen entfernt und wir
hatten nichts außer die endlose Prärie um uns herum. Aber ich
wollte zur Army“, sagt Jeff.
„Was hättest du gemacht?“ Jane sieht zu Bill.
„Ich wäre in die Stadt gezogen, hätte mir eine hübsche
Frau gesucht und hätte Kinder bekommen. Aber da sind mir meine
Brüder zuvor gekommen“, sagt er.
„Was findest du eigentlich an diesem Leben reizvoll?“ fragt
Parker.
„Die Angst. Das Gefühl, dass jede Tag der letzte sein kann“,
sagt Jane. Parker denkt darüber nach.
„Und ihr? Abgesehen davon, dass ihr für euch anscheinend keine
andere Chance gesehen habt?“ fragt sie.
„Nicht vergessen zu werden“, sagt Bill. Jetzt ist es Jane, die
über diese Worte nachdenkt.
„Kommt“, sagt Jeff und erhebt sich.
“Er hat recht. Wir sind schon zu lange hier“, sagt Jim. Kurz
darauf reiten sie weiter. Jane bring es nicht über sich, den anderen die
ganze Wahrheit zu sagen. Sie hat noch immer das Gefühl, die Männer,
mit denen sie gemeinsam reitet, nicht gut genug zu kennen.
9
„Guten Tag, Ladies and Gentlemen, das ist ein Überfall! Seien Sie
artig, machen Sie keine Faxen und kommen Sie nicht auf die Idee, den Helden zu
spielen, klar?“, sagt Bill. Jim und Jeff machen sich sofort daran zum
Schalter zu gehen. Dort steht ein Mann, der Geld abheben will, Jim packt ihn
und schiebt ihn zur Seite.
„Hallo“, sagt er. „Darf ich bitten?“ Er hält dem
Angestellten den Revolver vor die Nase, der sofort beginnt, das Geld in eine
Tasche zu legen, während Bill die Situation von der Eingangstür aus
überwacht. Jeff kümmert sich um den anderen Bankschalter.
„Hab´ alles zusammen“, sagt Jim nach einer Weile zu Bill,
dann lächelt er den Bankangestellten an.
„Danke vielmals“, er geht rückwärts zu Bill,
während er sich dabei umsieht, um zu verhindern, dass er jemanden
anrempelt. Wenig später kommt auch Jeff. Nach einer kurzen
Schießerei können sie dann aus der Stadt entkommen.
Bei ihrer Flucht wird Jeff am Arm angeschossen. Bill sieht zu ihm rüber
und lenkt sein Pferd neben das seine.
„Alles in Ordnung!?“ fragt er.
„Ich werde es überleben!“ ruft Jeff zurück und setzt
sich an die Spitze. Er schert dann nach links aus und bleibt, mit Blick auf
seine Verfolger, stehen. Er steht da, während die Verfolger auf ihn
zukommen. Bill sieht zu ihm herüber.
„Nicht schon wieder“, murmelt er. Jeff schließt dreimal und
lenkt sein Pferd dann wieder scharf in Richtung der anderen. Jeff sieht auf
seinen Arm hinab und reitet zu Jim.
„Übernimm du! Ich kann nicht mehr schießen!“ sagt er.
„Sonst kommst du klar!?“ fragt Jim. Jeff, der nie besonders gut
mit Mitgefühl und Empathie umgehen konnte, sieht ihn an und reitet an Jim
vorbei. Dann haben sie ihre Gegner abgehängt und steigen ab.
„Lass mich mal sehen“, sagt Bill und Jeff hält ihm den Arm
hin.
„Vorsicht“, sagt er und verzieht das Gesicht. Bill reißt ihm
den Ärmel auf und begutachtet die Wunde.
„Ja, das könnte jetzt wehtun“, sagt er und wischt Jeff mit
seinem Halstuch das Blut weg, das in Mengen aus der Wunde fließt. Dann
gibt er Jeff die Flasche.
„Trink“, sagt Bill. Jeff öffnet sie und nimmt einen Schluck.
Bill sagt ihm, er müsse ihm ins Fleisch schneiden, woraufhin Jeff einen
größeren Schluck trinkt. Dann zerschlägt Bill die Flasche und
nimmt die größte der Scherben.
„Zähne zusammenbeißen“, sagt er. Bill setzt zum Schnitt
an. Er vergrößert die Wunde, um so die Kugel herauszuholen, als sie
in einiger Entfernung Stimmen hören.
„Lass´ mich. Ich binde die Wunde ab und dann reiten wir
weiter“, sagt Jeff und Parker bindet ihm sein Halstuch um den Arm.
10
Es ist nur ein Augenblick, der Janes Leben für einen Moment auf den Kopf
stellt. Sie hatte den Jungen nicht gesehen, der in eine Schießerei
zwischen den Clarence und einigen Bürgern geraten ist. Jeff wollte
eingreifen, doch da war es schon passiert.
„Es hätte mir auch passieren können“, sagt Jeff, der ihr
den Whiskey reicht.
„Wäre vielleicht besser gewesen“, antwortet Jane und greift
nun doch nach der Flasche.
„Wieso?“ Jeff sieht sie an.
„Weil du damit umgehen kannst. Jedenfalls besser als ich.“
Jeff sieht beschämt zu Boden. „Willst du erst mal außen vor
bleiben?“ fragt Bill.
„Nein. Ihr braucht mich doch“, sagt Jane, trinkt einen Schluck und
gibt Jeff die Flasche zurück.
„Bill hat vielleicht sogar recht“, sagt Parker. „Ein paar
mal schaffen wir es auch ohne dich.“
„Nein! In Ordnung?“ sagt Jane. „Ich schaffe das.“ Sie
blickt zu den anderen.
Doch in der nächsten Bank fängt ihre Fassade an zu bröckeln.
„Jane“, sagt Bill und sieht sie an.
„Alles gut“, erwidert Jane, während sie mit ihrer Winchester
auf die Leute zielt.
„War das alles?“ fragt Jim den Angestellten.
„Ja“, sagt er. Jeff tritt als erster hinaus, die anderen folgen
ihn nur Augenblicke später.
„Jane?“ fragt Jeff.
„Mir geht es gut!“ ruft Jane und versucht, überzeugend zu
wirken. Doch alle könne sehen, dass sie leidet.
11
Gehe nicht gelassen in die gute Nacht. Brenne, rase, wenn das Dunkel sich
legt. Dem sterbendem Licht trotze wutentfacht. Der Weise billigt der
Dunkelheit Macht, weil kein Funke je sein Wort erregt, gehe nicht gelassen in
die gute Nacht. Dem sterbendem Licht trotzte wutentfacht. Sie reiten im Galopp
über die Prärie. Jane schreit, sie brüllt, sie weint und
brüllt erneut. Dann, bei ihrer nächsten Rast, offenbart Jeff ihr
sein dunkles Geheimnis.
„Ich habe mal jemanden einfach so erschossen. Es war in einer Stadt, wie
in der vor drei Tagen“, sagt er. „Wir waren jung, viel jünger
als jetzt. Wir hatten alle zu viel getrunken und ich ging raus um frische Luft
zu schnappen ... Ich hatte meine Waffe neu - wir alle - und da war dieser
junge Mann. Ich hatte nicht vorgehabt, ihn zu töten. Aber ich richtete
trotzdem die Waffe auf ihm. Ich zielte und drückte ab. Vielleicht habe
ich habe es aus Neugier getan. Einfach um zu wissen, wie es sich anfühlt.
Die anderen kamen rausgerannt und sahen mich mit dem Revolver in der Hand.
Dann sahen sie den Toten vor dem Saloon.“
„Danach hat er sich besoffen und dann war gut“, lächelt Jim,
als er seinen Bruder ansieht.
„Danke“, erwidert Jeff, ebenfalls lächelnd.
„Bitte.“
Jeff sieht zu Boden. „Dex zurücklassen zu müssen ... Ich
dachte es würde mich umbringen. Aber dann halte ich inne und
erinnere ich mich daran, dass das, was ich getan habe, genauso schlimm
war“, Jeff sieht sie an. „Es stimmt nicht ganz, was Jim gesagt
hat. Ich habe damit zu kämpfen gehabt. Aber das gehört jetzt zu mir
und ich habe gelernt, damit zu leben.“
„Werde ich es auch lernen?“ fragt Jane.
„Ich denke schon“, Jeff lächelt sie an.
„Was meinst du, wie alt er war?“ fragt sie.
„Willst du wirklich meine Vermutung hören?“ fragt Jeff.
„Nein. Wahrscheinlich nicht“, sagt sie.
Einen Tag und einen Überfall später treffen sie auf eine Gruppe
Gesetzloser, die ihr Lager etwas abseits des Weges aufgeschlagen haben. Nach
anfänglichen Spannungen heißen die drei Männer sie dann doch
willkommen und führen sie zu einer überdachten Feuerstelle.
„Kaffee?“ fragt einer.
„Gerne“, entgegnet Parker. Wenig später haben sie einander
vorgestellt und sitzen jetzt bei Kaffee in einer Gruppe zusammen. Jeff blickt
den Mann ihn gegenüber an.
„Wie viel?“ fragt er.
„Fünftausend“, antwortet der Mann namens Harry. Der erste,
Wayne, zeigt ihnen eine Zeitung, nachdem er sich eine Zigarette angesteckt
hat.
„Hier“, sagt er und zeigt auf den Artikel.
„Darf ich mal?“ fragt Parker.
„Klar, nimm“, antwortet Wayne. Er gibt Parker die Zeitung. Nach
einer Weile gibt er sie zurück.
„Fünftausend Dollar Kopfgeld“, sagt Parker, „ist ja
allerhand.“
„Auch eine?“ fragt Wayne und hält ihnen die Zigaretten hin.
„Ja gerne“, Jim nimmt eine, steckt sie sich zwischen die Lippen
und hält ihm den Kopf hin. Wayne steckt sie ihn an.
„Wohin wollt ihr?“ fragt er.
„Wissen wir nicht“, antwortet Bill.
„Wir wollen nach Virginia. Ist ganz schön da“, meint Harry.
„Wenn man nicht gerade gejagt wird.“ Wayne sieht ihn an.
Sie haben ihren Kaffee bereits ausgetrunken, und lassen sich von Wayne neuen
einschenken.
„Ist es hier sicher?“ fragt Jeff.
„So sicher, wie es unter diesen Umständen sein kann“,
antwortet Harry, „uns ist seit gestern niemand mehr begegnet.“
„Ihr habt nicht zufällig Interesse daran bei uns einzusteigen?
“ fragt Wayne.
„Nein“, antwortet Jeff. Wayne merkt, dass die Clarence nervös
sind.
„Immer auf dem Sprung, was?“ fragt er.
„Jeff, richtig?“ fragt Harry.
„Ja.“
„Immer mit der Ruhe, Jeff. Wenn jemand kommt, sind wir bereit“,
sagt Harry.
„Jane“, sagt Tom. „Hier.“ Er übergibt ihr ein
Heft.
„Was ist das?“ fragt sie.
„Ein Bericht über die Clarence-Brüder“, sagt er und Jane
klappt es auf.
„Zeig mal“, Jeff streckt die Hand danach aus. Offensichtlich
werden ihre Abenteuer übertrieben dargestellt. Jane gibt ihm das Heft.
Nach einer Weile gibt er es Wayne wieder zurück.
„Hat sich wirklich so viel geändert?“ fragt Jane und trinkt
den Rest ihres Kaffees aus.
„Wie lange seit ihr unterwegs?“ fragt Wayne.
„Seit fast einen halben Jahr. Mit ihr“, sagt Parker.
„Ihr habt eine Menge verpasst“, sagt Wayne. „Noch eine?
“ er hält ihm eine Zigarette hin.
„Danke. Kannst du mir noch ein paar mitgeben?“ sagt er.
„Hier sind zwei. Wir haben selbst nur noch wenige“, sagt Wayne.
„Das ist in Ordnung“, Jeff steckt die Zigaretten ein und
lässt sich seine anstecken. Dann verabschieden sie sich voneinander.
Wayne schenkt Bill auf dessen Wunsch hin noch einen Kaffee ein. Nachdem
er ihn ausgetrunken hat, schwingen sie sich wieder auf ihre Tiere.
12
Bill hält den Angestellten die Waffe vor die Nase, während Jeff
ihnen die Tasche hinhält. Die anderen beiden überwachen die
Bankkunden und achten auch darauf, ob sich draußen etwas regt. Nach
fünf Minuten haben sie die Bank um ein paar hundert Dollar erleichtert
und weitere zwei Minuten später verlassen sie sie wieder, wobei sie auch
hier darauf achten, dass sie in der Bank niemand von hinten überrascht.
Draußen schwingen sie sich auf ihre Pferde und halten die Menge in
Schach, die sich angesammelt hat. In Windeseile verlassen sie, gefolgt von
Reitern, die Stadt wieder so schnell, wie sie gekommen sind. Während
ihrer Flucht fällt Jeff auf, dass Parker sich kaum noch im Sattel halten
kann. Jeff lenkt sein Pferd neben Parker, während um sie herum die
Schüsse kreuz und quer einschlagen und kniet sich auf sein eigenes
Tier.
„Was zum Teufel machst du da!?“ fragt Jim.
Jeff achtet nicht auf ihn. Er schwingt sich auf Parkers Pferd, schlingt einen
Arm um ihn und ergreift mit der freien linken Hand die Zügel. Parker
wurde in den Rücken getroffen. Jeff drückt ihn behutsam an sich. Als
endlich Ruhe herrscht, hält er an.
„Halt! Parker hat‘s erwischt!“ ruft er.
Die anderen bleiben augenblicklich stehen. Jim macht kehrt und kommt neben
Jeff zum Halten. „Was?“
„Komm“, sagt Jeff , „hilf mir ihn abzusetzen.“
Parker lässt ein Stöhnen hören, als sie ihm vom Pferd hieven,
worauf Jeff ihm sofort in die Arme schließt.
„Parker? Hörst du mich?“
Ein weiteres Stöhnen.
„Ganz ruhig“, sagt Jeff sanft.
„Jeff“, flüstert Parker mit schwacher Stimme. Dann kippt sein
Kopf zur Seite, die anderen nehmen ihre Hüte ab.
„Leb wohl, Bruder“, sagt Jeff mit brüchiger Stimme und
küsst ihn auf die Stirn. Ihm laufen Tränen übers Gesicht, dann
sieht er zu den anderen auf. „Gehen wir.“ Doch er sitzt weiterhin
auf den Boden, seinen toten Bruder in den Armen. Eine Träne fällt
auf Parkers Wange.
„Jeff “, sagt Bill, „wir können ... Wir können
nichts mehr für ihn tun.“
Diese Worte sind kaum mehr als ein Flüstern. Jeff nickt und erhebt sich
schließlich. Da die Verfolger in jedem Moment auftauchen können,
müssen sie ihren Bruder auch zurücklassen. Sie setzen ihre Hüte
wieder auf, satteln Parkers Pferd ab, nehmen die Zügel und lassen beides
auf den Boden zurück. Danach jagen es davon. Als sie zu ihren eigenen
Pferden zurück gehen spricht keiner ein Wort.
Sie haben den ganzen Tag geschwiegen. Jetzt sitzen sie beim Schein der
untergehenden Sonne beisammen und haben sich noch nicht mal die Mühe
gemacht, ein Feuer anzumachen. Sie sitzen einfach nur da und schauen sich an.
„Sie werden uns finden“, sagt Jim.
„Das ist mir im Moment egal“, antwortet Bill. Als sie fast nichts
mehr sehen können, müssen sie sich entscheiden, ob sie weiterziehen
oder nicht. Eigentlich hat keiner von ihnen große Lust weiter zu reiten,
aber als es stockfinster ist, schwingen sie sich dann doch auf ihre Pferde.
13
Der alte Mann hat seinem Sohn versprochen, ihn in die Steppe mitzunehmen, um
ihn in die Geheimnisse des Fährtenlesens einzuweihen. Er hatte selber
viele Jahre als Cowboy gearbeitet, aber da er nun zu alt für diese
Strapazen ist, hat er beschlossen sein Wissen an seinen Sohn weiterzugeben.
Sie sind noch nicht lange auf dem offenen Gelände, als ihnen vier Reiter
entgegenkommen.
„Komm“, sagt der Mann, der sie sofort erkannt hat, zu seinem Sohn.
„Dad, sie tun uns nichts“, sagt der Junge.
„Da würde ich nicht drauf wetten, mein Junge“, sagt der Alte.
„Wartet!“ ruft einer der Reiter aus der Ferne. Jim setzt sich an
die Spitze des Trupps. „Bitte!“
„Komm, Jerry“, sagt der alte Mann. „Jetzt komm schon!“
Jerry folgt gehorsam. Doch die Reiter sind schnell. Sie holen die beiden ein.
„Bitte, keine Angst“, sagt Jim.
„Wer, ich?“ fragt der Mann. „Der Teufel soll mich holen,
wenn der Tag kommt an dem ich euch fürchte.“
„Jim Clarence, stimmt’s?“ fragt der junge Mann.
„Ja“, sagt Jim.
„Freut mich, ich bin Jerry. Ich habe schon so viel von euch
gehört“, sagt er.
„Bestimmt nichts Gutes“, sagt Jeff.
„Ha, das will ich meinen“, entgegnet der Alte.
„Das ist mein Vater, Walt“, sagt Jerry.
„Gut Jerry, kannst du uns vielleicht sagen, ob das die Richtung nach
Illinois ist?“ sagt Jim.
„Äh, ja. Das …“
„Jerry, wir müssen. Er mag euch, weiß der Teufel warum. Wenn
er nicht mein Sohn wäre, würfe ich ihn fortjagen!“ sagt Walt.
„Danke für die Mühe“, sagt Jim und die vier reiten
weiter.
Zwei Tage später werden Bill und Jeff bei einem Überfall schwer
verletzt.
„Jane“, sagt Jim, „kümmere dich um die beiden.“
Bill und Jeff klammern sich mit letzter Kraft an ihre Pferde.
„Bill!“, ruft Jane, „kannst du dich noch halten?
“
„Ja“, gequält, gepresst aber deutlich.
„Jeff?“
„Geht schon!“
„Legen wir sie hin“, sagt Jane, als sie anhalten, um sie
notdürftig zu versorgen und die Verletzungen zu untersuchen. Zu diesem
Zeitpunkt sind die beiden kaum noch bei Bewusstsein.
„Gib mir dein Halstuch, Jim.“ Jim gibt es ihr.
„Du brauchst vielleicht auch das hier.“ Er zieht sein Hemd aus.
„Press das vor die Wunde und binde dann das Tuch drum, ich mache das
gleiche bei Jim.“
Nach zehn Minuten ist alles verbunden, als zweiter Verband wurde Bills
Halstuch und sein Hemd benutzt. Jim beugt sich ganz nah über Jeffs
Gesicht und haut im auf die Wange. „Jeff!?“ sagt er mit lauter
Stimme. Jeff murmelt etwas.
„Bill, hey, Bill!“ ruft Jim, Jane tätschelt Bill ebenfalls
auf die Wange.
„Lass“, sagt Jim, „wir müssen sie so auf die Pferde
kriegen.“
Es dauert, bis sie die beiden in die Sättel gehievt haben. Sie halten
immer wieder nach Verfolgern Ausschau. Eine halbe Stunde später reiten
sie weiter, während Bill und Jeff wie tot quer auf ihren Pferden liegen.
Jim und Jane führen die beiden Tiere am Halfter, während sie auf
ihren eigenen sitzen.
„Und wohin jetzt? fragt Jane.
„Wir reiten in die nächsten Stadt und lassen sie da
versorgen“, sagt Jim. Jede halbe Stunde machen sie Rast, um den Puls der
beiden Verletzten zu fühlen.
„Sie werden uns festsetzen“, bemerkt Jane.
„Dann sollen sie nur kommen“, gibt Jim zurück.
Ihre Patienten haben noch Puls, wenn auch schwächer als zuvor, als sie
gegen Nachmittag in eine Stadt kommen.
„Wir brauchen Hilfe!“ ruft Jim, als sie in die Stadt reiten,
„bitte, kann uns irgend jemand helfen!?“
„Sie sind verletzt!“ ergänzt Jane. „Wir brauchen einen
Arzt!“
„Da hinten“, sagt jemand und zeigt geradeaus, „kommt, ich
bring euch hin.“ Er führt sie die Hauptstraße entlang und
bleibt vor einem einfachen Haus stehen. „Da wohnt die Familie Johnson,
fragt da mal nach.“
Sie steigen ab, binden die Pferde an und Jim klopft an die Tür. Die
Tür geht auf und wäre auch wieder ins Schloss gefallen, würde
Jim nicht seinen Fuß dazwischen stellen.
„Bitte“, sagt er, „wir haben zwei Schwerverletzte
dabei.“
„Wir bleiben nur solange, bis es ihnen besser geht“, fügt
Jane hinzu. Dann geht die Tür auf und vier Leute, drei Männer und
eine Frau, erscheinen und bringen Bill und Jeff ins Haus. Wenig später
sitzen sie alle im Wohnzimmer auf zwei Sofas in einem Sicherheitsabstand
zueinander.
„Die Wunden sind erstmal versorgt“, sagt der Mann, der jetzt ins
Zimmer kommt. „Alles andere muss man abwarten.“
„Wie geht es ihnen?“ fragt Jim.
„Sie haben viel Blut verloren. Ich gebe Ihnen erstmal etwas zum
anziehen.“ Mit diesen Worten verschwindet er.
„Wenn Sie dafür sorgen, dass uns niemand hier stellt, versprechen
wir Ihnen, dass wir Ihnen keinen Ärger machen“, sagt Jane,
„ich hab eine Zeit lang für mich selber gekocht, ich kann das
noch.“
„Hören Sie mal, Miss“, sagt der Älteste der vier,
„wir machen hier nur unsere Arbeit. Wir werden dafür sorgen, dass
alles klappt, aber damit endet unsere Pflicht. Wie Sie danach hier raus
spazieren, ist Ihre Sache.“
„Einverstanden“, sagt Jim. Der Mann kommt mit einem neuen Hemd
zurück. Jim zieht es sich an.
„Ich bin Will,“ stellt sich der Älteste vor.
„Jane“, sagt Jane.
„Jim.“
„Ich mach uns etwas zu essen“, sagt die Frau und verschwindet in
der Küche. Keine Minute später ist ein Scheppern und Poltern zu
hören.
„Magdalena?“ sagt der Mann und eilt in die Küche,
„alles in Ordnung, Liebes?“
„Ja“, ist von dem angrenzenden Raum zu vernehmen, „ja, alles
gut, ich bin nur etwas angespannt.“
„Komm, lass mich das machen“, sagt der Mann. Magdalena erscheint
wieder im Wohnzimmer und setzt sich zu ihrer Familie. Bei ihm läuft es
zwar wesentlich besser als bei ihr, aber auch er scheint seine Nerven nicht im
Griff zu haben. Jane steht auf und geht zur Küche.
„Lassen Sie mich was kochen.“
Der Mann fährt herum und guckt sie an, als wäre sie ein Gespenst.
Jane geht langsam durch die kleine Küche auf ihn zu. „Ich tue Ihnen
nichts.“
Jim ist Jane in die Küche gefolgt.
„Dann gib mir besser erst einmal das da“, er zeigt auf das Gewehr,
das sie in der Hand hält.. Jane gibt es ihm.
„Wie heißen Sie?“ fragt Jim, um ihm etwas zu beruhigen.
„Ted... Ted Johnson.“
Jim steht neben der Küche, um beide Räume im Auge zu haben und
hält das Gewehr mit dem Lauf nach unten gerichtet, während Jane sich
ans Kochen macht. „Wo sind die Gewürze?“ fragt Jane. Teds
Blick ist auf das Gewehr fixiert.
“Ted?“ Jane dreht sich um.
„Äh... was?“ fragt Ted.
„Die Gewürze?“
„Da.“ Ted öffnet einen Schrank und dreht sich sofort wieder
zu Jim um.
„Wir haben das gleiche Problem wie ihr“, sagt Jim, „wir
müssen euch trauen, ob wir wollen oder nicht.“
„Nur ihr habt Waffen“, antwortet die Frau schüchtern,
„werdet ihr sie benutzen?“
„Wie heißt du?“ Jim bemüht sich, ruhig zu klingen. Doch
die Frau hat noch immer ein wenig Angst vor ihnen.
„Alice“, sagt sie.
„Keine Angst Alice, es wird keine Toten geben“, versichert Jim ihr
und lächelt.
Nach dem Essen gehen Jim und Jane für ein paar Minuten zu ihren
verletzten Kameraden, die in einem Zimmer liegen. Ihre Revolver und Hüte
liegen auf dem Nachttisch neben ihren Betten. Jim nimmt die Revolver an sich
und steckt sie sich in den Gürtel.
„Wie geht es dir, Bill?“ fragt Jim.
„Es geht.“ sagt er noch immer entkräftet.. „Hallo,
Jane.“
„Bill“, antwortet sie.
„Was ist mit Jeff?“ fragt Jim und sieht zu ihm rüber. Dieser
regt sich gerade, hat aber noch die Augen geschlossen.
„Er ist noch nicht ansprechbar“, sagt Bill, „ich habe es
versucht. Aber es wird schon.“ Ted kommt rein. „Kommt“, sagt
er.
„Geht schon“, sagt Bill, „wir hauen nicht ab.“
„Wir kommen später noch einmal vorbei“, sagt Jane und
drückt Bill die Hand.
„Macht das, bis dahin ist Jeff bestimmt auch schon wach.“
Die beiden verlassen das Zimmer und gehen zu den anderen rüber, die im
Wohnzimmer sitzen und sie misstrauisch beäugen.
„Erzählt was“, fordert Alice die Anwesenden auf, nachdem sich
Jim und Jane gesiezt haben. „Die Spannung hier hält ja keiner
aus.“
„Habt ihr einen Drink?“ fragt Jane.
„Whiskey?“ fragt der junge Mann mit dem adretten Aussehen.
„Ja, gerne“, antwortet Jim.
„Die anderen auch?“
„Bring doch gleich die ganze Flasche, Ben. Dann kann sich jeder was
einschenken.“
Ben geht zu einem Schrank und holt eine Flasche. Er stellt sie auf den Tisch,
dann holt er Gläser aus der Küche.
„Könnten Sie bitte Ihr Gewehr nicht so halten? Mir kommt es vor,
als wollten Sie gleich jemanden erschießen“, sagt Ted zu Jane, die
wieder ihre Waffe in der Hand hat. Sie legt das Gewehr auf den Schoß.
Immer bereit, es schnell an sich zu nehmen. Wenig später kommt Ben mit
den Gläsern zurück und alle schenken sich ein, es wird
natürlich nicht angestoßen.
„Wir müssen den beiden etwas zu essen bringen. Ben? Kommst du?
“ sagt Alice. „Entschuldigt uns“, sagt Ben ohne zu wissen,
ob er damit auch seine ungebetenen Gäste meint. Sie verlassen gemeinsam
den Raum.
Am frühen Abend statten sie Bill und Jeff wieder einen Besuch ab. Mit dem
Blick zur Zimmertür gerichtet, fragt Jeff leise: „Jim? Jane?
“
„Jeff, da bist du ja“, sagt Jane.
„Läuft es da drüben?“ fragt Bill. Er wirkt leicht erholt
und spricht jetzt mit deutlich mehr Kraft in der Stimme.
„Wir geben uns Mühe“, lächelt Jane. In dieser Nacht
schlafen sie alle zusammen. Wieder bereit, sich zu verteidigen, sollte es zu
einer unverhofften Wendung kommen.
Nachdem sie am nächsten Morgen gefrühstückt und auch Bill und
Jeff etwas gegessen haben, sitzen sie alle im Wohnzimmer.
„Warum bringen wir es nicht jetzt gleich zu Ende?“ fragt einer der
Männer.
„Wie heißt du?“ fragt Jane.
„Thomas“, entgegnet der junge Mann und springt auf. Jane, die
ebenfalls aufsteht, hält ihr Gewehr vor sich wie ein Jäger auf der
Pirsch.
„Sei kein Narr, Thomas“, sagt Ted.
„Vorsicht“, warnt Jane.
„Ganz ruhig Leute.“ Jim steht auf und legt eine Hand auf Janes
Gewehr, er drückt es vorsichtig herunter und sie lässt es geschehen.
Dann setzt sie sich wieder, ohne Thomas dabei aus den Augen zu lassen. Thomas
und Jim tun dasselbe.
„Na schön“, zischt Thomas, „wie ihr wollt. Aber wundert
euch nicht, wenn‘s am Ende Tote gibt. Allerdings lassen wir unsere Toten
nicht im Dreck verrotten!“ Jim zieht den Revolver und schiebt Jane, die
ihn aufhalten will, unsanft beiseite. Er stürzt sich auf Thomas, packt
ihm, zerrt ihm vom Sofa und hält Thomas den Revolver an den Kopf. Alice
schlägt die Hände vor das Gesicht und stößt einen Schrei
aus. „Ich sollte dich auf der Stelle umlegen! Sag das noch mal.“
Jim spannt den Hahn. „Sag das noch mal!!“ brüllt er ihn an.
Jane drängt sich zwischen die Männer und hält Jim zurück.
„Hört auf“, sagt sie, „alle beide! Sei doch
vernünftig, Jim.“ Einen Augenblick lang funkelt er sie an, als
wolle er sie mit seinen Blick töten, dann dreht er ab. Jane, die wieder
einen Sicherheitsabstand zwischen sich und denn anderen geschaffen hat, sieht
Thomas an.
„War das wirklich nötig?“ fragt sie und verlässt
ebenfalls den Raum.
„Ich brauch ein Drink.“ Thomas geht in die Küche.
„Was sollte das?“ fragt Ted, „willst du dich umbringen?
“
„Oder uns?“ ergänzt Alice.
„Thomas ...“ Ted wirkt ungeduldig.
„Lassen Sie, selbst wenn er es erklären würde, Freunde werden
die zwei nicht mehr“, sagt Jane, die wieder dazugestoßen ist. Alle
schauen sich zu ihr um. „Und wir zwei auch nicht, nur hab ich dir gerade
den Kopf gerettet.“
„Aha“, meint Thomas nur, „soll ich mich jetzt bedanken?
“
„Ach was, schon gut.“ Jane geht ebenfalls in die Küche und
nimmt sich ein Glas, dann geht sie zum Schrank und gießt sich Whiskey
ein. Thomas tut das gleiche, dann setzt sich Jane wieder auf das freie Sofa.
„Würdest du jemanden zurücklassen, Thomas? So was macht man
nicht freiwillig, dazu gehört sehr viel Kaltblütigkeit. Wir
mögen vielleicht Mörder sein, aber wir sind nicht
kaltblütig.“ Jane trinkt ein Schluck.
„Ich weiß nicht was ihr seid.“
„Nein“, stimmt Jane zu, „aber du weißt, dass ich ihn
nicht hätte daran hindern müssen, dich zu erschießen. Glaubst
du, wir wären ein solches Risiko eingegangen, wenn wir eine andere Wahl
gehabt hätten? Wenn wir sie hätten zurücklassen wollen?“
„Schluss jetzt“, unterbricht sie Magdalena, „ich will nichts
mehr davon hören. Das gerade eben war ja wohl Aufregung genug.“
Jane lässt das volle Glas stehen und verlässt das Wohnzimmer.
Eine Minute später ist Jane in Bills und Jeffs Zimmer. Jim sitzt auf dem
Rand von Bills Bett und hält seinen Hut in der Hand. Jane schließt
die Tür, setzt sich vor Jim auf den Boden und nimmt auch ihren ab.
14
Anderthalb Wochen später sitzen sie alle, Bill und Jeff eingeschlossen,
beim Frühstück, als es an der Tür klopft. Ted und Magdalena
haben die ganze Zeit mit dem Sheriff in Verbindung gestanden. Bill, Jeff und
Jim springen auf und ziehen ihre Revolver, Jane hält ihr Gewehr
schussbereit. Magdalena steht auf und geht zur Tür.
„Misses Johnson?“ hören sie die Stimme des Sheriffs. Bill
packt Ben am Kragen und zerrt ihn auf die Füße. Er hält ihm
den Revolver an den Hinterkopf und Jim greift sich Ted. Zu viert verlassen sie
das Wohnzimmer, während die anderen folgen. Jane passt auf, dass keiner
ihnen zu nahe kommt.
„Los, Tür auf!“ ruft Jim und Magdalena öffnet die
Tür. „Zur Seite!“
Magdalena steht nur da und starrt ihn an.
„Zur Seite, zur Seite!“ Er hält Ted den Revolver an die
Schläfe, woraufhin sie zur Seite tritt.
„Wagt es ja nicht, näher zu kommen!“ hören sie Jane
sagen.
„Und jetzt raus“, sagt Jim. Magdalena tut wie geheißen.
„Runter mit den Waffen!“ ruft Jim, als er draußen ist. Er
lässt Bill vorbei und dann stehen sie mit ihren Geiseln nebeneinander.
Sie treten ein Stück vor, damit die anderen zwei auch heraus können,
die dann sofort die Pferde loszubinden. „Zurück!“ ruft Bill,
„zurück, zurück!“ Er feuert zweimal in die Luft.
„Gut Leute, zurück!“, sagt der Sheriff, „aber bleibt
auf eurem Posten!“
„Jeff, kümmere dich um ihn und gib mir Feuerschutz wenn
nötig“, sagt Jim und wenige Augenblicke später jagen sie
davon.
Dexter ist zwar schon lange tot, doch Bill denkt noch immer an ihn. Er denkt
auch an Parker. Seit seinem Tod hatten sie sehr wenig Zeit gehabt, sich damit
auseinander zusetzen. Für Jim und Jeff ist das offensichtlich kein
Problem mehr und Jane kennt er noch nicht gut genug, um genau sagen zu
können, was in ihr vorgeht. Aber für Bill ist das noch nicht
abgehakt. Er ist schon immer sensibel gewesen und wäre es nach Jeff
gegangen, wäre er deswegen zu Hause geblieben. Es war niemand geringerer
als Dexter, der ihn dabei haben wollte. Aus dem einfachen Grund, weil man sich
auf ihm verlassen kann. Deshalb fällt Bill die meisten Entscheidungen, er
hat das Talent, neue Situationen richtig einzuschätzen. Wenn er
sagt, dass es nicht sicher ist, stimmt es meistens.
Dexter wusste das. Er wusste aber auch, wie sensibel Bill ist und hatte ihn
immer als Kind unter seine Fittiche genommen, wenn seine Brüder ihn
ärgerten. Und zwar solange, bis sie alle allmählich reifer wurden
und Bill keinen Schutz mehr brauchte. Jim und Jeff haben zwar noch immer
Schuldgefühle, weil sie ihn als Kinder so fertig gemacht haben. Bill hat
ihnen aber schon längst verziehen, seitdem ist das Verhältnis
zwischen den Brüdern freundschaftlich. Als sie klein waren hat Jim immer
zu seinem älteren Bruder Jeff, aufgesehen und ihm nachgeeifert. Parker
hat sich eher zurückgehalten und wollte mit all dem nichts zu tun haben
und Bill war der perfekte Sündenbock. Deshalb hat Bill zu Jim, Jeff und
Parker nie ein besonders brüderliches Verhältnis gehabt, obwohl sie
sich irgendwann ausgesprochen haben. Dexter geriet auch in die Schusslinie von
Jim und Jeffs Schikanen, da dieser sich immer schützend vor Bill stellte.
Allerdings hatte er das Ganze viel besser verarbeiten können. Dexter war
bis zu seinem Lebensende Vermittler zwischen ihnen und jetzt, da er tot ist,
hat Bill das Gefühl, dass ihm ein wichtiger Teil fehlt. Bill hatte sich
Jane anvertraut und ihr alles erzählt.
Jeff hat die Hand vor das Gesicht geschlagen und lässt zu, dass alle
sehen können, was in ihm vorgeht.
„Ich habe es mir vermasselt. Ich habe ihm immer gefallen wollen“,
sagt Jim und sieht zu Jeff rüber.
„Was habt ihr getan?“ fragt Jane.
„Ihn … eingesperrt, uns verabredet und ihn dann …“
„Und mich dann nicht mitgenommen. Jeff, Ich habe es nie ganz
verarbeitet. Aber du versuchst, das Vertrauen wieder herzustellen“, sagt
Bill.
„Können wir wieder Brüder sein? Bitte“, fleht Jeff. Doch
Bill kann nicht. Sie umarmen sich aber trotzdem und reiten und setzen
ihre Reise fort..
15
Es ist unbestreitbar, dass die Prärie seit jeher eine Faszination in uns
auslöst. Wir verbinden damit das Gefühl von Unabhängigkeit,
Grenzenlosigkeit und Freiheit. Wir träumen seit jeher von Cowboys und
Indianern, von Schießereien und Helden. Doch was ist mit jenen, die auf
der anderen Seite stehen? Mit denjenigen, die den Abzug nicht betätigen,
weil sie Helden sind? Wir sind hier, um ihre Geschichten zu ergründen.
Wir stehen jenseits von Gut und Böse, jenseits von Tag und Nacht. Wir
malen nicht in schwarz und auch nicht in weiß. Wir sind hier, um die
Geschichten zu erfahren, die in den endlosen Weiten der Prärie verborgen
liegen. Und durch sie erfahren wir mehr über uns.
Der Himmel ist bewölkt, als sie im Galopp durch die Prärie reiten
und am Nachmittag fallen schon die ersten Tropfen. Als es so stark regnet,
dass es unmöglich geworden ist weiter zu reiten, machen sie eine Rast.
Sie haben Jane und Jeffs Jacke über ein paar Äste eines Baumes
gehängt und sitzen jetzt darunter. Irgendwann fühlen sie sich nicht
mehr sicher, so lange an einer Stelle zu verweilen und reiten weiter. Erst am
Abend machen sie erneut einen Halt, allerdings ohne Feuer, da es noch immer
regnet.
„Wir haben Whiskey, Brot und noch ein paar andere Kleinigkeiten“,
verkündet Bill.
„Was? Sonst nichts?“ fragt Jeff. Er öffnet die Flasche und
trinkt einen Schluck.
„Nein“, Bill sieht ihn an. Sie machen sich daran, die wenigen
Sachen untereinander aufzuteilen.
„Na, so wie es aussieht, werden wir heute wenigstens nicht Hunger
leiden“, sagt Jim.
„Jane?“ Jeff sieht sie besorgt an.
„Ich habe nur gerade an den kleinen Jungen gedacht“, entgegnet
sie.
„Es verfolgt dich“, sagt Bill.
„Ein wenig“, Jane blickt in die Runde.
„Hier“, Bill reicht ihr die halb volle Flasche. Da sie zu weit
voneinander entfernt sind, muss Jim die Flasche an sie weitereichen.
„Danke“, Jane nimmt sie entgegen und trinkt einen Schluck.
„Als ich damals den jungen Mann tötete, da hatte ich Bill, Jim, Dex
und Parker, die mir geholfen haben“, sagt Jeff. „Es ist nicht
wahr, was Jim gesagt hat, dass ich mich einmal betrunken habe und dann
war’s das. Es hat seine Zeit gedauert.“ Er lächelt sie an.
„Heute ekelt er sich nicht mehr vor sich selber, wenn er daran
denkt“, erwidert Jim.
„Wir sind Outlaws, Jane. Wir bewegen uns außerhalb von Recht und
Gesetz. Du wirst nie darüber hinwegkommen, wenn du das nicht
akzeptierst.“ Jeff streckt die Hand nach der Flasche aus.
„Hat dir das geholfen um darüber hinwegzukommen?“ Jane reicht
ihm den Whiskey.
„Ja. Es hat gedauert. Aber ich habe gelernt das, was ich bin
anzunehmen“, sagt er. Das einzige, für das Jane je Verantwortung
übernommen hatte, war für ihren eigenen Haushalt und obwohl sie
schon so lange mit den Clarence reist, hatte sie sich nie Gedanken
darüber gemacht.
Es regnet die ganze Nacht hindurch, erst am frühen Morgen klart der
Himmel allmählich auf.
16
Wenn man solange unterwegs ist, kann man die Zeit sehr schnell vergessen.
Während die Clarence-Brüder mit Jane in der Prärie unterwegs
waren, sind die Jahre durchs Land gezogen. 1861 kommen Gerüchte über
einen bevorstehenden Krieg auf und die Clarence merken, dass etwas vor sich
geht.
Der Winter ist fast vorüber und sie haben sich in einer kleinen Stadt in
Süden von Alabama niedergelassen. Jim und Jeff sind drauf und dran, sich
diesem Krieg, sollte es einen geben, anzuschließen. Sie erzählen
ihren beiden Gefährten von ihrem Vorhaben und ernten nicht gerade Lob
dafür. Bill, Jim, Jeff und Jane sitzen im Saloon der Stadt und
führen eine hitzige Debatte.
„Deswegen habt ihr uns hierher gelockt?“ fragt Jane. „Weil
ihr kämpfen wollt?“
Jim trinkt sein Glas leer und schenkt sich aus der Flasche, die er zuvor
bestellt hatte, neuen Whiskey ein. „Jane. Das ganze Land ist im Aufruhr
und wir müssen für das einstehen, woran wir glauben!“
„Ich bin nicht besorgt um irgendwelche Werte. Ich weiß sehr wohl,
warum ihr das wollt“, sagt Jane, „Mir geht es um euch. Was ist
wenn ihr umkommt?“
„Jane“, sagt Jeff. „Ich verstehe deine Besorgnis und ich
weiß, du hast Angst. Aber jetzt ist der Moment zu zeigen, auf wessen
Seite wir wirklich stehen! Wir marschieren da raus. Wir kämpfen und wir
verteidigen unsere Werte!“
Jane erhebt sich. „Ihr marschiert da raus und werdet sterben“,
dann verlässt sie den Tisch.
Bill geht ihr nach. „Jane? Warte!“ Er setzt sich neben sie auf die
Stufen, die zum Saloon führen, während Jane das Gesicht in den
Händen vergraben hat.
„Was ist, wenn sie nicht mehr zurückkommen?“, fragt Jane und
sieht Bill verzweifelt an. „Dieser Krieg wird alles verändern. Und
ausserdem wissen die beiden, was sie tun.“ Bill schließt Jane in
die Arme und sie lässt ihn gewähren.
„Glaubst du, sie tun es wirklich?“ fragt sie und hofft, dass Bill
genau so darüber denkt, wie sie selbst.
„Ich glaube ja und nichts auf der Welt kann sie an diesem Entschluss
hindern“, erwidert er und sie löst sich aus seiner Umarmung.
„Was?“ fragt Bill. Doch Jane beachtet ihn nicht.
Es ist nicht Jim und Jeffs Einstellung, die Jane verzweifeln lässt. Es
ist die Tatsache, dass die Ankündigung in den Krieg zu ziehen so
plötzlich kommt. Jane ist wütend, beschließt aber dennoch, mit
Bill in den Saloon zurückzukehren.
„Wann wollt ihr los?“ fragt sie, nachdem sie sich wieder gesetzt
hat.
„In drei, vier Tagen“, antwortet Jeff und trinkt das Glas, das vor
ihm steht, leer.
„Und ihr seid euch sicher, nehme ich an.“ Bill trinkt sein Glas
ebenfalls leer und schenkt sich erneut ein.
„Ja“, sagt Jim. „jetzt schon.“ Bill, dem die Lust am
Whiskey vergangen ist steht auf und verlässt den Saloon. Kurz darauf geht
auch Jane und Jeff nimmt Bills Glas. Er trinkt es aus und dann verlassen auch
er und Jim die Bar.
Sie schlafen ausserhalb der Stadt, da sie sich keine Wohnung leisten
können. Was sie an Geld haben, erspielen sie sich beim Pokern oder
verdienen sie bei kleinen Gelegenheitsarbeiten. Am nächsten Morgen ist
Jane früh wach. Sie entfernt sich leise, um die anderen nicht zu wecken
und geht in Richtung Stadt. Jane schlendert stadteinwärts die
Hauptstraße entlang und als sie zurückkommt, sind Jeff und Bill
bereits wach.
„Wo ist Jim?“ fragt sie.
„Essen jagen“, antwortet Bill. „Und wo warst du?“
„Unterwegs.“
In diesem Moment kommt Jim angeritten, steigt ab und zieht einen Vogel aus
seiner Satteltasche.
„Frühstück“, verkündet er.
Nach einer Stunde lassen sie sich den Vogel schmecken und unterhalten sich
über Jim und Jeff und den Krieg. Jane gibt ihnen zu verstehen, dass sie
es wohl so hinnehmen muss und sie nicht mehr wütend auf die beiden ist.
„Deine Erlaubnis haben wir nie gebraucht“, lächelt Jim.
„Das hab ich ja auch nie behauptet“, gibt Jane und lächelt
zurück.
Gegen Mittag gehen sie in den Saloon um einen Kaffee zu trinken und am Abend
sitzen sie alle in ihrem Camp vor der Stadt und reden.
„Wir brechen morgen auf“, lässt Jeff die Bombe platzen.
„Ihr könnt es aber nicht erwarten uns loszuwerden“, sagt
Jane.
„Jane“, sagt Bill, „komm, lass.“ Sie sieht ihn nur an.
„Wir kommen wieder“, verspricht Jim.
Am nächsten Tag machen sich alle auf den Weg, um Jeff und Jim zum Bahnhof
zu begleiten. Dort angekommen kaufen sie Fahrkarten. Jetzt stehen sie am
Bahnsteig und warten auf den Zug, der gleich einfährt.
„So, hier trennen wir uns also“, sagt Bill und nimmt Jeff in den
Arm.
„Es ist nicht für immer“, meint dieser, löst sich aus
Bills Umarmung und geht zu Jane, die ihn ebenfalls in die Arme schließt.
„Passt auf euch auf“, sagt sie, dann nimmt sie auch Jim in die
Arme.
„Wir kommen wieder“, wiederholt er und küsst Jane auf die
Wange. Dann ist der Zug da und sie steigen ein.
Jim und Jeff setzen sich ans Fenster, von wo sie Bill und Jane sehen
können, die noch immer auf dem Bahnsteig stehen.
„Sie sollten gehen“, sagt Jeff, während er aus dem Fenster
guckt.
„Sie wollen sich verabschieden“, Jim sieht seinen Bruder an.
„Mach dir keine Sorgen. Sie wissen, was sie tun.“ Er sieht zu den
beiden hinunter. Bill sagt gerade etwas zu Jane, die sehr unglücklich
wirkt.
Jim macht eine Handbewegung, um den beiden zu signalisieren, dass sie gehen
sollen.
„Geht!“ sagt er dabei, doch sie bleiben noch immer am Bahnsteig
stehen. Eine gefühlte Ewigkeit später fährt der Zug ab und Bill
winkt ihnen gemeinsam mit Jane hinterher. Die beiden winken zurück.
„Das ist ein neues Kapitel, Bruder“, sagt Jim. Jeff sieht aus dem
Fenster.
„Das macht mir nichts aus“, entgegnet er.
„Hast du Angst?“ fragt Jim.
„Nein“, erwidert Jeff kalt. „Irgendwie muss das Leben enden.
Wenn es auf dem Schachtfeld endet, was soll’s?“ Jim atmet tief
durch. Manchmal geht ihm die unerschütterliche At seines Bruders auf die
Nerven. Aber er sagt nichts. Nicht einmal, dass er Angst davor hat zu sterben.
Bill und Jane sind auf dem Rückweg. Sie führen Jim und Jeffs Pferde
am Halfter und unterhalten sich.
„Ich weiß“, sagt Jane, „aber ich hatte in diesen
Dingen nie die Nerven ruhig zu bleiben, Bill.“
„Ja, aber für mich ist es auch nicht leicht. Nur ich nehme es
einfach so wie es kommt.“ sagt Bill.
„Du weißt, was das bedeutet?“ fragt Jane betrübt.
„Schon. Aber ändern können wir es beide nicht.“ In
der Stadt angekommen, reiten sie zum Mietstall, dessen Besitzer sie schon
etwas kennen, und fragen, ob sie Jim und Jeffs Pferde für die Zeit, in
der die beiden abwesend sind, dort unterbringen können.
„Klar, macht nur“, lautet die Antwort. „Bringt mir aber ab
und zu eine Flasche Whiskey mit, ja?“ Dann ziehen Bill und Jane weiter.
Das neue Kapitel beginnt für die beiden Brüder in Huntsville.
Nachdem sie sich durchgefragt haben, sind sie irgendwann nach einer schier
endlosen Suche zu dem Militärstützpunkt gelangt, wo sie sich als
neue Rekruten vorstellen. Nach einer kurzen Musterung werden sie für
diensttauglich erklärt und aufgenommen. Bald schon würden sie sich
dem amerikanischen Bürgerkrieg auf Seiten der Konföderierten
anschließen.
Es ist ein Abend wie jeder andere, nur dass Bill und Jane zum ersten Mal nur
zu zweit an ihrem Feuer sitzen. Sie essen ein Stück Wild, lauschen in die
Ferne und denken an Jim und Jeff, die jetzt irgendwo da draußen sind.
„Und plötzlich sind wir allein“, unterbricht Jane die Stille.
„Es ist nicht so, dass ich es ihnen nicht zugetraut habe“, meint
Bill. „Dieser Konflikt hat sie aufgestachelt.“
Jane sieht ihn an. „Sie hätten ruhig etwas sagen
können.“
„Ja, aber ich meine, niemand schreibt uns vor, wie wir leben sollen. Sie
wollen kämpfen, sie wollen zeigen, dass ihnen unsere Art zu leben wichtig
ist“, sagt Bill.
„Ich weiß.“ Jane sieht wieder zum Feuer. Es gibt viele, die
sich in diesen Tagen als Freiwillige melden und riskieren nie mehr
zurückzukehren. Jim und Jeff sind keine Ausnahme. Bill erklärt ihr,
dass es, zumindest bei Jeff, normal ist, dass er solche Entscheidungen alleine
trifft. Doch es ärgert sie trotzdem, wie sich die beiden verabschiedet
haben und damit ist sie nicht allein. Auch Bill scheint sich damit zu
beschäftigen, obwohl er immer vor Jane so tut, als könne er deren
Verhalten nachvollziehen. Als Jane am Abend den Saloon betritt, sitzt Bill mit
einen Fremden an einem der Tische und unterhält sich. Jane
stößt dazu.
„Was gibt’s?“ fragt sie.
„Joe war so freundlich uns einzuladen“, entgegnet Bill.
„Joe“, sagt der Fremde und reicht ihr die Hand. „Ich habe
schon viel von euch gehört.“
Jane nimmt die ausgestreckte Hand entgegen. „Freut mich, Joe“,
sagt sie.
„Eure Partner sind also in den Krieg gegangen“, sagt Joe.
„Ja“, gibt Bill zurück.
„Na, ich habe eine Familie zu versorgen. Ich zieh bestimmt nicht in den
Krieg. Sie wissen nicht, dass ich hier mit euch bin. Es würde ihnen
sicher nicht gefallen. Sie denken, ich bin allein hier.“
„Es gefällt so einigen nicht, dass wir hier sind“, meint
Bill.
„Manchen gefällt es nicht, nachdem was ich so höre. Aber den
meisten ist es egal“, gibt Joe zurück.
„Die Leute, denen es nicht passt, bleiben bestimmt unter sich. Ich
jedenfalls hab davon noch nicht viel mitgekriegt“, sagt Jane und
bestellt ein Glas und eine Flasche Whiskey.
„Ja das stimmt, sie meiden den Kontakt.“ Der Kellner kommt mit
Glas und Flasche. Jane schenkt sich Whiskey ein.
In dieser Nacht wird Bill wach, weil Jane sehr unruhig ist und ihn im Schlaf
von seinem Platz verdrängt hat. Bill berührt ihre Wange und beugt
sich über sie.
„Jane“, sagt er leise. „Jane.“
„Jim. Jeff“, murmelt sie.
„Jane, ganz ruhig. Es ist alles gut.“ Bill redet solange auf sie
ein, bis Jane sich allmählich wieder beruhigt, dann legt er sich wieder
hin und bald darauf schläft auch er wieder.
Am nächsten Morgen sitzen sie zusammen am Feuer.
„Was war denn diese Nacht los? Was hast du geträumt?“ fragt
Bill.
Sie sieht ihn fragend an. „Was?“
„Du warst sehr unruhig“, sagt Bill.
„Ich habe geträumt, dass sie tot sind und man ihre Särge in
einem Trauerzug durch die Straßen getragen hat“, antwortet sie.
„Es war furchtbar.“
„Hab ich gemerkt“, sagt Bill. „Du hast mich geweckt.“
„Bill?“
„Ja?“
„Was machen wir, wenn …“ beginnt Jane, doch Bill nimmt sie
in den Arm.
„Hör auf“, sagt er sanft, „ihnen passiert schon nichts.
Sie sind viel zu erfahren.“ Bill weiß nicht, ob er mit diesen
Worten auch sich selbst überzeugen will.
Fünf Wochen später marschieren Jim und Jeff mit ihrer Einheit in
Richtung Norden nach Tennessee. Sie haben ihre Colts gegen Bajonetts und ihre
Cowboykluft gegen Uniformen eingetauscht. Die Truppe ist motiviert und alle
sind der Auffassung, dass sie die Nordstaatler schlagen würden. Mit
Selbstbewusstsein, Mut und einer gehörigen Portion Optimismus begeben sie
sich nun auf die lange Reise, die so oder so das Land für immer
verändern sollte.
Eigentlich dachte Jane, sie wäre stärker. Aber mit diesem
plötzlichen Patriotismus ihrer beiden Freunde hat sie nicht gerechnet. Es
ist die Ungewissheit, die Bill und sie freundschaftlich enger zusammen
rücken lässt. Doch weitere zwei Wochen später ist es nicht nur
Freundschaft. Jane beginnt Bill zu mögen; sie beginnt ihn so zu
mögen, wie man einen Menschen vom ganzem Herzen mögen kann. Auch er
erwidert ihre Gefühle. Nun sitzen sie in ihrem Camp und ohne es zu
merken, sind sie so dicht aneinander gerückt, dass sich ihre Arme
berühren.
„Wieso sind wir uns nie näher gekommen?“ fragt sie ihn.
„Es gab nie eine Gelegenheit,“ erwidert er.
„Ich weiß nicht“, gibt Jane zu, „ich denke nur, dass
es schön sein könnte.“
Bill dreht sich zu ihr um und sieht sie an. „Noch ist es nicht zu
spät.“
„Nein“, sie sieht ihn ebenfalls an. „Noch nicht.“
„Jane“, er streichelt ihre Wange. „Ich will … ist es
schlimm, wenn ich dich küsse?“ Sie schüttelt nur den Kopf.
Unfähig, irgendwas zu sagen. Dann küsst er sie.
Das Schlacht dauert nun schon ein paar Stunden an. Jim und Jeff haben es
geschafft diesen Tag bisher zu überleben. Ihre Kompanie nicht. Die
Verluste sind nicht besonders hoch, aber es sind auch nicht wenige in diesen
paar Stunden umgekommen. Jeff gibt gerade eine Schuss ab und trifft einen
Gegner, während Jim dabei ist, sein Bajonett neu zu laden. Er liegt auf
dem Boden, als sich Jeff neben ihn niederwirft.
„Treffer“, sagt Jeff.
„Ruh dich bloß nicht darauf aus“, erwidert Jim, schnellt in
die Höhe und schießt. Das Gefecht geht bis zum Abend und
schließlich in die Nacht hinein. Am frühen Morgen ist Stille und
Jim kann gemeinsam mit Jeff erst mal durchatmen. Die beiden sitzen vor
dem Zelt von Jim und reden, als sich ein Soldat namens Derek zu ihnen gesellt.
„Zigarette?“ fragt er.
„Ja bitte“, Jeff lässt sich eine anstecken und kurz darauf
lässt auch Jim sich eine aushändigen.
„Darf ich?“ fragt er. Doch anstatt auf eine Antwort zu warten,
setzt er sich und sieht sie an.
„Wir haben gerade darüber geredet, wie das Leben verlaufen
kann“, sagt Jim.
„Und? Seid ihr in dieser Frage weiter gekommen?“ fragt Derek und
steckt sich ebenfalls eine Zigarette an.
„Alles, was wir bisher kannten, war die Steppe, die Flucht und die
ständige Gefahr zu sterben“, sagt Jim.
„Genau wie hier. Ohne die Steppe und die Flucht natürlich“,
erwidert Derek und Jeff lacht. Dann fällt ein Schuss und sie beziehen
wieder ihre Stellung an der vordersten Linie.
„Jetzt geht es los. Kommt schon“, sagt Jeff, das Bajonette in
Position. Er schießt. und trifft. Am Nachmittag stehen beide Seiten
erneut unter Beschuss.
Bill und Jane sitzen im Saloon und warten noch immer auf eine Nachricht der
Brüder.
Bill hält Jane im Arm. „Es kommt bestimmt bald was“, versucht
er sie zu beruhigen.
„Nein“, gibt sie zurück, „es ist nicht das.“
„Was denn?“
„Ich stelle mir gerade vor, wie es dort sein muss.“ Sie legt den
Hut auf den Tisch und schmiegt ihren Kopf an Bills Schulter.
„Denk am besten gar nicht dran“, sagt Bill. „Ich versuche es
auch nicht zu tun.“
„Ja, tut mir leid“, sagt Jane. Nachdem sie dann am späten
Nachmittag dem Besitzer des Mietstalls eine Flasche Whiskey besorgt haben,
reiten sie in ihr Camp zurück.
17
Dreieinhalb Jahre sind seither vergangen. Jahre des Krieges, die niemanden
kalt ließen. Die Niederlage der Südstaaten zeichnet sich bereits
ab.
Jim und Jeff haben sich mit einem Soldaten namens Sam Dickenson in ihrer
Einheit angefreundet. Sam sagt, er wolle nach dem Krieg nach Frankreich, weil
er dort Freunde habe und fragt Jim und Jeff, ob sie ihn dann begleiten
würden.
Doch bevor es dazu kommt, verliert Sam ein Bein. Die beiden Brüder haben
ihren Offizier dazu überredet, sie kurz zu entschuldigen und gehen ins
Lazarett. Sam ist noch immer ziemlich schwach. Doch er lächelt, als er
die beiden sieht.
„Jim. Jeff. Wie läuft es da draußen? Habt ihr alles im Griff?
“ fragt er.
„Ja. Haben wir“, antwortet Jeff. „Was ist mit dir?“
Sam schüttelt den Kopf.
„Frag nicht“, sagt er und sieht wieder an die Zeltdecke.
„Sam“, sagt Jim und sieht ihm besorgt an.
„Ich hab’s mir überlegt. Ich fahre nicht. Ich fahre wieder
nach Hause zu meiner Verlobten“, sagt Sam.
„Nein“, entgegnet Jeff. „Komm mit.“
„Fahrt. Es wird euch dort gefallen. Jacques und Angėlique sind sehr
nett“, sagt Sam.
„Wir sprechen kein Französisch“, sagt Jeff und nach ein paar
Minuten, in denen sie keine Antwort erhalten haben, verlassen sie das
große Zelt und gehen wieder an die Frontlinie.
Ein halbes Jahr später ist der Krieg verloren. Sie besuchen Sam, der
ihnen seine Adresse gegeben hatte, zu Hause und er organisierte die Reise
für sie. Wenig später sitzen Jim und Jeff wieder in ihrer alten
Cowboykleidung und mit einem Papier, auf dem die Adresse steht, ausgestattet,
auf einem Dampfer in Richtung Europa. Sie waren kurz davor, die Reise
abzusagen und zurückzukehren. Doch dann, nach Wochen, sind sie endlich am
Ziel.
Ihr Ziel ist Paris. Die beiden treffen einen Mann, der so freundlich ist,
ihnen die Adresse auf ihrem Zettel zu zeigen.
Die vier Jahre, die Bill und Jane ohne ein Lebenszeichen von ihren beiden
ehemaligen Mitstreitern verbrachten, haben sie nicht nur enger
zusammenrücken lassen. Sie haben auch dafür gesorgt, dass sie
langsam anfangen, eine trotzige Gleichgültigkeit gegenüber Jim und
Jeff zu empfinden, doch manchmal bricht es noch immer aus ihnen heraus.
Seit dem frühen Vormittag ist Bill im Saloon und Jane kann es ihm nicht
verübeln. Er hat an diesem Tag einfach abgeschaltet und als Jane an
diesem Abend von einem Ausritt durch die Stadt ebenfalls in den Saloon geht,
ist Bill betrunken. Er sitzt einfach nur da, unfähig sich neuen Whiskey
einzuschenken.
„Hallo, Jane“, brabbelt er. Sie bestellt ein Glas und schenkt sich
ebenfalls ein.
„Ich bin fast dazu geneigt, dasselbe zu tun“, seufzt sie.
„Obwohl ich den beiden eigentlich keine Träne nachweinen
wollte.“
„Dann trink’“, meint Bill.
Sie trinkt ihr Glas in einem Zug aus und schenkt sich erneut ein.
„Ich schwöre, die beiden können was erleben, falls sie jemals
wieder zurückkommen.“ Sie nippt an ihren Glas und lässt es
sinken.
„Verdammt! Wie konnten die beiden uns das nur antun?“ Bill sieht
sie an.
„Ja, auf Jim und auf Jeff!“ Bill schenkt sich Whiskey ein,
verschüttet dabei etwas und trinkt in einen Zug aus.
Vier Stunden später sind sie wieder im Camp und während Bill
Schnapswolken in die Luft bläst liegt Jane, auch nicht mehr
nüchtern, auf dem Rücken und betrachtet die Sterne. Sie singt ein
Lied über Verlust und Schmerz. Ein Lied, dass sie von früher kennt
und immer dann anstimmt, wenn sie traurig ist. Die beiden liegen bis zum
Mittag in ihrem Camp und Jane ist als erste wieder auf den Beinen.
„Geh schon mal, wenn du willst“, sagt Bill während er sie
halb verschlafen und halb verkatert ansieht. „Ich komme nach.“
Doch sie bleibt bei Bill und am Nachmittag begeben sie sich in die Stadt und
erledigen bei der Gelegenheit ein paar wenige Einkäufe.
Als Jim und Jeff zum Haus von Jacques und Angėlique kommen, sind diese
sehr überrascht über den Besuch. Doch als Jim das Stück Papier
vorzeigt, das neben der Adresse auch noch eine Notiz an die beiden Gastgeber
enthält, ist alles klar.
„Vous sont les américain. Les amis de Sam?“ Jim und Jeff
gucken sich an.
„Américain?“ fragt Jim.
„Oui, de Amérique.“
„Ah, Amerika“, sagt Jeff. Er zeigt auf sie beide und dann zum
Eingang. Angélique tritt zur Seite und sie treten ein.
„Qui est la?“ fragt eine männliche Stimme, die offensichtlich
Jacques gehört.
„Est Jim et Jeff. Amis de Sam“, sagt Angėlique, nimmt Jim das
Papier ab und zeigt es Jaques.
„Veux-tu boire quelque chose?“, fragt Jacques. Als er sieht, das
die beiden ziemlich perplex wirken, hebt er die Hand und tut so, als
würde er trinken.
„Whiskey?“ fragt Jeff. Angélique zeigt ihnen den Weg ins
Wohnzimmer. Jim und Jeff nehmen die Hüte ab und folgen ihr. Zehn Minuten
später sitzen sie bei Whiskey auf Sesseln um einen viereckigen Tisch.
„Texas“, fragt Angélique.
„Kentucky“, sagt Jim. „Kentucky?“
„Oui“, sie nickt.
„Kentucky, Texas, Oklahoma …“ fügt Jeff hinzu.
„France?“, fragt Jacques und deutet mit dem Zeigefinger auf den
Boden.
Jim schüttelt den Kopf, „Nein.“
Obwohl sie sehr erschöpft sind, lässt Jim sich Papier und Feder
geben und schreibt einen Brief an Bill und Jane, den er am nächsten Tag
versenden will. Danach ruhen sie sich aus und am späten Nachmittag entern
sie die nächste Bar. Die Bar ist nicht weit von ihrem neuen
Aufenthaltsort entfernt und Jim, Jeff, Jacques und Angélique suchen
sich einen Platz an der Theke, weil kein Tisch mehr frei ist.
„Whiskey!“ ruft Jim dem Barkeeper zu und hält zwei Finger
hoch. Die anderen beiden bestellen jeweils ein Bier. Als alle bedient sind,
prostet Jacques ihnen zu.
„Tchin-tchin!“, ruft er. Jim und Jeff prosten zurück.
„Weißt du, was ich an dieser Stadt schon jetzt mag!?“ fragt
Jeff seinen Bruder. „Die Atmosphäre hier!“
Sie trinken bis zum frühen Abend, als sich Angélique von den
anderen verabschiedet. Jim und Jeff bleiben noch eine ganze Weile, dann
verlassen auch sie zusammen mit Jacques, der sie stützen muss, die
Bar.
Jacques hat ihnen aus Platzmangel ein Doppelzimmer improvisiert, das aus einem
Bett mit einem Nachttisch und einer Matratze besteht, die auf dem Boden liegt.
Doch Jim und Jeff hätten genau so gut auf der Strasse schlafen
können, als Jacques und sie die Bar verlassen haben, sie hätten es
nicht bemerkt. Am Nachmittag kommen sie ins Esszimmer gekrochen und am Abend
geht Jim zusammen mit Jacques zur Poststelle, um den mittlerweile adressierten
Brief zu versenden, während Jeff alleine bei Angélique geblieben
ist. Jeff zeigt auf sich selbst, deutet mit den Daumen nach draußen und
tut so, als würde er trinken. Er zeigt mit den Fingern eine sechs. In dem
Moment kommt Jim mit Jacques zurück.
„Alles erledigt“, sagt er zu Jeff.
„Und was jetzt?“ erwidert dieser. Jeff zeigt auf sich und dann auf
Jim. „Paris?“ er deutet mit der rechten auf sein rechtes Auge.
„Bien sûre“, sagt Jaques, der noch immer seinen Mantel
trägt. Er zeigt auf Jims Revolvergurt und sieht ihn an.
„Jeff, deine Waffe und dein Gurt“, sagt Jim.
„Leg’ die Sachen in unser Zimmer“, meint Jeff und
überreicht Jim den Gurt.“ Leg ihn in die Schublade!“ ruft er
ihm nach. Kurze Zeit später fahren sie mit der Kutsche durch das
nächtliche Paris.
Bill und Jane haben noch immer nichts von Jim und Jeff gehört, als sie am
selben Tag mit dem letzten Geld, das sie zusammengekratzt haben, eine Flasche
Whiskey kaufen und zum Mietstall reiten.
„Wir müssen uns überlegen, wie wir das mit dem Geld
machen“, sagt Bill zu Jane. „Wir sind da“, sagt er und zeigt
geradeaus. Am Mietstall angekommen, steigen sie ab und führen ihre Pferde
hinein.
„Hallo Freunde“, werden sie begrüßt.
„Wir haben was für dich“, Bill holt den Whiskey aus der
Satteltasche.
„Ah, danke“
„Ist eine Kleinigkeit, Frank“, antwortet Jane.
Frank öffnet die Flasche und trinkt einen Schluck, „wollt ihr auch
was? Ich hab gehört, dass ihr immer noch nichts von euren beiden
Brüdern gehört habt.“
„Richtig“, sagt Bill.
„Der Teufel soll mich holen, wenn ich denen das jemals verzeihen
werde“, schimpft Jane.
„Jane, bitte.“ Bill geht zu ihr, legt den Arm um sie und
küsst sie sanft.
„Ja, ich weiß wie du über sie denkst. Das ist wohl etwas, das
man nur versteht, wenn man Geschwister hat. Ich kann da nicht mitreden.“
Sie drückt ihm ihrerseits einen Kuss auf die Lippen.
„Danke Frank, gerne“ sagt Bill und nimmt die Flasche an.
18
Jacques und Angélique sind mit ihren Besuchern in einem Restaurant
gewesen, weil Jacques darauf bestanden hat, den beiden Brüdern die
französische Küche näherzubringen. Jetzt sitzen sie in einen
Café. Jim und Jeff haben sich ein Bier gegönnt, die anderen
trinken Rotwein.
„Wetten, du würdest kein Glas Rotwein austrinken?“ fragt
Jeff, der neben Jim sitzt.
„Geb mir ein Glas und ich trink es aus“, antwortet Jim.
„Quoi?“, fragt Angélique und sieht ihn fragend an. Jeff
zeigt auf das Glas, das sie vor sich auf den Tisch stehen hat und dann auf
Jim. Kurz darauf sieht er, daß der Kellner zu ihren herüberguckt
und hebt die Hand.
„He, lass mich doch erst mal austrinken“, protestiert Jim.
„Dann mach doch“, lacht Jeff und bedeutet dem Kellner, der zu
ihnen gekommen ist, dass er noch ein Glas Wein möchte.
„Du spinnst doch“, sagt Jim und trinkt sein Bier in einem Ruck
aus.
Als der Kellner den Wein bringt, probiert Jim einen Schluck und verzieht das
Gesicht. Nach einer halben Stunde ist der Wein leer und auch wenn die zwei
Brüder das eigentlich nicht geplant haben, sind sie drei Stunden und
etliche Flaschen später betrunken. Und sind sie nicht hierher gekommen,
um den Krieg und alles zu vergessen? Im Grunde können sie jetzt
verstehen, warum Jane einst das Weite gesucht hat. Irgendwann würden sie
zurückkehren, aber zuerst wollen sie einfach nur leben.
„No, no. Vin“, sagt Jacques.
„Vin“, bekommt Jim schließlich heraus.
„Bravo“, jubelt Angélique. Jim zeigt mit den Fingern eine
zwei, dann hebt er das Whiskeyglas, das vor ihm steht.
Un autre Whiskey?“, fragt Jacques und zeigt auf das Glas.
„Oui“ sagt Jeff. „Whiskey.“
In dieser Nacht liegen sie aneinander gekuschelt an der Glut des Feuers.
„Jane“, flüstert Bill ihr ins Ohr.
„Ja?“
Bill drückt ihr die Brust, „der Zeitpunkt mag vielleicht
ungünstig sein, aber wir haben uns nie richtig …“
Jane dreht sich zu ihn um und ihre Hand wandert an ihm herab. „Nein,
haben wir nicht.“ In dieser Nacht gehen sie zum ersten Mal weiter als
sie es in den früheren Nächten getan haben.
19
Die Flügeltür geht auf und vier Männer kommen in den Saloon, in
dem Bill und Jane sitzen und Whiskey trinken. Einer der Männer erkennt
die beiden sofort und steuert mit seinen Leuten auf sie zu.
„He, ganz ruhig“, sagt der eine, als Bill aufsteht und seine Waffe
ziehen will. „Wir tun euch schon nichts. Ich bin Harold.“
„Und?“ fragt Bill.
„Lust, richtig was zu verdienen?“ Harold setzt sich auf einen
freien Stuhl.
„Wir wollten uns hier eigentlich niederlassen“, sagt Jane.
„Was?“ Harold zieht die Augenbrauen hoch.
„Wo sind die andern zwei?“ fragt der andere.
„In Frankreich“, antwortet Bill.
„Wer sind deine Freunde“, will Jane wissen.
„Das sind William, Dick und Jones“, sagt Harold und trinkt einen
Schluck aus der Flasche, die auf den Tisch steht.
„Also“, fragt Jones, „seid ihr interessiert?“
„Nehmen wir mal an, wir wären es. Was wäre das für eine
Sache?“ fragt Bill. Jane guckt ihn überrascht an.
„Ein Zug“, sagt Harold.
„Wir haben noch mehr Männer. Wir holen sie in ein paar Tagen
ein,“ fügt Dick hinzu.
„Nein,“ flüstert Jane Bill ins Ohr. „Nicht ohne die
anderen.“
„Bleib ruhig“, flüstert er zurück.
„Wir verfolgen den Plan schon eine ganze Weile“, setzt Harold das
Gespräch fort. „Wenn ihr euch uns anschließen wollt, kriegt
ihr einen großzügigen Teil der Beute.“
„Wo finden wir euch?“ fragt Bill.
„Hier“, antwortet Harold.
Zurück im Camp machen sie sich über die Reste ihres Mittagessens
her. Jane sieht Bill an. „Glaubst du wirklich, dass wir da mitmachen
sollen?“
„Weiß nicht. Es hört sich auf jeden Fall gut an“, sagt
Bill.
„Ja, gut. Aber das würde bedeuten, dass wir hier weg
müssten.“ Jane schiebt sich noch ein Stück in den Mund.
„Was wäre daran so schlimm?“ fragt Bill und drückt sie
an sich. „Ich hab sowieso genug von dem hier. Ich muss mich
bewegen.“
„Ja. Aber mich stört der Gedanke, beide zurückzulassen“,
Jane nimmt den Hut ab und schmiegt ihren Kopf an Bills Schulter.
„Haben sie nicht dasselbe getan?“ fragt er.
„Du meinst also, wir sollten es machen“, schlussfolgert Jane.
„Was ist mit Jim und Jeff?“ fragt sie dann.
„Es geht nur jetzt oder nie.“ Jane überlegt kurz und sagt
dann:
„In Ordnung. Wir machen es.“
Die Champs-Élysées ist an diesem Nachmittag recht gut
befahren, als Jacques und Angélique mit der Kutsche unterwegs sind. Jim
und Jeff, verblüfft und ein wenig irritiert, sitzen hinten und sehen sich
sie Straße an.
„Nicht gerade das, was wir gewohnt sind, was?“ fragt Jim.
„Nein, aber es hat was“, erwidert Jeff.
„Ob Bill und Jane das gefallen würde?“ Jeff sieht Jim an.
„Nein, Bill nicht. Ich meine, er würde sich das anschauen, wie wir.
Aber du kennst ihn“, antwortet Jim.
„Und Jane?“ fragt Jeff.
„Woher soll ich das denn wissen, Jim“, erwidert sein Bruder.
Jacques sieht zu ihnen nach hinten und Jim lächelt ihm an. Am späten
Nachmittag machen sie dann in einem Restaurant halt und nehmen etwas zu sich.
Abends finden sie eine Kneipe, in der sie bis kurz vor Mitternacht bleiben.
20
„Wolltet ihr nicht auf eure Freunde warten!?“ fragt Harold, als
sie, verfolgt von Bürgern, die die Clarence ohnehin nicht leiden konnten,
aus der Stadt jagen, während Harolds Leute abwechselnd ab und zu einen
Schuss abfeuern.
„Die haben uns auch im Stich gelassen!“ ruft Bill.
„Verstehe!“ ruft Harold zurück und setzt sich an die Spitze.
„Was war denn überhaupt los?“ fragt Jane.
„Der Marshall!“ Dick lenkt sein Pferd neben das von Jane.
„Den hab ich erschossen. Das ist mein Teil der Abmachung!“ sagt
Bill. Bevor sie aufgebrochen sind, ist Bill den Männern zu Hilfe
gekommen. Der Marshall hatte sie mit seinen Deputies gestellt, woraufhin Bill
ihn erschoß. Jane war zu diesem Zeitpunkt auf dem Weg zurück zum
Saloon. Sie hatte sich von Frank verabschiedet und ihm von ihrem letzten Geld
zwei Flaschen Whiskey vorbeigebracht.
„Wir schließen uns euch aber nur für diese eine Sache
an, danach geht jeder seinen eigenen Weg!“
„Habt ihr uns deshalb geholfen? Nicht sehr ehrenhaft!“ meint
William, der etwas weiter hinten reitet.
„Ihr hättet genauso gehandelt!“ sagt Bill.
„He Jungs, ich unterbreche euch nur ungern!“ meldet Jane sich zu
Wort, „aber wohin wollen wir eigentlich?“
„Unsere Leute dürften nicht weit weg sein, wir müssten gegen
Abend oder am frühen Morgen zu ihnen stoßen,“ erklärt
Dick.
Tatsächlich. Am frühen Morgen trifft Harolds Trupp auf die
übrigen Männer, ungefähr fünfzehn an der Zahl. Sie reiten
gemeinsam, da sie ihre Verfolger nun abgehängt haben, in Richtung der
Eisenbahnlinie, die Harolds Männer seit Tagen beobachten.
21
Bill, Jane und Harolds Bande sitzen um ein Lagerfeuer herum. Es wird geredet,
gelacht und getrunken. Die Männer, die dazugestoßen sind, haben ein
paar Flaschen mitgebracht und nach einiger Zeit kommt Jane ins reden.
„Wir waren in Kansas. Eigentlich haben wir viel gesehen.“ Jane
merkt, dass ihr das ganze anfängt zu gefallen, als sie am Lagerfeuer
sitzt und über ihre Reise mit den Clarence berichtet. „Aber ich
denke, das meiste habt ihr mehr oder weniger schon aus den Zeitungen
erfahren.“
„Tja“, meldet sich jemand zu Wort, „auf der Flucht liest man
nicht viel Zeitung. Aber es stimmt, wir haben wirklich schon das ein oder
andere gehört.“
„Woher kommt ihr, Harold?“ fragt Bill.
„Aus South Dakota“, antwortet er. „Aber wir sind, genau wie
ihr, ganz schön weit rumgekommen. Irgendwann hab ich Dick kennengelernt
und so kam auch der Rest der Jungs zusammen.“
„Vor dem hier“, sagt Jane, „kannte ich nur meine kleine
Stadt in Texas“
„Na los, trinkt und esst. Früher oder später wird es ernst
werden“, sagt Harold.
„Bist du der Anführer?“ will Jane von Harold wissen.
„Ja, bin ich. Bist du damit einverstanden?“
„Absolut“, gibt sie zurück. Der Mann, der Bill gegenüber
sitzt, sieht ihn missbilligend an.
„Ich kenne Männer“, sagt er, „die auf der Flucht auf
alles geschossen haben, was sich bewegt hat. Auf Männer, Frauen und
Kinder, ich schließe mich da nicht aus. Ich habe Kerlen im Duell
gegenüber gestanden und ich habe Männer, gute Männer, sterben
sehen. Aber das alles ist wertlos, selbst wenn du mit noch so vielen
Gesetzlosen durch die Gegend ziehst. Ich kenne dich nicht und für mich
bist du ein Eindringling“, sagt er.
„Lass ihn, Carl“, sagt Harold, „er hat einen Marshall
erschossen und uns aus der Patsche geholfen, sie war dabei und hat den Rest
erledigt.“ Er zeigt auf Jane.
„Warum magst du mich nicht?“ fragt Bill.
„Ach, der mag niemanden, den er nicht kennt“, sagt Harold und
wendet sich den anderen zu.
„Los Männer, weiter geht’s.“ Sie schwingen sich auf
ihre Tiere und jagen davon. Jane hat wieder dieses vertraute Gefühl, dass
sie einst am Anfang ihrer Reise verspürt hatte. Sie sitzt im Sattel, sie
spürt den Wind im Gesicht und weiß, dass es wieder einmal nicht
dabei bleiben wird.
22
Nach fünf weiteren Tagen, an denen sie sich hatten gehen lassen, haben
Jim und Jeff die Nase voll von Paris und beschließen, wieder in ihre
Vereinigten Staaten zurückzukehren. Jacques und Angélique
begleiten sie am nächsten Tag zum Hafen und statten sie mit Geld aus. Die
beiden Brüder kehren der Stadt und dem Kontinent jenseits den
großen Teiches endgültig den Rücken und kehren zu dem
einfachem Leben zurück, von welchem Jeff anfing, seit einigen Tagen zu
träumen.
Sie stehen an Deck des Dampfers und sehen im Schein der untergehenden Sonne
aufs Meer hinaus. Jeff hatte sein Geld als Startkapital im Poker eingesetzt.
Jetzt stehen sie mit ihren Whiskeygläsern in der Hand da und unterhalten
sich.
„Ich sage dir Jeff, wenn wir wieder zurück sind, werde ich froh
sein“, sagt Jim. Jeff sieht auf sein Glas.
„Ich bin jemand, der das einfache Leben liebt, Jim. Das weißt du.
Also habe ich kein Problem damit, dir zuzustimmen..“ Jim sieht seinen
älteren Bruder an.
„Ich kenne dich sehr gut und weiß, was du meinst. Ich mag auch
lieber die Prärie. Aber wir sind gegangen, weil wir neugierig
waren.“ Jeff sieht auf das Meer hinaus. „Und weil wir Abstand
brauchten. Weißt du, was ich denke? Ich denke, dass ich Jane jetzt ein
Stück weit verstehen kann.“
„Es ist aber was anderes, das Abenteuer zu suchen als Abstand zu
brauchen. Aber du hast recht, ich habe auch erst in Frankreich angefangen, sie
richtig zu verstehen.“ Jeff hebt das Glas.
„Auf Paris“, sagt er und Jim stößt mit ihm an.
23
Als Jane noch jünger war, in einem anderen Leben, fragte sie ihren Vater,
ob er glaube, dass jeder Mensch etwas Böses habe, das ihn antreibt.
Manche Menschen haben das, lautete seine Antwort und dann sagte ihr Vater
etwas, das sie jetzt, während sie durch die Finsternis jagen, wie ein
heißer Peitschenhieb trifft:
„Aber du nicht, mein Schatz.“
Hunderttausende Meilen und zwei Ewigkeiten von ihrem alten Leben entfernt,
scheint dies keine Rolle mehr zu spielen und dennoch kommt die Gewissheit, so
gut sie sie zu verdrängen versuchte, dass auch sie eine Mitschuld an dem
trägt, was passiert ist.
Sie reiten durch die Nacht, machen halt, reiten weiter und irgendwie
fühlt sich Jane an ihre Anfänge bei den Clarence-Brüdern
zurückversetzt. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, im
Gegenteil. Sie ist auf eine unerklärliche Weise sogar froh darüber,
dass sie wieder unterwegs ist.
Harolds Plan ist einfach: Vier von ihnen würden den Zug anhalten und der
Rest würde dazukommen.
„Jane“, sagt Harold, als sie schließlich im Schritt an der
Bahnlinie entlang reiten, „Du wartest mit den anderen bis der Zug an
euch vorbeifährt.“
„In Ordnung“, sagt Jane.
„Bill, du schließt dich uns an.“ Damit meint er die Leute,
die auf den Zug aufsteigen sollten. Leute wie Dick, Frank, ein Mann
namens Mo und Harold.
„Ist es nicht zu gefährlich, so dicht hier an der Bahnschiene
entlang zu reiten?“ fragt Bill. „Hast du etwa hier etwa was zu
sagen?“ fragt Carl.
„Carl, du hältst die Klappe“, sagt Harold streng.
„Nein. Der Zug wird erst in ein paar Tagen hier sein.“
„Weißt du, Bill? Ich mag dich nicht besonders und ich glaube, dass
weiß jeder hier. Und ich halte dich für jemanden, der nicht genau
weiß, was er will. Und das letzte was man in diesem Umfeld gebrauchen
kann ist jemand, auf dem man sich nicht verlassen kann, Doch ich denke auch,
dass du ansonsten ein guter Kumpel bist“, sagt Carl. Bill bremst ihm
aus.
„He, Leute, ganz ruhig“, sagt Harold. „Nach der Sache hier
könnt ihr euch an die Gurgel gehen, aber bis dahin, bleibt ihr zwei
ruhig.“
„Na schön“, zischt Bill und reitet weiter.
„Halt dich bloß zurück“, warnt Jane ihn, „sonst
jage ich dir eine Kugel in den Kopf, bevor das Ganze hier erledigt ist!“
„Jane! Bitte“, sagt Bill. „Wir klären das, wenn’s
vorbei ist.“
24
Es ist schon Nachmittag, als sie am Horizont ein Objekt erblicken, das auf sie
zukommt.
„He Leute, es geht los“, zischt der Mann, der mit einen anderen
Kerl nach dem Zug Ausschau gehalten hat.
„Gut Männer, es ist soweit“, sagt Harold.
Die vier warten bis der Zig vorbeifährt und steigen dann auf.. Als der
Zug langsamer wird, setzen sich auch die übrigen Männer in Bewegung
und steigen ebenfalls auf.
„Ganz ruhig und nehmt schön die Hände hoch!“ ruft
Carl.
„Du da!“ sagt Mo zu einen Mann, die als Gast in dem Zug
mitfährt, „Los, zeig uns, was du da Schönes hast!“
Während der Mann gehorcht, machen sich Bill, Jones und Ted über die
anderen Mitreisenden her.
„Na los, ihr kennt das Spiel“, sagt Bill.
Ted drückt sich etwas deutlicher aus: „Her mit dem Geld, Uhren und
dem Schmuck, sonst werden wir uns in der Hölle wiedersehen, wenn’s
soweit ist!“
„Das kann ja nicht mehr lange dauern“, zischt ein Mann,
während er Bill sein Bargeld und seine Taschenuhr aushändigt.
Nachdem die Männer die Mitreisenden um ihre Besitztümer erleichtert
haben, verschwinden sie wieder.
Carl ist ein Mann, der Leute, denen er seiner Meinung nach nicht trauen kann,
nicht um sich haben möchte. Und Bill ist ein Mann, der in vielen Dingen
zwar sensibel ist, aber ganz genau weiß, was er will. Sie warteten bis
die Sache gelaufen war und sie möglichst weit weg sind, aber jetzt stehen
sie sich gegenüber.
„Du hast doch nicht den Mumm, mir gegenüber zu treten!“ ruft
Carl.
„Du hast eine ziemlich große Klappe, Carl!“ erwidert Bill
und gibt den Blick auf seine Waffe frei. Die anderen stehen am Rand und
beobachten das Ganze.
„Aber an deiner Stelle wäre ich nicht so überheblich!“
fügt er hinzu.
„Hast du so etwas schonmal gemacht!?“ fragt Carl.
„Nein!“ erwidert Bill, „aber ich will dir eines sagen. Ich
hab auch gute Männer sterben gesehen und es war unerträglich. Ich
habe keine Angst!“
Der Rest geht schnell. Innerhalb eines Augenblickes haben sie ihre Waffen
gezogen und im nächsten liegt Carl tot am Boden. Bill atmet auf und Jane
wagt, ihre Augen wieder zu öffnen.
„Jetzt nimmst du deine Partnerin und verschwindest besser von
hier“, sagt jemand aus der Menge.
„Nein!“ ruft Harold, „es war ein fairer Kampf. Aber durch
dich habe ich einen guten Mann verloren.“
„Tut mir leid, Harold. Gib uns unseren Anteil und wir
verschwinden.“ Bill steckt den Revolver weg und geht auf Harold zu.
„Frag Ted“, gibt Harold zurück. Ted gibt ihnen ihren Anteil
und dann trennen sich ihre Wege für immer.
25
Hinter einem Felsen und gefühlte tausend Meilen vom Rest der Welt
entfernt wacht Jane am diesem Morgen neben Bill auf. Seit dem Duell sind drei
Tage vergangen und die beiden können sich nun endlich einmal ausruhen.
„Wie sollen uns deine Brüder je finden?“ fragt Jane.
Bill streichelt ihr die Wange. „Sie werden erwarten, dass wir noch in in
der Stadt sind … he Jane, es tut mir leid. Ich kann mir nicht
erklären, was in mich gefahren ist.“
„Hör auf“, sagt sie, „es bringt nichts, sich über
Dinge den Kopf zu zerbrechen, die man nicht mehr ändern kann.“ Jane
dreht sich auf die Seite und stützt den Kopf auf die linke Hand.
„Bill, heute will ich nicht darauf eingehen, es gibt zu viel,
worüber ich nachdenken muss. Aber irgendwann musst du mir mal
erklären, was es mit diesem Duell auf sich hatte.“
„Versprochen“, erwidert Bill und küsst sie.
Während Bill und Jane in der Prärie von Alabama unterwegs sind,
versuchen Jim und Jeff ihr Glück beim Poker. Der Abend ist frisch, als
sie ein, zwei Tage später mit drei weiteren Männern unter Deck beim
Glücksspiel sitzen.
„Jeff, mach kein Mist“, sagt Jim. Jeff hat gerade seinen Einsatz
erhöht.
„Ich pass schon auf“, gibt dieser zurück.
„Wirklich?“ fragt der eine, mit einer Zigarette zwischen den
Lippen, und legt eine Taschenuhr in die Mitte. „Fünfhundert Dollar
und die hier.“
„Ich gehe mit“, Jeff nimmt seinen Revolver. „Nein, nein,
nein, ganz ruhig. Ich werde ihn langsam aus dem Holster nehmen.“ Er
nimmt seinen Revolver im Zeitlupentempo heraus und legt ihn auf den Tisch..
„Was? Was wird das denn jetzt?“ fragt Jim.
„Und das hier.“ Er legt seine letzten dreißig Dollar dazu.
„Ich steig aus“, sagt einer der Männer und steht auf.
„Jeff, du bist verrückt.“ Jim steht ebenfalls auf.
Kurze Zeit später ist er an Deck. Er stützt seine Arme auf die
Reeling und genießt die Abendluft. „Der hat sie doch nicht mehr
alle“, sagt er leise. Plötzlich schlingt jemand von hinten seine
Arme um ihn.
„Glaubst du das wirklich?“ fragt Jeff. Jim fährt erschrocken
herum.
„Nimm das sofort zurück oder ich geb dir heute nichts aus.“
„Sag bloß, du hast es geschafft“, sagt Jim. Diese Bemerkung
war nicht ernst gemeint, denn er sieht es schon am Grinsen seines
Bruders.
„Du kennst mich doch“, sagt Jeff und sein Bruder Jim lässt
sich von ihm einen Drink spendieren.
26
Am fünften Tag, nachdem sie sich von Harolds Leuten getrennt haben, kann
Jane ihre Neugier nicht mehr zurückhalten. Während sie jenseits der
Städte und Straßen durch die Prärie reiten, bietet sich beiden
die Möglichkeit ehrlich miteinander zu reden.
„Wenn du eine Weile als Outlaw gelebt hast, macht dich das
schnell“, sagt Bill. „Sonst kann es sein, dass es dich irgendwann
erwischt.“
„Und die anderen? Haben die sich je duelliert?“
„Jim schon“, antwortet er. „Ist schon eine ganze Weile
her.“
Jane sieht wieder geradeaus. „Ich konnte da fast nicht hinsehen,
Bill“, sagt Jane.
Es entsteht eine Pause. Eine Pause, in der die zwei schweigend nebeneinander
her reiten.
Nach einer Weile sagt Jane: „Ich habe nicht nach Freiheit gesucht und
auch nicht nach Erlösung, ich habe nach dieser anderen Welt gesucht, die
mir immer verwehrt wurde.“
Bill zügelt sein Pferd. „Und? Hast du diese andere Welt gefunden?
“
„Ich denke schon.“ Sie bleibt ebenfalls stehen. Dann fragt sie
plötzlich: „Was bedeutet der Name Mary?“
„Das bist du“, sagt Bill. Dann fragt er: „Was ist mit deiner
Familie?“
„Mein Vater ist beim Duell gestorben. Er hat meine Mutter bei jeder
Gelegenheit betrogen und ist dann irgendwann dem Ehemann seiner Geliebten
begegnet.“ Jane reitet wieder los, nach einer Weile reitet auch Bill
weiter.
„Betrogen?“ fragt er. „Weißt du das sicher?“
„Er hat sich nicht viel Mühe gegeben es zu verheimlichen“,
erwidert Jane.
„Und deine Mutter?“
„Wie gesagt, sie ist abgehauen, da war ich gerade erst neunzehn“,
sagt sie.
„Hast du jemals mit ihm darüber gesprochen?“ Bill sieht sie
an.
„Natürlich nicht. Ich glaube auch, dass meine Mutter ihn auf eine
unerklärliche Weise trotz allem geliebt hat.“ Jane hält inne.
„Eines Nachts, als ich schon etwas größer war, war sie in den
Saloons unterwegs, und tagsüber hat sie die brave Ehefrau gespielt. Gott
weiß, wie sie in die Saloons gekommen ist.“ Eine ganze Weile
reiten sie, ohne ein Wort zu wechseln. Beide haben ihren Blick wieder nach
vorne gerichtet.
„Wo sind wir eigentlich?“ fragt Jane schließlich.
„Das kann ich dir nicht sagen, aber wir sollten trotzdem die Augen offen
halten“, entgegnet Bill.
„Um ehrlich zu sein, Bill … Ich wünsche mir manchmal das
Leben eines anderen. Klingt das irgendwie verständlich?“ Sie sieht
Bill an.
„Ja. Absolut“, sagt er.
„Es wird dunkel“, sagt Jane. „Sollen wir hier schlafen?
“
„Ja.“ Sie jagen ihr Abendessen, machen ein Feuer und da sie sich
mit der Wache abwechseln und Jane die vorige Nacht dran war, schiebt Bill
diesmal Wache. Als der Morgen anbricht, muss Bill sie wecken, da er kaum noch
die Augen offen halten kann. Dann, gegen Mittag reiten sie weiter.
27
Es ist inzwischen etwas über ein halbes Jahr vergangen und Jim und Jeff
sind in der Stadt angekommen, in der sie gemeinsam mit Bill und Jane zuletzt
gewesen waren. Der Winter ist über das Land gekommen und hüllt
die Landschaft in eine weiße Decke. Nachdem sie die ganze Stadt nach
Bill und Jane abgesucht haben, erkundigten sie sich, ob denn wenigstens ihre
Pferde noch da seien. Ein Mann sagt ihnen, dass sie die Tiere im Mietstall
finden können. Nachdem sie ihre Pferde geholt und den Besitzer auf dessen
ausdrücklichen Wunsch hin eine Flasche Whiskey gekauft haben, reiten sie
zum Marshall, um zu erfahren, wo die beiden sind.
„Die sind mit Harolds Leuten abgehauen“, sagt der Marshell. Jim
sieht auch sofort zwei Steckbriefe von den beiden.
„Jeff?“ Er zeigt an die Wand. „Was hältst du davon?
“
„Glückwunsch Bill. Glückwunsch Jane. Zehntausend Dollar. Ich
glaube, wir suchen sie besser“, sagt Jeff.
„Na, dann los“, erwidert Jim, Sie rennen hinaus und steigen
auf ihre Pferde.
„Sie haben mit seinen Leuten die Eisenbahn ausgeraubt“, sagt der
Marshall, der ebenfalls rausgegangen ist. „Sie sind da lang“, er
zeigt die Straße runter. „Ich weiß, ihr gehört zu ihnen
und ich kann euch deshalb schlecht aufhalten. Aber wenn ihr was machen wollt,
dann solltet ihr es lieber woanders tun und nicht hier in diesem Staat.“
Jim und Jeff reiten die Straße aus der Stadt heraus.
„Wie konnten sie nur ohne uns abhauen?“ fragt Jeff, als sie
später eine kurze Rast einlegen.
„Was ich mich vor allem frage ist, wie sie auf die Idee kommen konnten,
wieder einen Überfall zu machen.“ Jim gibt den Whiskey, den sie aus
der Stadt mitgenommen haben, an Jeff weiter.
„Nein danke. Eins ist klar“, sagt Jeff, „die beiden bekommen
von mir was zu hören, sollten wir uns jemals wiedersehen.“
„Dem kann ich mich nur anschließen. Na los, komm!“ Jim steht
auf und eine Minute später sitzen sie wieder auf ihren Pferden.
Währenddessen haben sich Bill und Jane in eine verlassene, weit
abgelegene Hütte zurückgezogen, um den Winter abzuwarten.
Nachdem langsam aber sicher kein Wild mehr zu finden war, haben sie sich
schweren Herzens dazu entschieden, dem Hungertod zu entkommen, indem sie sich
über ihre Pferde hermachen. Den Rest haben sie im Schnee vergraben, um es
kühl zu lagern. Nachdem ihnen jedoch auch das Pferdefleisch ausgegangen
ist, können sie nur noch hoffen, dass sie jemand so schnell wie
möglich findet.
28
Bill und Jane haben drei weitere Tage in der Kälte ausgeharrt. Ihr Vorrat
an Fleisch ist jetzt weg. Sie sitzen an einem Feuer, das wohl unter diesen
Bedingungen eines der letzten sein wird und machen sich dran, die letzten
Reste, die Bill, aus weiser Voraussicht beiseite gelegt hat, zu essen.
„Ich hab meins gegessen, Jane. Komm, Das hier ist für dich“,
sagt Bill schwach und schiebt Jane das Stück in den Mund.
„Halt mich fest. Ich glaube, dass werden wir nicht schaffen“, sagt
Jane. Bill legt sich erschöpft neben sie. Er streichelt ihr das
ausgezehrte Gesicht und lässt seine Hand erschöpft auf ihrer Brust
ruhen.
„Sie werden uns finden. Sie müssen“, sagt Bill und
schließt die Augen. Bill wacht erst auf, als jemand in der Hütte
ist.
„Bill?“ fragt Jim und dreht ihn um.
„Ja“, flüstert er schwach.
„J… Jim“, sagt Jane leise. Jim legt seine Hand auf ihre
Wange.
„Hol´ die Satteltaschen“, sagt Jim zu seinen Bruder und
dieser geht nach draußen. „Bleib wach, Jane.“ Zehn Minuten
später haben sie Bill und Jane dick eingepackt und auf die Pferde
gehoben, was nicht schwer war, weil sie mittlerweile ziemlich abgenommen
haben.
Am Abend erreichen sie dann eine abgelegene Farm. Jim klopft an die Tür
und nach einigen Minuten öffnet jemand.
„Wir brauchen Hilfe“, sagt Jim.
„Nein“, sagt der Mann, der sie sofort erkannt hat. „Runter
von meinem Grundstück!“
„Bitte“, sagt Jim. Doch der Mann bleibt hart.
„Wir brauchen Hilfe“, wiederholt Jeff. Der Mann wendet sich ab und
Jeff zieht seinen Colt.
„Jeff! Was machst du da!?“ ruft Jim.
„Wir brauchen Hilfe! Und Sie werden uns jetzt helfen!“ ruft er.
Jim stellt sich vor seinen Bruder.
„Steck den Revolver weg“, sagt er. Als er sieht, dass Jeff nicht
hören will, brüllt Jim: „Wird’s bald!“ Jeff steckt
die Waffe weg. Irgendwann einigen sie sich dann doch und Jim und Jeff bringen
die zwei anderen ins Schlafzimmer.
Am Abend sitzen sie zusammen im Essraum. Jeff sieht zu Boden.
„Jeff?“ fragt Jim. „Geht es dir gut?“
„Nein“, sagt e und nach einer Pause fügt er hinzu: „Gar
nichts ist gut. Wir hätten niemals weggehen dürfen!“
„Wir mussten. Es war richtig zu kämpfen“, sagt Jim.
„Ich meine nach Frankreich“, sagt Jeff.
„Frankreich?“ fragt die Tochter.
„Ja. Frankreich“, sagt Jim.
„Wie ist es dort?“ fragt sie.
„Anders“, entgegnet Jeff und verlässt den Tisch. Jim folgt
ihm und sie bleiben vor der Schlafzimmertür stehen. Dann geht Jeff hinein
und setzt sich neben Bill. Dieser regt sich schwach. Jeff nimmt die Hand
seines Bruders und drückt sie leicht. Dann geht er zu den anderen
zurück.
„Wie geht es ihnen?“ fragt Jim.
„Sie sind noch am Leben“, erwidert Jeff und setzt sich. Er sagt zu
dem Farmer: „Ich mache Ihnen einen Vorschlag: Solange wir bei Ihnen
sind, übernehmen wir bestimmte Aufgaben. Aber es wird immer jemand mit
seiner Waffe daneben stehen.“
„Sie wollen bestimmte Aufgaben übernehmen?“ fragt der Farmer.
„Ja. Natürlich“, sagt Jeff.
„Können Sie kochen?“ fragt die Frau.
„Ein bisschen“, sagt Jim. Und von da an kocht Jim für sich
und die Familie. Die Frauen bereiten dazu das Gemüse zu.
29
Nach ein paar Wochen sind Bill und Jane wieder einigermaßen erholt und
kurz darauf sind sie wieder unterwegs.
„Eigentlich wollten wir euch ja unsere Meinung sagen zu der Aktion, die
ihr euch geleistet habt“, sagt Jim.
„Aber dann fandet ihr es doch besser uns zu retten“, ergänzt
Bill.
„Ja, aber man weiß jetzt wo ihr seid“, wirft Jeff ein.
„Wir sollten uns beeilen, jetzt stecken wir da auch mit drin, also
vorwärts! Wird es gehen, ihr zwei?“ fragt er Bill und Jane, die
sich ein Pferd teilen, während Jim und Jeff auf dem anderen sitzen.
„Ja“, sagt Bill und dann reiten sie durch einen verschneiten
Spätnachmittag davon. Sie ziehen durch die Gegend, jagen und
rauben.
Sie sind oft den ganzen Tag unterwegs und reiten sogar manchmal
nächtelang durch. Sie wurden beinahe geschnappt und sitzen jetzt beim
Schein des Lagerfeuers zusammen.
Die Nacht ist kühl und das Feuer das richtige Gegenmittel gegen die
Kälte. Gerade in den letzten Wochen und Monaten ist klar geworden, wie
sich der Lauf der Dinge entwickelt hat, wie sehr das Schicksal eingegriffen
hat. Doch kann man es überhaupt Schicksal nennen? Es gibt Menschen, die
nennen dieses Schicksal auch Gott. Doch für Bill, Jim und Jeff spielt es
keine Rolle, wie es genannt wird, auch nicht mehr für Jane. Ist sie doch
Teil dieses Clans und fühlt inzwischen schon auch die kleinen Stiche, die
ihnen das Schicksal (oder Gott?) im Laufe ihrer Reise versetzt hat.
Noch vor ein paar Jahren hätten sich alle fragen können, ob dieser
Gott, nennen wir es mal Gott, wirklich in der Lage sein kann, so viel Leid
zuzufügen. Können wir Gott jemals für das Leid vergeben, das er
uns durchmachen lässt?
„Stört dich das eigentlich nicht?“ fragt Bill seine Bruder
Jeff.
„Was denn?“ erwidert er.
„Auf der Flucht zu sein. Immer angespannt und niemals
durchzuschlafen“, sagt Bill.
„Tja, weiß du? Ich habe es immer ausgeblendet“, entgegnet
Jeff.
„Was ist mit dir, Jane?“ fragt Bill.
„Ich hätte nichts gegen ein wenig Ruhe in meinem Leben. Ich habe
immer von der weiten Welt geträumt, und das hier war für eine Zeit
lang richtig gut. Aber ich kann nicht mehr“, sagt sie.
„Und jetzt?“ fragt Jim.
„Ich hasse die Vorstellung, was passiert wäre, wenn wir damals zu
spät gekommen wären“, sagt Jeff. „Lasst uns hier die
Sache beenden.“
„Wir hätten nach Kriegsende zurückkommen müssen. Aber wir
haben uns auch prächtig amüsiert“, lacht Jim.
„Wir haben alle Fehler gemacht“, sagt Bill.
„Ich glaube, es ist Zeit für etwas Neues. Ich habe nichts gegen
Jeffs Vorschlag“, sagt Jane und sieht ihn an. Ohne ein weiteres Wort zu
sagen, sind sich alle einig, dass sie diesmal gemeinsam eine Entscheidung
treffen werden.
Die vier beschließen, das Geld aus dem Zugüberfall und den anderen
Rauben, aufzustocken, in dem sie sich über die Nationalbank hermachen und
kaufen sich in einem anderen Staat, ein Zugticket an die Ostküste.
30
Das Publikum tobt, als Jane zum zweiten Mal in den Saloon kommt. Es tobt, als
die Brüder sich wilde Schießereien mit den Hilfssheriffs liefern
und es verfolgt gebannt, wie sie um ein falsches Lagerfeuer sitzen,
Geschichten erzählen und Eistee rumgehen lassen.
„Wisst ihr was ich glaube?“ Bill versucht alles auszublenden.
„Ich glaube, wir können uns glücklich schätzen,
davongekommen zu sein.“
Jeff nimmt die Flasche entgegen. „Hast recht. Ich muss mich bei dir
entschuldigen als ich sagte, dass es eine dumme Idee war.“
Bill wollte nicht, das zwei zusätzliche Schauspieler seine toten
Brüder verkörperten, aber er hatte natürlich nicht das Sagen.
“Ich bin nicht euer Freund“, sagt Lynn, der Parker spielt, zu
Bill, als sie wieder hinter dem Vorhang sind, „aber ich habe gesehen,
wie es dir widerstrebt hat, diesen Verlust nochmals zu erleben. Alles in
Ordnung? Ich habe selbst einen Bruder und es ist nicht so, dass man einen
Bruder jemals ersetzen kann.“
„Geht schon“, sagt Bill.
„Es stimmt, oder?“ fragt er, „Was wir gespielt haben.“
„Mehr oder weniger. Es widerstrebt mir nur, etwas zu spielen, das nicht
wahr ist. Nicht wirklich jedenfalls“, sagt Jane.
„Ihr gewöhnt euch dran“, sagt der zweite „Bruder“
Mel, und dann betreten sie wieder die Bühne und sind die glorreichen
Schurken des Westens, die man lieb haben kann. ‚Shotgun Jane‘,
ihre treue Begleiterin, die taff ist, mutig und schießen kann wie keine
zweite. Als die Show zu Ende ist, gehen sie in die Bar der Stadt und werden
dort natürlich erkannt. Sie reden, schütteln Hände und lassen
sich den ein oder anderen Whiskey spendieren, bevor sie in ihre kleine
Unterkunft zurückkehren, die etwas abseits vom Getümmel der
Großstadt liegt.
31
Sie geben sechs Vorstellungen am Tag. Jim und Jeff, die eher noch ein wenig
konservativer als Jane sind, haben bald genug vom Theater. Es ist Samstag, die
letzte Show der Woche, und sie sitzen im ‚Heaven’s Gate‘ in
der hintersten Ecke und haben nun Gelegenheit, miteinander zu reden.
„Morgen bin ich weg“, sagt Jim zu den anderen.
„Dem kann ich mich nur anschließen“, sagt Jeff. Doch sie
spielen weiterhin auf der Bühne den Helden, denn was wäre dieses
Leben ohne seine Illusionen? Und was wäre der Mensch ohne seine
Träume und Vorstellungen von einem freien und ungebundenen Leben?
Nach dem Auftritt hatte Mel versprochen ihnen die Stadt zu zeigen. Er musste
noch etwas zu Hause erledigen und würde dann auch in die Bar kommen.
Tatsächlich kommt er auch in diesem Augenblick zur Tür herein.
„Ich hatte noch einen Kampf mit meinem Sohn auszutragen. Er wollte nicht
schlafen“, sagt er leise. „Ich hab ihm erzählt, wen wir in
der Show haben.“
„Was trinkst du?“, fragt Bill.
„Ich trinke ein Bier. Aber lass, ich zahle selber“, aber Bill
steht bereits auf. „Bill!“ ruft Mel und steht selber auf.
„Gut“, sagt Bill und setzt sich wieder. Wenig später kommt
Mel mit seinem Bier zurück.
„Du hast einen Sohn?“ fragt Jane.
„Ja“, antwortet Mel. „Er ist zehn.“ Dann sagt er nach
einer Weile: „Ich vergesse jedesmal, daß ihr in Wirklichkeit die
Bösen seid.“
„Wir haben viele Sachen gemacht. Sachen, die am Anfang in Ordnung waren,
aber immer mehr zur Belastungsprobe wurden“, sagt Jim.
„Wieso seid ihr hier?“ Mel blickt in die Runde.
„Frag sie“, sagt Bill und deutet auf Jane. Mel sieht sie an.
„Weil es irgendwann eine Zeit gibt, aufzuhören“, erwidert
sie.
Sie verlassen die Bar und schlendern durch die Stadt. Mel schneidet
schüchtern das Thema Parker und Dexter an, weil er weiß, wie
schwierig das noch immer für die Brüder ist.
„Ich habe Bill danach nie wieder so aufgelöst gesehen“, sagt
Jane.
„Du kanntest ihn nicht, aber wir hatten eine ganz besondere Beziehung,
Jane.“ Bill sieht sie an.
„Wir haben es ihm als Kinder nicht leicht gemacht. Dex hat immer zu ihm
gehalten und das hat man bis zum Schluss gesehen“, sagt Jim. „Wir
sind Freunde, aber Dex war ein Bruder für ihn.“
„Und Parker?“ will Mel wissen.
„Er war ein feiner Kerl“, sagt Jeff.
„Er hat früher immer gerne Streiche gespielt. Da waren wir noch
nicht mal dreizehn“, fügt Bill hinzu.
„Du meinst, als er einmal für mich verkleidet zur Kirche gegangen
ist und ich mich gemütlich zu Hause verkrochen habe, bis unser Schwindel
irgendwann aufgeflogen ist?“ fragt Jim.
„Oh ja. Das hat Ärger gegeben“, sagt Bill, der sich an die
Schelte der Eltern nur all zu gut erinnern kann. „Aber wir haben immer
wieder sowas gemacht. Du hättest uns sehen sollen, Jane, wir haben unsere
Eltern in den Wahnsinn getrieben.“
„Wer hat das nicht?“ fragt sie.
„Lebst du schon lange in New York?“ fragt Jeff an Mel gerichtet.
„Schon mein ganzes Leben“, erwidert dieser. „Ich war schon
immer fasziniert vom Schauspiel und hab dann irgendwann in der Show hier
angeheuert.“
„Die Menschen hier haben eine falsche Vorstellung von unserem Leben. Sie
denken, wir haben gegen Schurken gekämpft, gegen üble Kerle“,
sagt Jane.
„Das stimmt nicht. Es ist immer schöner, die Guten zu sehen“,
sagt Mel.
„Und das nimmst du einfach so hin?“ fragt Jeff,
„Was soll ich machen?“ entgegnet Mel. Dann fragt er:
„Wieso habt ihr dann zugestimmt?“
„Jane wollte es“, Jeff sieht zu ihr rüber.
„Ich wollte etwas Neues ausprobieren“, verteidigt sie sich.
Sie laufen durch die Stadt, die jetzt von Lichtern erleuchtet ist, und reden
noch eine ganze Weile. In ihrer Unterkunft angekommen geben sie sich noch
einen Tag, an dem sie die Westernhelden spielen und verabschieden sich dann
vom Ruhm und Prestige, um wieder in das Leben zurückzukehren, das sie
gewohnt sind.
32
Während ihrer langen Reise zurück beschließen sie in West
Virginia Halt zu machen, um dort in Ruhe auszuspannen. Sie ziehen von Stadt zu
Stadt, haben mal Glück und werden gastfreundlich aufgenommen, werden
rausgeschmissen, geraten in Schießereien und Streitereien, müssen
wieder die Stadt verlassen, aber immer mit dem Gefühl, nicht eine Sekunde
ihres Lebens, was auch immer das für ein Leben war, vergeudet zu haben.
Sie machen in einer Stadt halt und haben das Glück, dass sie die
Männer im Saloon freundlich empfangen. Nach ein paar Drinks machen sie
sich wieder auf in die Steppe.
Der Winter ist bereits vorüber und sie sitzen um ein Lagerfeuer in der
offenen Prärie.
„Wisst ihr?“ sagt Jane, „Es ist schwer die
Veränderungen anzunehmen. Aber irgendwann muss man sich damit
auseinandersetzen. Wir sind lange zusammengeritten, aber es wird Zeit dem
Wandel ins Auge zu sehen. Ich geh wieder zurück.“ Die anderen sehen
sie an und Jeff springt auf.
„Und das war’s jetzt?“ fragt er.
„Ich werde versuchen, damit zu leben. Das mit euch war die beste Zeit
meines ganzen Lebens und ich werde sie niemals vergessen aber dieser Teil ist
jetzt vorbei.“
„Dann gehst du“, sagt Jim.
„Nein. Ich könnte euch niemals gehen lassen. Ich könnte mich
verstecken und mit euch irgendwo in den Weiten der Prärie leben. Aber das
werde ich nicht tun. Ich weiß nicht, ob ihr es verstehen könnt,
aber ich kann so nicht mehr leben“, sagt sie.
„Ich komme mit“, sagt Bill.
„Darf ich euch zwei umarmen?“ fragt Jane mit feuchten Augen.
„Du willst sofort gehen?“ fragt Jeff.
Jane sieht sie an. „Je schneller desto besser. Das tut weniger
weh.“ Und dann umarmen sie sich.
„Besucht uns mal.“ Jane drückt Jim fest an sich und und
drückt ihm einen Kuss auf die Wange, wie er es einst bei ihr getan hat.
Bill drückt Jeff. „Ich hab es euch nie gesagt, aber ihr seid die
Brüder, die ich nie hatte. Danke für alles.“ Jane sieht ihn
aus feuchten Augen an.
„Dir ist es also doch ernst“, sagt Jim und wischt ihr eine
Träne aus dem Gesicht.
„Jeff!“ Jane nimmt auch ihn in dem Arm und Bill Jim.
„Wo wollt ihr jetzt hin?“ fragt Bill.
„Keine Ahnung, mal sehen“, antwortet Jim.
Jane löst sich von der Umarmung.
„Ich träume noch immer meiner Ranch“, sagt Jeff. „Und
ich finde, West Virginia einen herrlichen Ort dafür.“
„Steigt jetzt auf eure Pferde und reitet davon. Mehr Worte kann ich
nicht ertragen.“ sagt Jane. Als Jim und Jeff auf ihren Tieren sitzen,
sehen sie ihre beiden Mitstreiter an.
„Wir lassen euch wissen, wo wir sind“, sagt Jim und dann bleiben
Bill und Jane alleine am Feuer zurück.
„Alles in Ordnung?“ fragt Bill, der sieht, dass Jane kurz davor
ist, in Tränen auszubrechen.
„Geht schon“, flüstert sie, „gib mir nur etwas
Zeit.“
Nach einer Weile sagt sie mit tränenerstickter Stimme: „Es war
richtig, Bill.“ Sie wischt sich eine Träne aus dem Gesicht.
„Am Anfang, da war das Gesetz unser Feind. Wenn wir nicht aufpassen,
wird es die Zeit sein.“
„Jeder hat seine Zeit, Jane. Glaubst du nicht, dass diese hier unsere
ist?“ fragt Bill.
„Ja. Tue ich“, sagt Jane.
„Und du willst es trotzdem?“
„Ja.“
33
Und zum zweiten Mal in ihrem Leben erreichen sie New York. Bill und Jane sind
wie Kinder, die neu zu leben lernen und sich von alten Dingen trennen
müssen. Da sie nicht wissen wohin, fragen sie sich zum Theater durch, wo
gerade die Nachmittagsvorstellung läuft. Sie warten vor dem Gebäude
auf Mel in der Hoffnung ihn anzutreffen. Aber als alle herausgekommen sind,
sagt man ihnen, dass er heute nicht da sei und erst wieder am nächsten
Tag spielen würde. Also gehen sie am frühen Abend in eine Bar und
gönnen sich ein paar Drinks. Sie schlafen bei einem Mann namens Troy, den
sie dort kennengelernt haben.
Am nächsten Tag bitten sie beim Theater um einen Job.
„Das geht nicht. Wir haben schon Ersatz für euch gefunden“,
sagt der Veranstalter. „Wir können doch nicht unsere Show nach Lust
und Laune gestalten.“
„Natürlich, Sir, das verstehen wir. Aber wir könnten als
eigener Act auftreten. Zusammen“, sagt Bill.
„Wir könnten Schießkünste zeigen“, ergänzt
Jane.
„Wie viele Ihrer Zuschauer hier waren schon mal im Westen?“ fragt
Bill. Als keine Antwort kommt, fährt er fort: „Sehen Sie? Wir waren
dort. Wir haben Geschichten. Gut, es sind keine Heldengeschichten, aber wir
können aus erster Hand vom echten Westen erzählen.“
Nach kurzem Überlegen stimmt der Veranstalter schließlich zu.
„Wir packen euch als Erzähler mit rein“, sagt er.
Mel bietet ihnen an, ihn zu Hause zu besuchen und sie nehmen die Einladung an.
Während Bill im Wohnzimmer mit dem Kleinen spielt, sitzen Jane und Mel im
Esszimmer und trinken Kaffee.
„So, und was hat euch dazu veranlasst, zurückzukommen?“ fragt
Mel.
„Unter anderem glaube ich, dass ein Punkt erreicht ist, etwas Neues
anzufangen“, sagt Jane.
„Irgendwann muss jeder abschließen“, sagt Mel, „es ist
nicht immer leicht.“
„Wo ist deine Frau?“ fragt Jane.
„Verstorben“, erwidert Mel. „Bei der Geburt von Timothy, das
ist unser Sohn, der deinen Freund gerade auf Trab hält.“
Am Abend dann verabschieden sie sich von Mel und gehen die Straße
hinunter in die Bar um etwas zu trinken, obwohl sie sich bei Mel schon zwei,
drei Drinks genehmigt hatten. Es dauert auch nicht lange, da gesellen sich die
ersten Leute zu ihnen.
„Ich bin Floyd,“ stellt sich jemand vor.
„Und ich bin Fran. Ich weiß, wer ihr seid. Leute, die sich nicht
anständig um ihre Toten kümmern!“ ruft ein Betrunkener.
„Mit wem willst du dich hier anlegen!?“ ruft Bill seinerseits.
„Mit dir! Nur der Teufel selbst lässt seine Toten
zurück“, grölt der betrunkene Fran. Bill will schon auf ihn
zustürmen, doch Jane hält ihn zurück.
„Lass mich los“, zischt er.
„Nein. Wenn ich das tue, bringst du ihn um“, erwidert sie.
„Ganz genau. Und jetzt lass mich los!“ Bill ist nicht mehr zu
beruhigen. Jane und Floyd packen ihn an den Armen und bringen ihn an die
frische Luft.
„Du Hund, der Teufel soll dich holen!“, brüllt er auf den Weg
nach draußen.
„Bill!“ ruft Jane, nachdem sie ein paar Minuten draußen
gestanden haben. „Komm runter.“
„Das ist typisch Fran. Er sucht ständig Ärger, wenn er
betrunken ist“, sagt Floyd.
Als Bill tief durchgeatmet hat, fragt Jane: „Geht’s wieder?“
„Gib mir eine Sekunde“, sagt Bill. Und dann, nachdem er nochmals
durchgeatmet hat: „Es geht wieder.“
„Sicher?“ fragt Floyd.
„Das ist ein heikles Thema“, erklärt Jane ihm.
„Ja. Alles gut“, sagt Bill schließlich und sie gehen wieder
rein.
„Ach, mit dem hatte ich auch schon oft Ärger“, sagt ein Mann,
als sie wieder an der Theke stehen und Floyd mit Fran im Schlepptau die Bar
verlassen haben.“Ich bin Larry und die nächste Runde geht auf
mich.“
„Danke“, sagt Bill, dem offenbar die gute Laune abhanden gekommen
ist.
„Alles in Ordnung?“ fragt Jane.
„Entschuldigt mich.“ Bill verlässt die Bar. Jane bezahlt die
Drinks und geht ihm nach. Kurz darauf schlendern sie durch die Straßen
New Yorks und genießen die kühle Luft im Gesicht.
„Es gibt nichts Schlimmeres als jemanden zurückzulassen“,
sagt Jane nach einer Weile.
„Und es ist noch schlimmer, damit leben zu müssen“, gibt Bill
zurück.
Sie laufen noch eine ganze Weile durch die Stadt und reden. Als der Mond
bereits hoch am Himmel steht, kehren sie zurück.
34
Seit sie sich kennen hatten Bill und Jane nur eine einzige Auseinandersetzung.
An diesem Abend jedoch kommt es zu einer weiteren, als Bill verkündet, er
wolle aussteigen und New York verlassen. Jane, der das ganze auch keinen
Spaß mehr macht, erklärt ihm, dass sie dennoch bleiben wolle.
„Dann leb´ doch dein Leben in Glanz und Glimmer und lass dich von
allen bewundern, ich mache da aber nicht mehr mit“, sagt Bill.
„Denkst du das wirklich von mir?“ fragt sie. „Denkst du, mir
geht es darum?“
„Worum denn dann?“ Bill funkelt sie an.
„Du solltest mich besser kennen“, sagt Jane bestürzt. Sie
kann nicht glauben, was sie da gerade aus Bills Mund gehört hat.
„Ich weiß nicht mehr, ob ich hier noch irgendwas oder irgendwen
kenne. Auf jeden Fall bin ich morgen hier weg.“ Bill nimmt den Hut und
geht zur Tür.
„Wo willst du hin?“ fragt sie.
„Frische Luft schnappen, mir reicht’s!“ Mit diesen Worten
verlässt er das Haus und geht zur Bar, die sich die Straße hinunter
befindet.
„Bill, alles klar?“ fragt Floyd, der sich ebenfalls dort
aufhält und ihn am Tresen begegnet.
„Nein“, antwortet er, „ich habe es satt und zwar
richtig.“ Er bestellt einen Whiskey.
„Leute wie ihr gehören auch nicht hierhin, das sehe ich ein.“
Floyd trinkt sein Glas leer und bestellt sich neuen Whiskey. „Und jetzt?
Gehst du weg?“
„Ich kann Jane doch nicht im Stich lassen.“ Bill bestellt
ebenfalls ein neues Glas. „Ihr gefällt es hier. Zumindest besser
als mir.“
„Aha“, macht Floyd.
„Wir hatten eine kleine Meinungsverschiedenheit“, sagt Bill.
„Nichts Wildes, aber ich hatte das Gefühl, mal raus zu
müssen.“
Jane weiß, dass es für Bill eine schwierige Situation ist und hat
ihn deshalb ziehen lassen. Doch bald hält sie es nicht mehr aus und
verlässt ebenfalls das Haus. Sie geht zum ersten Ort, an dem wohl die
meisten jemanden nach einer Auseinandersetzung vermuten würden, und
tatsächlich findet sie Bill an der Theke der Bar. Sie setzt sich neben
ihn und bestellt auch einen Whiskey. „Alles klar?“ fragt sie Bill,
der offenbar schon ein paar Gläser getrunken hat.
„Ja“, sagt Bill. „Woher wusstest du, das ich hier bin?
“
„Wo solltest du sonst sein?“ lautet ihre Gegenfrage.
„Tut mir leid, dass ich dir vorgeworfen habe, den Ruhm zu
genießen. Ich weiß, dass du nicht so bist.“
„Schon in Ordnung“, erwidert Jane. „Ein bisschen stimmt es
ja schon.“ Bill grinst sie an.
„Fehlt dir die Prärie nicht?“ fragt er.
„Doch. Sehr sogar.“ Sie trinkt ihr Glas leer. „Ich kann
zurück, das weiß ich. Ich kann mich unter einem Stein verkriechen
oder auf einem Baum leben oder sonst wo, aber das will ich nicht. He
Freund!“ ruft sie dem Wirt zu, „bring mit bitte noch so
einen“, und dann wieder zu Bill: „Ich kann Jim und Jeff sehr gut
verstehen. Ich weiß, warum sie die Prärie bevorzugen, aber ich will
nicht eines Morgens aufwachen und feststellen, dass mich die Zeit eingeholt
hat.“ Nachdem Jane ihr zweites Glas leer getrunken hat, gehen sie wieder
in Mels Wohnung.
35
Bill hat sich oft gefragt, was seine beiden Brüder machen und wie es
ihnen wohl geht. Er steht hinter dem Vorhang, ist aber nicht in der Lage, auf
das zu achten, was auf der Bühne passiert. Ab und zu tritt er hinaus und
spielt seinen Teil mit Jane, wobei er wieder ganz da ist, um dann hinter der
Bühne wieder seine Gedanken nachzugehen.
„Alles klar, Bill?“ fragt ein Schauspieler im Vorbeigehen.
„Ja, ja“ antwortet er gedankenverloren. Jane, die sich vom Trubel
etwas entfernt hat, tritt neben ihn.
„Hör zu, wenn du hier nicht mehr mitmachen möchtest, dann sag
es.“
„Ich glaube, Shotgun Jane braucht einen Wild West Mann als
Begleiter“, Bill sieht sie an und lächelt. „Was meinst du?
“
„Wie du willst“, sagt Jane und sieht sich um.
„Woran denkst du gerade?“ fragt Bill.
„Ich will auch zurück. Ich möchte sehen, ob die beiden es
tatsächlich geschafft haben“, lächelt sie.
„Los, macht euch fertig. Gleich seid ihr dran!“ Sie machen sich
bereit, die Komödie weiter zu spielen.
An diesem Abend liegen sie zusammen im Bett und halten sich in den Armen. Bill
denkt daran, wie Jane ihn einmal wegen des Duells gefragt hatte.
„Du wolltest doch wissen, was es mit dem Duell auf sich hatte“,
sagt er und sieht sie an.
„Ja“, sagt Jane.
„Ich werde dir alles sagen, was du wissen willst, Jane“,
fährt er fort und streichelt ihr über den Kopf.
„Wusstest du, dass du gewinnen würdest?“
„Nein.“ Er sieht zur Decke.
„Hattest du keine Angst?“
Bill sieht sie wieder an. „Für Angst bleibt da nur wenig Zeit, ich
musste einfach hoffen.“
Später liegt Bill noch immer wach. Er erhebt sich vorsichtig, um Jane
nicht zu wecken und schleicht ins Wohnzimmer. Bill setzt sich auf einen
bequemen Sessel an den kleinen Tisch und denkt an seine Brüder, die
irgendwo da draußen eine Ranch haben und merkt nicht, dass Jane ins
Zimmer gekommen ist.
„Was ist los?“ Bill, in Gedanken versunken, fährt herum.
„Tut mir leid, ich wollte dich nicht erschrecken.“
„Schon gut.“ Bill lässt den Kopf auf die Kopflehne
sinken.
Jane setzt sich zu Bill auf den anderen Sessel. „Entschuldige, dass ich
dir das hier angetan habe“, beginnt sie, „ich habe gar nicht an
dich gedacht und habe auch noch zugelassen, dass du mir folgst. Morgen fahren
wir zu Jim und Jeff.“
36
Die Ranch in West Virginia ist jenem Haus nachempfunden, das den Eltern der
Clarence-Brüder gehört hatte. Es ist 1868 und es ist ein angenehmer
Dienstagmorgen. Jim ist auf die Weide der Ranch hinausgegangen, hat die
Hände in die Hüften gestemmt und sieht sich um.
„Gibt’s da was zu sehen?“ fragt Jeff, der hinter Jim
getreten ist.
„Nein. Ich wollte nur einen Blick über die Ranch werfen“,
antwortet Jim.
„Und? Haben wir das gut gemacht?“
„Und ob!“ Jim wirft Jeff zu Boden und die beiden wälzen
sich wie kleine Kinder hin und her.
„He, ihr zwei!“ ruft plötzlich jemand, „ein Telegramm
aus New York!“
„New York!?“ fragt Jeff und rappelt sich auf.
„Von Bill und Jane!“
„Verdammt, Clark, bin ich froh, das zu hören!“ Jim und
Jeff überqueren die große Weide, bis sie an den Holzzaun gelangen.
„Was steht drin?“ fragt Jeff.
„Sie wollen kommen“, sagt Clark, „sie wollen ein paar Wochen
bleiben. Um sich davon zu überzeugen, dass ihr es wirklich geschafft
habt.“ Er blickt Jeff an.
„Danke“, lächelt dieser freudestrahlend.
„So, ich muss dann wieder“, sagt Clark.
„Wir müssen auch langsam an die Arbeit“, sagt Jim.
„Kommt doch mal wieder auf ein Whiskey vorbei!“ Clark sieht zu
Jeff.
„Wenn ihr irgendwann weniger zu tun habt, gerne“, sagt dieser.
Clark reitet wieder davon.
Jim und Jeff arbeiten den ganzen Tag. Sie brandmarken ihre Rinder. Wenn die
Tiere schlachtreif sind, wechseln sie sich normalerweise ab den Treck in die
Stadt zu machen. Manchmal gehen sie auch zusammen.
Sie haben ein gutes Verhältnis zu ihren Arbeitern. Wilson, der von
Anfang an auf ihrer Ranch ist, bleibt oft bei ihnen und sie trinken öfter
bis spät in die Nacht. Dabei reden sie über Gott und die Welt. Auch
an diesem Abend ist Wilson da.
„Ich verstehe nicht, wie ihr das so lange aushalten konntet.“
Wilson schiebt sich gerade ein Stück Fleisch in den Mund. „Ich
meine, ihr habt immerhin ein Jahr nichts voneinander gehört.“
„Jane mag ja recht haben, dass unser wildes Leben hier draußen
bald zu Ende geht. Aber dieses Leben in der Stadt ist einfach nichts für
uns“, fügt Jeff hinzu.
„Sie meint wirklich, es wird so kommen?“ fragt Wilson.
„Ja,“ sagt Jeff.
„Ich finde, sie übertreibt“, sagt Wilson.
„Tja“, mach Jim und sieht zu seinem Bruder..
„Wir akzeptieren ihre Entscheidung“, sagt Jeff. „Es mag ein
Fehler gewesen sein, dass Bill mitgegangen ist, aber sie lieben sich und sich
zu trennen wäre ein noch größerer gewesen.“
„Na, solange das für euch in Ordnung ist, bitte sehr“, sagt
Wilson.
„Es ist in Ordnung, wenn es für sie in Ordnung ist“, sagt
Jim.
An diesem Tag steht ein neuer Viehtreck in die Stadt bevor. Jim, Jeff und ein
paar Cowboys bringen die schlachtreifen Tiere zum Schlachthof. Während
des Weges haben die beiden Brüder genug Zeit, Bills und Janes Ankunft zu
besprechen und die Dinge zu planen, die noch erledigt werden müssen.
Einige der Cowboys haben sich auf der Ranch eingerichtet, aber die meisten
kommen aus der Stadt, die gut anderthalb Stunden entfernt ist. Das bedeutet
für Jim und Jeff, dass sie eines der belegten Zimmer frei räumen
müssen. Das bedeutet wiederum, einen der Männer vorübergehend
aus der Ranch auszuquartieren. Die Entscheidung fällt auf Earl, der erst
seit ein paar Monaten dabei ist. Er ist damit einverstanden, Bill und Jane
sein Zimmer zu überlassen, wenn diese ankommen.
„Ich kann ja mal gucken, ob ich solange bei Wilson oder bei Taggert
unterkommen kann“, sagt Earl, als sie sich wieder auf dem Rückweg
befinden.
„Ja, ansonsten schau ich mal, ob ich nicht irgendwo in der Stadt was
für dich finde“, erwidert Jim.
„Quatsch“, sagt Jeff, „es findet sich sicher eine bessere
Lösung.“
Earl reitet zu Wilson rüber. „Will!“ ruft er ihm zu. Sie
unterhalten sich kurz. Wenige Minuten später ist er wieder neben Jim.
„Alles klar“, sagt er und dann fügt er lachend hinzu:
„Das wird bestimmt lustig, ein Haufen Whiskey und jede Menge Spaß.
Ich kann euch ja auf dem Laufenden halten.“
„Ich kann’s mir schon vorstellen“, sagt Jim. “Was ist
mit deiner alten Wohnung?“
„Ist nicht mehr zu haben. Da wohnen jetzt andere drin“, erwidert
Earl.
Seit er bei den beiden arbeitet, hat er seine alte Wohnung aufgegeben und ist,
um sich den weiten Weg von der Stadt bis zur Ranch zu sparen, direkt mit einen
Mann namens Carl bei Jim und Jeff auf der Ranch eingezogen.
37
Am nächsten Tag sind sie gerade bei der Arbeit, als aus der Ferne zwei
Männer und eine Frau auf die Ranch zureiten. Als die Reiter näher
kommen, erkennen die Brüder Bill und Jane, die von Clark begleitet
werden. Sie gehen zum Gatter und öffnen es.
„Wen hast du uns denn da mitgebracht!?“ ruft Jim Clark zu.
„Ich dachte, ihr könntet noch ein wenig Gesellschaft
vertragen!“ ruft Clark zurück.
Als sie auf die Weide reiten, ruft Bill: „Ihr habt euch vielleicht hier
draußen gut versteckt!“ Sie steigen ab und umarmen sich.
„Dann stimmt es also doch.“
„Natürlich stimmt es. Wie geht es dir, Jane?“
„Kann nicht klagen“, erwidert sie. Zusammen gehen sie ins Haus.
„Ich bin Wilson.“ Wilson reicht ihnen die Hand und Bill und Jane
stellen sich ebenfalls vor.
„Kommt, nachher zeigen wir euch alles in Ruhe“, sagt Jim.
„Ruht euch erst mal aus und fühlt euch wie zu Hause.“
38
Nachdem sie sich frisch gemacht haben, führen Jim und Jeff die beiden auf
der Ranch herum und zeigen ihnen alles.
„Davon habt ihr schon immer geträumt, ich weiß“, sagt
Bill und wendet sich an Jane. „Schon als wir klein waren, sagten sie
immer, dass sie irgendwann eine Ranch haben wollten.“
„Unser ganzer Stolz“, sagt Jeff. „Wie wär’s?
Wollt ihr euch ein wenig nützlich machen?“
„Wenn ihr Arbeit für uns habt“, sagt Jane.
Dann helfen sie unter de Anleitung von Jim und Jeff den ganzen Tag auf der
Ranch. Am Abend sitzen sie im Haus und hören dem Regen zu, der jetzt
gegen die Fenster prasselt. Er hatte sich den ganzen Tag schon durch dicke
Wolken angekündigt.
Am nächsten Tag warten weitere Arbeit auf sie.
„Jane“, sagt Jim. „Kannst du damit umgehen?“ Er
hält ihr ein Brandeisen hin.
„Zeig mir wie es geht“, antwortet sie und zusammen mit Jim
brandmarkt sie die Rinder.
39
Dennoch vermisst Jane den Trubel der Großstadt. Ihr fehlt New York und
sie vermisst das Gefühl sich endlich niederzulassen und kann es sich doch
nicht vorstellen. Jane erzählt Jim und Jeff von ihrem Dilemma.
„Wieso bringt dich das auf einmal aus dem Gleichgewicht?“ fragt
Jeff.
„Ich weiß nicht. Ich hatte nie einen Ort, an dem ich mich richtig
niedergelassen habe. Das alles ist neu für mich. Es ist neu, ein Zuhause
zu brauchen und es ist neu, eines zu vermissen“, sagt sie. Jane wehrt
sich am Anfang gegen diesen Gedanken. Möchte nicht wahrhaben, dass auch
sie straucheln kann. Sie will nicht, dass Jeff ihre Schwäche sieht. Nicht
dieses mal.
„Die Ranch ist sehr schön“, sagt Jane um ihre Zweifel zu
überspielen.
„Ja, es ist unserem Elternhaus nachempfunden“, sagt Jeff.
„Hat sicher lange gedauert sie zu bauen“, erwidert sie und
versucht zu lächeln.
„Wir sind auch noch nicht lange im Geschäft. Es hat ein Jahr
gebraucht, bis alles fertig war“, sagt er. Am nächsten Tag
möchte Jim Bill und Jane in die Stadt mitnehmen, um im Saloon ihre
Ankunft zu feiern und gesagt, getan: An diesem Abend gehen sie in den Saloon
der Stadt und nehmen sich einen Tisch. Jim spendiert ihnen die erste Runde und
dann wechseln sie sich ab.
„So“, sagt Jeff nach der dritten Runde, „sind wir also alle
wieder zusammen.“
„Ich hoffe, das bleibt so“, meint Bill.
„Ich weiß, dass du lieber hier bist“, sagt Jane.
„Du nicht?“ Bill sieht sie an.
„Ich fühle mich hier auch ganz wohl.“ Sie steht auf.
„Neue Runde?“
„Gerne“, sagt Jim. Um kurz vor Mitternacht kehren sie wieder auf
die Ranch zurück.
40
Es dauert vier ganze Tage, bis sie sich Bill schließlich anvertraut, als
sie zusammen die Jungtiere einfangen, damit sie gebrandmarkt werden
können.
„Jane“, sagt Bill. „Ich liebe dich.“
„Mir ist bewusst, dass ich dieses Leben hier nicht für immer
führen möchte und mir ist auch bewusst, dass es dann bedeutet, euch
für eine lange Zeit nicht mehr zu sehen.“ Jane sieht zu Boden.
„Ist es dir ernst?“ fragt er.
„Ich weiß es nicht“, antwortet Jane.
„Ich bitte dich nur, nochmal darüber nachzudenken, Jane. Ich
brauche dich und die anderen brauchen dich auch“, sagt Bill und nimmt
ihre Hand.
„Gut, mach ich.“ Und sie machen sich wieder an die Arbeit.
Jane hatte sich Bills Bitte tausendmal durch den Kopf gehen lassen, ohne in
dieser Frage weiter gekommen zu sein. Doch jetzt auf dem Weg zum Bahnhof sagt
sie kein Wort. Sie ist am frühen Morgen sofort aufgebrochen, weil sie
befürchtete in Tränen auszubrechen, wenn sie länger bleiben
würde.
„Ihr seht euch wieder“, sagt Clark, der sie zum Bahnhof begleitet.
„Ich hoffe es, Clark, ich hoffe es“, sagt sie traurig. Am
Bahnsteig weiß sie nicht, was sie denken oder fühlen soll, aber im
Zug ist das Gefühl von Trauer auf einmal nicht mehr so schlimm.
„Es ist schwer abzuschließen“, sagt eine ältere Dame,
mit der Jane ins Gespräch gekommen ist. „Aber ich sage Ihnen mal
was, junge Lady. Irgendwann kehrt man zu dem, was man liebt, immer
zurück.“
„Ich hoffe nur, Sie haben recht“, sagt Jane.
„Warum sind Sie denn weggegangen, wenn Sie nicht wollten? Ich hoffe, die
Frage stört Sie nicht“, fragt die Dame. Jane sieht aus dem Fenster.
„Was für ein schöner Tag“, weicht sie der Frage aus.
Die Dame hat bemerkt, dass Jane nicht antworten will, und sagt: „Oh, ja.
Seit ein paar Tagen ist es richtig schön, das stimmt.“
In New York angekommen, macht sie sich wieder auf dem Weg zu Mel. Ob sie nun
in der Theaterproduktion mitspielen wird oder nicht, sie muss irgendwo
unterkommen und ihre einzige Adresse ist Mel. Dieser staunt nicht schlecht,
Jane alleine vor seiner Tür stehen zu sehen.
„Ich glaube nicht, dass das gehen wird“, sagt Mel, als sie am
Abend im Wohnzimmer sitzen.
„Ich auch nicht, Mel. Aber irgendwas muss ich machen“, erwidert
sie.
„Ich kann ja mal mit den Leuten reden“, sagt Mel, „aber
erwarte nicht zu viel.“
Einen Job im Theater bekommt sie natürlich nicht und Jane gibt sich damit
zufrieden, im ‚Heaven’s Gate‘ hinter der Theke zu arbeiten.
Die Abende sind hart, und die Nächte sind noch viel anstrengender, doch
Jane findet trotzdem Gefallen daran.
„Hätte nicht gedacht, dich noch mal wiederzusehen“, sagt
Floyd und bestellt einen Whiskey.
„Ich auch nicht“, erwidert Jane.
„Wo wart ihr? Und wo ist Bill?“ fragt er.
„Wir waren bei Jim und Jeff. Sie haben jetzt eine Ranch und Bill ist
dageblieben.“ Sie macht sich wieder daran die anderen Gäste zu
bedienen.
„Jane!“ ruft Floyd und Jane kommt zu ihm. „Wenn es die
einzige Möglichkeit ist, mit dir zu reden, dann bestelle ich noch
einen.“ Er trinkt sein Glas leer.
„Was ist?“ fragt sie während sie ihm einschenkt.
„Du bist allein hier?“
„Ja“, erwidert Jame. Als die Bar schließt, gönnt sie
sich selber ein paar Gläser und geht zu Mel zurück.
41
Die Lieder, die der junge Mann spielt, handeln von Trauer, Liebe und Menschen,
die am Scheideweg die falsche Richtung eingeschlagen haben. Don Miller kam vor
zwei Tagen nach New York. Nun steht er vor der Bar. Überdrüssig des
Herumreisens und sehnsüchtig nach einem kühlen Bier beschließt
er hinein zu gehen. Mit seiner Gitarre geht er an die Theke.
„Jane!“ ruft er. „Jane!“
„Kennen wir uns?“ fragt sie, als sie den neuen Gast
begrüßt.
„Ich kenne dich, auch wenn ich nicht ganz weiß, was ‚Shotgun
Jane‘ ausgerechnet hier zu suchen hat. Kann ich bitte ein Bier haben?
“
„Kommt sofort.“ Sie wendet sich ab und kommt nach ein paar Minuten
mit dem Bier wieder.
„Wann hast du Schluß?“ fragt der Mann.
„Wie heißt du denn überhaupt?“ erwidert Jane.
„Don.“
„Schön, Don“, sagt Jane. „Das hier dauert noch etwas,
aber wenn meine Schicht zu Ende ist, dann ja.“
„Ich warte hier.“ Don setzt sich auf einen der Barhocker.
„Was machst du in New York, Don?“ fragt Jane, als sie zwei Stunden
später die Bar verlassen.
„Ich bin Musiker“, antwortet er. “Ich habe vor, einen Platz
zu finden, an dem ich spielen kann.“
„Was spielst du so?“ Jane sieht ihn an.
„Eigene Sachen. Meine Lieder handeln von der dunkleren Seite des
Lebens“, sagt Don.
„Die dunklere Seite des Lebens?“
„Ja, weil es eben oft das Schlechte ist, mit dem sich Menschen
identifizieren. Ich versuche eine Antwort auf diese verwirrende Zeit zu geben.
Die Menschen sollen sich in meinen Liedern wiederfinden“, sagt Don. Jane
denkt darüber nach und sieht zu Boden.
„Wirst du weiter ziehen?“ fragt sie schließlich.
„Ja. Ich bin wie du, mich hält nichts lange an einem Ort.“
„Ich weiß eigentlich gar nicht, ob ich weiterziehen will“,
gesteht sie.
„Was meinst du?“ fragt Don verwundert.
„Vielleicht habe ich meinen Platz hier gefunden.“ Dann fügt
sie hinzu: „Komisch, ich hatte die ganze Zeit Angst es
auszusprechen.“
„Jane“, Don sieht sie an. „Ich bin schon viele Jahre vom
Leben in der Prärie fasziniert und viele meiner Lieder handeln auch
davon. Egal wer oder was du mal gewesen bist, aber dein Platz ist dort.“
Drei Tage später gehen Jane Dons Worte noch nimmer nicht aus den Kopf.
Sie sitzt an einem Tisch im Heaven’s Gate und starrt gedankenverloren
auf ihr Whiskeyglas.
„Gehöre ich hierher?“ fragt sie Mel, der ihr an diesem Abend
Gesellschaft leistet.
„Die Frage ist, ob du hier glücklich bist, Jane. Ich glaube es
nicht“, antwortet Mel.
„Sag mir was du denkst.“ Jane trinkt ihr Glas leer.
„Ich denke, du hast eine lange Zeit unter Cowboys gelebt.
Veränderungen machen dich krank und du wehrst dich dagegen, so sehr du
auch versuchst, sie in dein Leben zu lassen. Du bist konservativ. Wenn du hier
bleibst, musst du mit den Konsequenzen leben“, sagt Mel. Jane geht an
den Tresen und bestellt noch einen Whiskey. Sie trinkt zwei weitere und
verlässt ohne Mel das Heaven’s Gate.
Dann schlendert Jane, leicht beschwipst, die Straßen entlang, als sie
auf einmal Gesang hört:
Oh, I come at home at dawn but I don’t know if it’s
My home, cause everything seams so strange and
wild. I can’t see the way it was back than.
Jane überquert die Straße und geht in Richtung des Gesangs, der von
Gitarrenmusik begleitet wird.
So please tell me, where I really belong to and show
me the long road back home, I ain’t see the way no
more I´m travelling. Please take my hand and show
me the way out of the dark.
As a little child I dreamed I was a traveler who travels
through the land and goes everywhere the good Lord
leads me to. Now I’m sitting here and ask myself why
everything is so complicated. I wish I was back home
again.
So please tell me, where I really belong to and show
me the long road back home, I ain’t see the way no
more I am travelling. Please take my hand and show
me the way out of the dark.
Take my hand and show me the way out of the dark.
„Hallo Jane“, sagt Don. Jane greift in die Tasche und legt Don
einen Dollar in den Hut. Nach einer ganzen Weile, in der sie ihm zugehört
hat, geht sie schließlich zurück, doch wird ihr diese
zufällige Begegnung tagelang nicht mehr aus den Kopf gehen.
42
Ich schreibe dies auf, weil sich bald niemand mehr an die Geschichten erinnern
wird, die der wilde Westen zu verbergen vermag.
Neun Jahre sind vergangen, seit Jane ihre keine Stadt in Texas verlassen hat.
Sie ist dabei, ihre Memoiren zu schreiben, die sich über die Jahre
angesammelt haben. Mel hatte ihr vorgeschlagen, dies zu tun, nachdem sie sich
zum Bleiben entschieden hatte.
Mein Name ist Mary Jane Thomson. Ich stamme aus einfachen Verhältnissen.
Mein Vater war Rancher und meine Mutter kümmerte sich um das Haus. Es
gibt nicht viel, was ich bis hierhin sagen kann, aber ich möchte dennoch
einige Sachen loswerden, die ich noch kaum jemanden anvertraut habe. Ich muss
sechzehn oder jünger gewesen sein, als ich anfing, von den endlosen
Weiten der Prärie zu träumen. Da ich in keinem besonders guten
Umfeld aufwuchs, war dies die einzige Möglichkeit für mich meinem
Alltag zu entfliehen. Wir wohnten in einem abgelegenem Haus, irgendwo der
Steppe. Vater war oft wochenlang unterwegs um ein paar Dollar zu verdienen.
„Jane“, sagt eine Stimme, „was machst du da?“ Vor ihr
steht Floyd mit einem Glas Whiskey in der Hand.
„Ich schreibe meine Memoiren“, sagt sie.
„Dann störe ich dich nicht länger dabei“, sagt Floyd und
dreht sich wieder um.
„Floyd“, sagt Jane. Floyd dreht sich um. „Bringst du mir
auch ein Glas?“
„Sicher.“ Jane sieht, wie er zwischen den Menschen verschwindet
und Augenblicke später mit einem Glas zurück kommt.
„Danke“, sagt sie und beugt sich wieder über ihr Blatt.
In einer dieser Städte lernte er eine Frau kennen, die er sehr mochte.
Kurz darauf machen wir uns auf den Weg in die Stadt und ließen uns dort
nieder. Dort kam ich mit Geschichten über Banditen, Cowboys und
Verbrecher in Kontakt und sie haben mich begeistert. Eine dieser
Verbrecherbanden sollte mein Leben für immer verändern. Ich kann
noch heute mein Herz schlagen hören, wenn ich an jenen Moment
zurückdenke, an dem ich das erste Mal mit den Gewehr und den Sachen
meines Vaters im Saloon vor diesen Männern stand …
Jane schreibt alles auf, woran sie sich noch erinnern kann. Sie hat ein guten
Leben gehabt, hat ein erfülltes Leben geführt, das keine
Wünsche offen gelassen hat.
Zwei Abende später sitzt Jane mit Floyd am Tisch. Floyd ist sichtlich
beeindruckt von Janes Vorhaben ihre Erinnerungen niederzuschreiben.
„Whiskey? fragt Floyd sie.
„Ja“, antwortet Jane und als er mit dem Glas wiederkommt, fragt
er: „Darf ich mal sehen?“
„Sag mir, ob es dir gefällt.“ Jane überlässt ihm
die Blätter.
Nach einer Weile sagt Floyd: „Das ist gut.“
„Danke“, erwidert Jane und trinkt einen Schluck.
„Was machst du damit?“ Floyd trinkt sei Glas leer.
„Vielleicht schick´ ich es an eine Zeitung“, sagt Jane
„Das solltest du!“ Floyd steht auf und geht an die Theke.
„Sag mir wenn’s fertig ist“ Er kommt mit einem Glas
zurück. „Ich lasse es irgendwo drucken.“
„Werde ich.“ Floyd setzt sich zu ihr.
„Für wen schreibst du das?“ fragt Floyd nach einer langen
Pause.
„Für Leute, die es lesen wollen“, sagt sie und beugt sich
wieder über ihr Papier.
„Du hast auch bestimmt viel zu berichten“, entgegnet Floyd. Jane
sieht auf und lächelt ihn an. „Ich könnte nicht mal eine Seite
voll kriegen. Hab einfach zu wenig erlebt.“
Ich behaupte nicht, dass es richtig ist, was wir getan haben. Aber für
mich hat es gereicht. Wir haben am Lagerfeuer gesessen und stundenlang geredet
oder einfach nur in die Ferne gesehen. Doch wir haben auch andere Sachen
gemacht. Jemand fragte mich mal, wie es ist, einen Überfall zu machen.
Ich sage immer, dass man sich darüber klar sein muss, auch mal zu
schießen, wenn es nötig ist.
Dann kam der Junge. Er geriet in die Schussbahn und ich tötete ihn. Ich
habe Wochen gebrauch, um darüber hinwegzukommen und noch heute
erschaudere ich bei dem Gedanken. Jeff ist in dieser Zeit nicht sehr
einfühlsam gewesen, aber ich möchte sagen, dass ich ihm das
verzeihe.
Irgendwann kam dann der Krieg. Jim und Jeff waren fest entschlossen, sich ihm
anzuschließen, worüber ich nicht sehr begeistert war. Wir hatten
uns in einer Stadt in South Alabama niedergelassen und dort unterrichteten sie
uns von ihrem Vorhaben. Es war keine leichte Zeit für Bill und mich und
das war die Zeit, in der wir uns näher gekommen sind.
Nachdem sie beschlossen uns für eine Weile im Stich zu lassen und nach
Europa zu gehen, hatten wir angefangen, eine Art Gleichgültigkeit ihnen
gegenüber zu entwickeln ….
An diesem Nachmittag sitzt Jane mit Mel im Wohnzimmer und liest sich alles
durch.
„Daddy? Was bedeutet Gleichgültigkeit?“ fragt Timothy, der
bei ihnen im Raum spielt.
„Das bedeutet, wenn einem etwas nichts mehr ausmacht“, antwortet
Mel.
„Ja, und wir haben uns irgendwann gedacht: ‚Bleibt doch da,
wenn’s euch so viel Spaß macht.‘“
„Wohin gingen sie?“ fragt Mel.
„Nach Paris. Sie sind über eine Freund aus der Army dorthin
gelangt oder so“, sagt sie.
„Woher wusstet ihr das? Haben sie euch geschrieben?“
„Nein. Sie haben es es nie gelernt. Die beiden haben es uns
erzählt“, Jane sieht zu Boden. Das sind Dinge, an die sie sich
nicht gerne erinnert, Dinge, die jedoch jetzt zu ihr gehören und
Dinge, die vorbei sind.
„Es ist schwer, ganz von vorne zu beginnen“, sagt Mel. „Ich
weiß das aus eigener Erfahrung.“
43
Am selben Nachmittag kommt Jane ins Heaven’s Gate, wo Floyd und Fran
sich bei einen Kaffee unterhalten.
„Ist nicht ganz nach Plan gelaufen, das letzte Mal“, sagt Fran.
„Allerdings“, entgegnet Jane und setzt sich.
„Ich bin ein Arsch.“ Fran sieht sie an.
„Manchmal sind wir das alle“, sagt Floyd.
„Floyd hat mir erzählt, du schreibst deine Memoiren?“ fragt
Fran.
„Ja. Das ist richtig“, erwidert Jane.
„Ich hab noch Kontakte zu einigen Leuten aus meiner Zeit bei der
Zeitung“, sagt Fran. „Ich kann mit denen reden, wenn ich sie
sehe.“
„Er trifft sich hin und wieder mit seinen Jungs auf ein paar
Drinks“, sagt Floyd.
„Das klingt ja nicht schlecht“, sagt Jane.
„Ich hol mir jetzt erst mal einen Whiskey. Will jemand von euch auch ein
Gläschen zum warmwerden?“ Beide lehnen ab und Fran geht zum Tresen.
„Genau deswegen haben sie ihn rausgeworfen. Vielleicht rede ich besser
mit denen“, sagt Floyd. „Ich kenne die nämlich auch. Fran hat
mich schon oft eingeladen.“
„Ja, vielleicht ist das wirklich besser“, erwidert Jane
lächelnd. Fran kommt mit seinem Drink zurück und setzt sich wieder
an den Tisch.
„Hab ich was verpasst?“ fragt er.
„Nein, alles gut“, antwortet Floyd. Er dreht sie zu Jane.
„Sag mal, bleibst du jetzt hier oder gehst du wieder weg?“
„Ich denke, ich bleibe“, sagt Jane.
44
Die Wut, die Bill in all den Jahren Jane gegenüber empfunden hat, ist
verraucht und hat dem Schmerz Platz gemacht. Nachdem auch dieser
einigermaßen verblasst ist, kann er sich nun besser auf die Arbeit auf
der Ranch konzentrieren. Jim und Jeff haben in der Vergangenheit immer
versucht, Bill in die Arbeit zu integrieren und dieser hat das Angebot dankend
angenommen.
Bill, Jim und Jeff stehen nun wie fast jeden Abend mit Carl am Gatter,
während sie die letzten Momente des Tages genießen.
„Die Ranch läuft gut“, sagt Carl. „Besser als
gedacht.“
„Ja, bald können wir uns vergrößern“, sagt Jim.
„Schön, dass du dich wieder gefangen hast“, meint Jeff zu
Bill.
„Es gibt hier ja auch genug zu tun“, erwidert er. Es mag an ihnen
liegen oder an sonst wem, aber wie sie so am Zaun stehen und die letzten
Sonnenstrahlen den scheidenden Tages genießen sind sie sich bewusst,
dass sie einzig und allein hierhin gehören. Sie würden nirgendwo
mehr hingehen. Hätten sie geahnt, dass alles bald vorbei sein würde?
Hätten sie auch nur einen einzigen Gedanken daran vergeudet, dass es nur
zwanzig Jahre dauern sollte, bis diese Ära endet? Aber noch ist es nicht
so weit, noch dürfen sie sich ihren Träumen hingeben und die sind
bescheiden: Jim, Jeff und Bill wollen einfach nur für die Ranch da sein
und sich um sie kümmern, solange sie können.
45
Der Ruf dieser endlosen Weiten zieht jeden an, der mit ihm aufgewachsen ist.
Jane ist noch nicht am Ende ihrer Reise, doch weiß sie, dass sie nicht
mehr lang ist. Sie hat mit den Clarence gelacht, sie hat mit ihnen gelitten
und sie wäre beinahe zerbrochen.
Ihr Leben ist eine verrückte Reise und sie möchte keinen Moment
davon missen. Doch auch Zweifel, gehören dazu. Man kann stolpern und
wieder aufstehen, man kann weinen und sich irgendwie daran erinnern, dass es
noch ein Morgen gibt, man kann fallen und hoffen, dass man Freunde hat, die
einen an die Hand nehmen und für einen da sind.
An diesen Punkt ist Jane angekommen. Seit Wochen sitzt sie jeden Abend im
Heaven’s Gate und trinkt einen Whiskey nach dem anderen. Fran, der
sowieso immer für ein paar Gläser zu haben ist, oder auch für
ein paar Gläser mehr, sitzt mit ihr am Tisch und sie trinken zusammen,
bis Mel auftaucht und Jane nach Hause bringt.
„Vielleicht solltest du es mal lassen“, sagt Mel, während
Jane sich an diesem Nachmittag bei einem starken Kaffee von der letzen Nacht
erholt.
„Danke für den Kaffee“, sagt Jane.
„Jane.“
Sie sieht zu Mel, der neben ihr steht, „Woran denkst du gerade?“
fragt sie.
„Ich frage mich, ob du dich zerstören willst“, erwidert er.
„Nein. Das nicht“, sagt Jane.
„Dann hör auf damit“, bittet Mel sie. Doch sie hört
nicht auf. Sie geht zu Fran, sie verlässt ihr Karussell, in dem sich ihre
Gedanken nur um die Frage drehen, wohin sie gehört.
„Wieso ist das alles so beschissen?“ fragt sie Fran nach dem
sechsten Glas und nach dem neunten ist Jane nicht mehr in der Lage ihn noch
irgendwas zu fragen.
Jane liegt im Gästezimmer auf dem Bett und sieht ihn aus kleinen Augen
an, während Mel ihr einen feuchten Lappen an die Stirn hält.
„Jane?“ sagt Mel.
„Hallo … Es tut mir leid“, erwidert Jane und verzieht vor
Schmerzen das Gesicht.
„Was hältst du von einer Auszeit? Wir fahren irgendwohin und wenn
du zurückkommt, bist du wieder Jane“, sagt Mel.
„Und wohin?“ fragt sie leise.
„Raus aus der Stadt“, erwidert er. „Weg von New York. Was
denkst du?“
„Wir drei?“ Jane übergibt sich.
„Wir drei“, bestätigt Mel. „Du musst hier mal raus. Du
sollst es, Jane. Ich habe mit den Wirt gesprochen und er sagte, dass du dich
dort nicht mehr blicken lassen sollst. Ich sagte ihm, dass du dich nur erholen
müßtest.“
„Und?“ fragt Jane.
„Er hat zugestimmt. Jane, solange du so am Ende bist wie jetzt werden
sie dich nicht mehr reinlassen. Lass uns von hier vorgehen. Wenigstens
für eine Weile“, sagt Mel.
„Einverstanden“, sagt Jane.
„Erhol dich. Morgen nach meiner Show gehen wir fort. Egal wohin.“
Er sieht sie besorgt an.
„Können wir nicht die anderen besuchen? Jim und Jeff und
Bill.“
„Sicher“, sagt er leise und lächelt sie an. „Ich
schicke noch heute ein Telegramm ab.“
„Danke.“
„Ich bringe dir erst mal frisches Bettzeug“, sagt Mel und
drückt Jane einen Kuss auf die Stirn. Sie sieht ihn überrascht
an.
Am Abend hört Jane, wie Mel im Wohnzimmer mit seinen Sohn spielt und
stößt dazu.
„Hallo Jane“, sagt dieser.
„Hallo“, sagt Jane.
„Wie geht es dir?“ fragt Timothy.
„Gut. Danke“, sagt sie leise.
„Schatz, lässt du uns mal alleine, ja?“ sagt Mel zu Timothy.
„Gut, Daddy“, Timothy verlässt das Wohnzimmer und Jane setzt
sich Mel gegenüber auf den Sessel.
„Und? Besser?“ fragt er nach einer Weile.
„Ja“, antwortet Jane.
„Ich habe ein Telegramm abgeschickt“, sagt Mel.
„Danke“, Jane lächelt ihn an.
„Was ist eigentlich mit deinen Memoiren? Wann erscheinen sie?“
fragt Mel.
„Floyd kennt jemanden, der Leute von der Zeitung kennt. Ich hab sie ihn
gegeben“, antwortet Jane.
„Weißt du? Ich hab mir nie viel aus euch gemacht Also, aus euch im
Süden. Und ich hätte auch niemals gedacht, dass ich jemanden von
dort mögen würde, bis ich dir begegnet bin. Also euch“,
wechselt Mel auf einmal das Thema.
„Ich hätte auch nie gedacht, irgendwann mal hier zu landen“,
gesteht sie.
„Hat dir das bis jetzt nie was ausgemacht? Hier zu leben?“
„Es hat mir schon etwas ausgemacht. Es ist schwer zu akzeptieren, dass
alles mal vorbei sein wird“, sagt Jane.
„Du stürzt mich in einen Konflikt, Jane. Ich fühle mich, als
könnte ich nicht alles sagen, was ich sagen will“, erwidert Mel.
„Du kannst alles sagen“, sagt Jane.
„Du hast über den Krieg geschrieben. Du konntest die anderen
verstehen“, sagt Mel.
„Ja“, sagt Jane. „Er war richtig. Auch wenn wir verloren
haben. Was sagst du dazu?“
„Nichts. Du bist …“ sagt Mel.
„Was?“ fragt Jane.
„Vergiss es, es ist zu schwer. Ich habe Angst, etwas Falsches zu sagen.
Vermisst du Texas?“
„Ein wenig.“ Jane sieht zu Boden. „Du kennst dieses
Gefühl, wenn dir im Leben etwas fehlt. Ich könnte zurück, aber
ich würde nicht viel davon haben.“
„Ich kenne aber auch das Gefühl, Freunde zu brauchen“, sagt
Mel.
„Ja.“
„Ich weiß, wie der Abgrund aussieht. Nach dem Tod meiner Frau hab
ich, genau wie du, auch das Heaven’s Gate aufgesucht. Ich habe ein
halbes Jahr gebraucht, um wieder da raus zu kommen“, sagt Mel.
„Hattest du in dieser Zeit Freunde, die dir geholfen haben?“ fragt
Jane.
„Ich hatte meine Kollegen vom Theater, die mir in den Hintern getreten
haben, aber ich hätte mir gewünscht Menschen zu haben, mit denen ich
reden konnte“, Mel lächelt.
„Ich habe das Gefühl durchzudrehen, Mel. Es ist mir alles zu viel
im Moment“, sagt Jane und kann seinem Blick nicht mehr standhalten.
„Das wird sich alles ändern“, versichert Mel ihr.
Mel kann ihren Schmerz verstehen. Er kann nachvollziehen, wie Jane sich gerade
fühlt, weil er das, was diese Frau durchmacht, auch schon mal erlebt hat.
Er liegt in seinem Bett und sieht zur Decke. Damals hatte er seine Karriere
als Schauspieler aufs Spiel gesetzt. Er weiß noch, wie ein ehemals guter
Freund, den er am Theater kennenlernte, ihn vor die Wahl stellte: entweder er
reißt sich zusammen oder er würde ihn meiden. Mel, der zu dieser
Zeit eine solche Drohung überhaupt nicht gebrauchen konnte, wünschte
ihm, ebenfalls seine Frau zu verlieren und sagte, dass er auf solche Freunde
verzichten könne. Das war das Ende einer langjährigen Freundschaft.
Seine Gedanken werden unterbrochen, als die Tür aufgeht.
„Mel?“ flüstert Jane und tritt ein.
„Ja?“ flüstert er zurück. Jane tritt neben ihm ans Bett.
Sie zieht ihr Nachthemd aus und schlüpft unter seine Decke. Jane
drückt ihm ein Kuss auf die Lippen. Mel wühlt seine Finger in ihre
Haare und erwidert den Kuss.
„Verzeih mir“, flüstert sie.
„Mach ich“, lächelt Mel zurück. Dann küssen sie
sich leidenschaftlich und nach fünfzehn Minuten ist alles wieder vorbei.
46
Die Zugfahrt ist ruhig und es regnet schon den ganzen Tag über. Jane, Mel
und Timothy haben sich ganz nach hinten gesetzt, doch trotzdem schweigen
sie.
„Hat man dich einfach so gehen lassen? Im Theater, meine ich“,
fragt Jane.
„Nein“, antwortet er. „Hat man nicht.“ Nach den ersten
drei Stunden, in denen sie sich wieder ins Schweigen gehüllt haben,
denken sie über die gestrige Nacht nach. Jane war verzweifelt gewesen und
hatte sich nach Geborgenheit gesehnt. Sie ist Mel dankbar, dass er das alles
für sie tut und ihr so beisteht. Er ist, neben den Clarence-Brüdern,
ihre einzige echte Stütze. Ob Jim, Jeff und Bill noch mit ihr reden
werden, nach ihrer Aktion? Sie hofft es. Nach weiteren zwei Stunden ist sie
des Schweigens überdrüssig geworden und fragt Mel, wo er seine Frau
kennengelernt hat.
„Am Theater“, sagt er. „Sie war Kunstschützin.“
„Kunstschützin?“ fragt Jane überrascht.
„Wir sind gemeinsam als Duo aufgetreten.“
„Hat sie dir Sachen vom Kopf geschossen?“ fragt Jane.
„Ja“, sagt Mel lächelnd. „Du erinnerst mich an sie. Sie
hieß Therese. Aber sie war nur auf der Bühne so. Obwohl das stimmt
nicht ganz, sie ist immer etwas eigensinnig gewesen.“
„Wie meinst du das?“
„Ihre Eltern hatten auch eine Ranch. Immer wenn wir dort waren, ist sie
gerne mit einem Bein auf jeder Seite geritten. Sie war eine begeisterte
Kartenspielerin und Kunstschützin.“ Mel lächelt, als er Janes
überraschtes Gesicht sieht.
„Aber sie war immer elegant gekleidet. Sie war eine tolle Frau. Dann
wurde sie schwanger und ist bei der Geburt gestorben.“ Nach einer
weiteren Ewigkeit des Schweigens sagt Jane:
„Du musst sie noch immer sehr lieben. Du hast viele Bilder von ihr bei
dir zuhause.“
„Ja. aber ich fange an loszulassen, Jane. Wenn ich dir ein Zuhause gebe,
wirst du es dann zulassen?“ fragt Mel. Jane zögert. Und
verlässt das Abteil. An der Bordbar trinkt sie einen Whiskey und bestellt
noch einen.
„Alles in Ordnung?“ fragt der Mann an der Theke.
„Nein“, erwidert sie. Jane kann ihre Gefühle nicht verstehen.
Kann sich selbst nicht verstehen. Und Mel sitzt auf seinem Sitz, redet mit dem
Kleinen und ärgert sich über sich selber. Jane ist nicht betrunken,
als sie an diesem Abend zu Mel kommt. Sie setzt sich wortlos neben ihm und
beobachtet, wie die Landschaft an ihnen vorbeifährt.
47
Die drei Brüder erwarten sie schon am Bahnsteig. Jane, die als erste
aussteigt, rennt ihnen sofort entgegen. Sie rennt Jim so stürmisch in die
Arme, das ihre Hüte herunterfallen.
„Ganz langsam“, sagt Jim.
Nachdem sich alle umarmt und Jim und Jane ihre Hüte aufgesammelt haben,
gehen sie zu den Pferden. Sie reiten im Trapp, da Mel noch nie geritten ist.
„Willkommen daheim“, sagt Jeff.
„Danke“, antwortet Jane. „Seid ihr mir nicht böse?
“
„Nicht mehr“, erwidert Jeff. „Ich war mal richtig
wütend auf dich.“
„Bill, Jim, Jeff. Ich weiß wirklich nicht, was ich mir dabei
gedacht hab“, sagt Jane.
„Bill war ganz schön am Ende“, sagt Jeff. Nach ein paar Tagen
erreichen sie die Ranch.
„Schick“, sagt Jane als sie das Schild über dem Eingang
sieht, auf dem der Name ‚Clarence - Ranch‘ zu lesen ist.
„Das ist neu. Wir beliefern alle großen Städte im
Umkreis“, sagt Bill stolz. Auf der Ranch werden sie bereits erwartet.
Drei Arbeiter, die Jane noch nicht kennt, öffnen das Gatter.
„Ich glaube, sowas zu erleben, habe ich mir mal als Junge
gewünscht“, sagt Mel.
„Hat etwas gedauert, bis dieser Wunsch in Erfüllung gegangen
ist“, sagt Jeff und lacht.
„Ja“, lacht Mel. Dann sind sie da.
„John?“ sagt Jim zu einen der drei Arbeiter.
„Kommt rein“, sagt John. Mel wirkt sichtlich beeindruckt.
„Wenn du schon hierüber staunst“, sagt Jeff, „empfehle
ich dir heute Abend einen kleinen Blick aus dem Fenster zu werfen.“
„Du willst damit wohl sagen, dass man von dieser Ranch aus eine recht
gute Aussicht über die Prärie hat“, schlussfolgert Mel.
„Genug davon, lasst uns jetzt rein gehen“, sagt Jane. Als sie
zusammen um den großen Esstisch sitzen, platzt Mel mit der Neuigkeit
raus:
„Jane hat ihre Memoiren geschrieben“, sagt er. Die anderen sehen
Jane überrascht an.
„Bekommen wir sie mal zu lesen?“ fragt Bill.
„Ist schon in Arbeit“, gibt Jane zurück.
„Eine Zeitung will ihre Memoiren drucken“, sagt Mel.
„Wie lange hast du dafür gebraucht?“ will Jeff wissen.
„Wochen“, sagt Jane. „Ich habe Tag und Nacht
geschrieben.“
„Kinder, wir haben ja auch eine kleine Überraschung für
euch“, sagt Jim und steht auf. Er kommt mit einer Zeitung und einem
breiten Grinsen zurück.
„Nein“, sagt Jane als sie das Titelbild sieht. „Das seid ja
ihr!“
„Richtig“, sagt Jim.
„Zeig mal her“, Jane reißt Jim fast die Zeitung aus der
Hand, als er sie ihr hinhält.
„Ließt man da oben keine Zeitung?“ neckt Jeff die beiden.
„Doch, aber das müssen wir übersehen haben“, sagt Mel.
Nach einer Weile reicht Jane die Zeitung an Mel weiter.
„Von wann ist die?“ fragt Jane.
„Von vor einem halben Jahr“ antwortet Bill. „Einer der
Männer in der Stadt hat sie uns vorgelesen.“
„Solange war ich weg?“ staunt sie.
„Also“, sagt Bill, „wir haben noch ein bisschen vom
Nachmittag übrig. Wollt ihr euch ausruhen oder helft ihr uns ein wenig?
“
„Ich helfe auf jeden Fall“, sagt Jane.
„Und du, Mel?“
„Hm?“ er schaut von der Zeitung auf.
„Willst du dich was ausruhen oder bist du schon einsatzbereit?“
„Also gut“, sagt Mel. Er und Jane helfen auf der Ranch, wo sie nur
können. Sie hat das Gefühl, sich das erstemal seit Wochen wieder
richtig zu spüren und die Tatsache, wieder bei ihren Freunden zu sein,
lässt sie mit einem Mal vergessen, dass es ihr vor gar nicht allzu langer
Zeit so schlecht gegangen ist. Die Arbeit ist anstrengend und am Abend
fällt Jane ins Bett und schläft sofort ein.
„Jane!“ ruft Jeff an diesen Mittag. „Jane! Komm mal
bitte!“
„Ich komme!“ Sie tritt ans Gatter, wo Jeff mit vier jungen
Männern steht. „Ja?“
„Besuch“, sagt Jeff nur.
„Das ist also Jane?“ sagt der eine aus der Gruppe.
„Und ihr seid…?“ fragt Jane.
„Einer von ein Duzend Schaulustiger, die uns seit dem Zeitungsartikel
besuchen kommen“, sagt Jeff.
„Ich bin Todd“, stellt sich der Mann vor. „Schön, euch
mal endlich einmal zu sehen.“
„Ich komme aus Texas“, sagt der andere.
„Da bist du aber weit gereist“, stellt Jane überrascht fest.
„Kann man die anderen auch sprechen?“ fragt der Texaner.
„Tut mir leid“, erwidert Jeff.
„Jane“, meldet sich ein anderer zu Wort. „Ich bin Rob. Ich
habe gehört, du bist mit einem Gewehr zu den Clarence gekommen.“
„Die Show ist zu Ende, Leute“, sagt Jim, der auf das Gatter
zukommt.
„Er hat recht“, sagt Jeff. „Die Pflicht ruft.“
„Stimmt das, Jane?“ beharrt Rob.
„Bist du von der Zeitung? Ja. Stimmt,“ sagt Jane und geht wieder
an die Arbeit. Jim sieht jedoch, das die vier immer noch am Gatter stehen und
sie beobachten. Er will schon was sagen, doch Jane hält ihn zurück.
„Jim, nicht“, sagt Jane „Lass sie.“ Doch nach einer
ganzen Weile hat sie genug und geht nochmals an das Gatter.
„Tut mir leid, Leute aber ihr solltet jetzt gehen“, sagt Jane.
„Ist gut“, sagt einer der Männer. Und dann zu den anderen:
„Kommt.“
Beim gehen sagt Todd zu Jane: „Was du erlebt hast, würde ich auch
gerne mal erleben.“ Dann treten sie den Rückzug an.
„Ja, ja“, murmelt Jane und geht wieder zu Jim.
Als sie am späten Nachmittag eine Pause machen steht Jane in der
Küche und trinkt ein Glas Whiskey. Sie lehnt am Tisch, als Mel mit
Timothy reinkommt.
„Hallo“, sagt Mel.
„Hallo, Jane“, sagt auch Timothy.
„Hallo, ihr zwei“, antwortet Jane.
„Was machst du hier?“ fragt Mel.
„Hast du das vorhin mitgekriegt?“ Jane sieht ihn an.
„Ja, was war da los?“
„Sie wollten uns sehen. Das ist verrückt“, sagt Jane.
„Wer wollte euch sehen?“ fragt Timothy.
Mel beugt sich zu Timothy runter. „Es gibt viele Leute, die Bill, Jim
und Jeff ‚hallo‘ sagen wollen.“
„Warum?“
„Na?“ sagt Jeff, der ebenfalls reinkommt. „Wie geht’s?
“
„Müde“, sagt Mel.
„Du wirkst nachdenklich, Jane“, sagt Jeff.
„Bin ich auch.“ Jeff stellt sich neben sie.
„Weshalb?“
„Was war das vorhin?“ fragt sie.
„Was meinst du?“ gebt Jeff zurück.
„Am Gatter. Wer waren diese Leute?“ Jane, die die ganze Zeit zu
Boden geguckt hat, sieht Jeff an.
„Das geht schon eine ganze Weile so. Alle haben uns ständig nach
dir gefragt“, Jeff nimmt den Hut ab,
„Nach mir?“ fragt Jane.
„Jane, man kann nicht behaupten, dass unsere Geschichte gewöhnlich
ist. Oder deine“, sagt er.
Jane hält Jeff ihr Glas hin. „Stimmt. Das kann man wirklich
nicht.“
Jeff nimmt es und trinkt einen Schluck. „Hat dich das vorhin
gestört?“
„Nein“, erwidert sie. „Hat es nicht.“ Jane
verlässt das Haus und tritt auf die Wiese. Sie geht zu einem der Pferde
und steigt auf. Jeff sieht sie an.
„Mein Pferd“, sagt er. Jane lächelt und reitet los. Nicht,
weil sie diese Freiheit liebt, sondern aus Spaß. Sie galoppiert
über die riesige Fläche und kommt wieder vor Jeff zum stehen.
„Ist es das, was die Leute sehen wollen?“ lächelt sie.
„Genau das“, sagt Jeff und geht auf sie zu. Jane steigt ab und
macht sich, unter den erstauntem Blick von Mel, wieder an die Arbeit.
Die Art, wie Mel sie ansieht, ist Bill schon aufgefallen, als sie alle
zusammen am Tisch saßen. Damals, als Jane fortging, dachte Bill,
könne er sich davon nicht wieder erholen und als er das tat, war er
darüber sehr dankbar; jetzt jedoch bricht dieser Kummer wieder auf. Er
hat versucht, sich auf die Arbeit zu konzentrieren und seine Gedanken so gut
es geht zu verdrängen, doch Jim hat gemerkt, dass mit ihm etwas nicht
stimmt und seinen Bruder bei Seite genommen.
„Was soll ich tun, Jim?“ Bill sieht ihn an.
„Versuch einfach, es nicht an dich herankommen zu lassen“, sagt
er.
Bill sieht wieder zu Boden, „Das sagst du so leicht. Du weißt gar
nicht, wie schwer das ist.“
„Na ja, ich weiß vielleicht nichts direkt über Liebe, aber
ich verstehe dafür einigen von Verlust. Und du und Jeff“, sagt Jim.
„Man kann nichts dagegen tun“, sagt Bill.
„Nein“, erwidert Jim. „Es tut unglaublich weh.“
„Das hätte nicht passieren dürfen“, sagt Bill mit
zitternder Stimme. Und in dieser Nacht ist es Mel, der zu Jane ins Bett
steigt.
48
Fran hatte Jane versprochen, ihre Memoiren zu einer Zeitung zu bringen und das
tat er dann auch. Die New York Times hatte Interesse die Memoiren zu
veröffentlichen, die nur acht Wochen später erschienen. Jetzt ist
Fran im Telegrafenamt, und diktiert aufgeregt die Nachricht, die nach West
Virginia gehen soll.
„Schreiben Sie einfach, dass sie sofort herkommen soll. Die ganze Stadt
ist völlig verrückt geworden“, sagt Fran.
„Entschuldigen Sie, aber ich brauche etwas genauere Angaben“, sagt
der Mann, vom Telegrafenamt.
„Geben Sie mir einfach was zu schreiben“, sagt Fran. Als er einen
Stift erhalten hat, schreibt Fran: Liebe Jane, du musst sofort herkommen. Die
New York Times hat deine Memoiren gedruckt. Komm sofort her, die ganze Stadt
dreht gerade durch. Liebe Grüße, Fran.
„Jetzt entschuldigen Sie mich bitte, ich brauche eine kleine
Nervenstärkung.“ Mit diesen Worten verlässt er das
Telegrafenamt und geht ins Heaven’s Gate.
Acht Wochen später stehen sie alle wieder am Bahnsteig.
„Du kannst uns immer besuchen kommen“, sagt Jim.
„Danke“, antwortet sie. Als der Zug kommt, nimmt Jeff sie in die
Arme.
„Mach’s gut“, sagt er.
„Und lass dich nicht in die Verzweiflung treiben“, fügt Jim
hinzu. Als der Zug eingefahren ist, bleiben Jane, Mel und Timothy noch einmal
an der Tür stehen, drehen sich um und winken.
„Macht’s gut!“ ruft Mel.
„Passt auf euch auf!“ fügt Jane hinzu. Dann steigen sie ein.
In New York ankommen, werden sie bereits von Fotografen und Journalisten
empfangen, die sich am Bahnsteig versammelt haben.
„Hallo Jane. Woher kommen Sie gerade?“ will einer wissen.
„Von der Clarence-Ranch“, antwortet Jane.
„Wie fühlt es sich an zu wissen, dass die New York Times Ihre
Memoiren veröffentlicht hat?“ fragt ein anderer.
„Es ist ein tolles Gefühl. Ich kann es selbst kaum glauben“,
sagt Jane.
„Eine Frage noch …“ Es dauert eine Ewigkeit, bis die drei
in Mels Wohnung angekommen sind.
„Hat sich wirklich so viel verändert, seit wir gegangen sind?
“ fragt Jane, als sie endlich bei Mel sind.
„Scheint so. Hör zu, Jane, ich will Timothy dem nicht aussetzen,
aber wenn du heute Abend in die Bar willst, wäre es besser, wenn ich dich
begleiten würde“, Mel sieht sie an. „Als seelische
Unterstützung.“
„Ja. Ich würde mich wirklich wohler fühlen, wenn du dabei
bist“, sagt Jane. Mel geht zu einem Schrank, wo er schon länger ein
paar Flaschen Whiskey für sie aufbewahrt hat.
„Willst du einen Schluck?“ Jane geht zu einen der Sessel und setzt
sich.
„Ja“, sagt sie. Mel schenkt ihr ein Glas ein und setzt sich zu
ihr.
„Nur wenige Männer wissen, was für eine großartige Frau
in dir steckt“, beginnt Mel.
„Mel, ich …“ sagt sie.
„Das hier ist vielleicht nicht das, was du erwartet hast. Und ich bin
vielleicht nicht der Mann, den du immer gewollt hast, aber du beeindruckst
mich, Jane. Du faszinierst mich und ich fühle mich gut, wenn ich bei dir
bin. Lass mich bitte herausfinden, ob das, was ich für dich empfinde,
wirklich Liebe ist.“
„Ich … weiß nicht ob …“ stammelt Jane.
„Vielleicht beiße ich mir an dir die Zähne aus, Jane. Du bist
nicht einfach und ich weiß noch immer nicht, wer du bist. Doch ich bin
bereit, das auf mich zu nehmen“, sagt Mel.
„Ich brauche Zeit“, bringt Jane heraus, nachdem sie ihre Sprache
wiedergefunden hat.
„Gut. Einverstanden“, sagt Mel und lehnt sich in seinen Sessel
zurück.
Nach einer endlosen Ewigkeit, in der Jane nur einmal an ihrem Glas genippt
hat, sagt sie: „Ich war nie gut in diesen Sachen.“
„Woher willst du das wissen?“ fragt Mel.
„Über die Jahre habe ich eine Abwehrmauer um mich gebaut“,
gesteht sie. „Ich weiß nicht mehr, wer Mary ist.“
„Ich glaube, du willst es nicht wissen“, sagt Mel.
„Ich habe Jahre damit verbracht, sie aus meinem Leben
auszuschließen, Mel. Und Jane ist jemand, der ich nicht mehr bin. Ich
bin nicht Jane. Aber Mary bin ich auch nicht“, sagt sie.
„Du bist hier geblieben, hier in New York. Es ist dir schwergefallen,
aber unter den richtigen Umständen könntest du hier glücklich
sein.“
„Ich habe es versucht. Und Bill am Ende im Stich gelassen.“ Jane
trinkt einen Schluck.
„Jane, du hast das Recht darauf ein Leben zu führen, mit dem du
glücklich bist. Ich werde dich zu nichts zwingen“, Mel steht auf.
„Es wird dunkel. Ich bringe noch Timothy ins Bett und dann gehen wir
raus?“
„Ich will eine Stadtrundfahrt machen“, sagt Jane.
„Ist gut. Ich bin gleich wieder da.“ Sie fahren, bis der Mond hoch
am Himmel steht und reden, bis bis sie nicht mehr wissen, worüber sie
noch reden sollen.
49
Jane weiß, dass sie sich in jener Nacht, als sie nach der Stadtrundfahrt
mit Mel geschlafen hatte, entschieden hat, wo sie sein will und sie weiß
auch, was als nächstes zu tun ist. Sie bittet Mel, ihre wachsende
Popularität zu nutzen, um ein gutes Wort für sie beim Theater
einzulegen, wenigstens ein, zwei mal die Woche als Zwischen-Act. Den Rest der
Woche würde sie in der Bar aushelfen. Ihr Theaterpartner ist Steve, mit
dem sie Schießübungen und Lassokunststücke einstudiert. Jane
sieht es als Chance, um irgendwann so bekannt zu werden, dass sie bald etwas
anderes machen kann.
„Wenn du es schaffst, hier jemals wieder rauszukommen“, sagt
Steve, während der Schießübungen, die sie täglich
absolvieren müssen.
„Ich höre, du magst mich nicht“, sagt Jane.
„Nein“, erwidert Steve. „Du hast viele Menschenleben auf dem
Gewissen.“
Jane, die gerade auf eine Flasche zielt, lässt die Waffe sinken,
„das ist lange her.“
„Aber trotzdem sind sie tot“, sagt Steve. „Bist du stolz
darauf?“
„Nein“, sagt Jane.
„Sondern?“ Steve gibt einen Schuss ab.
„Ich kannte diese Menschen nicht, die ich getötet habe,“ Jane
feuert ebenfalls.
„Das macht es nicht richtiger“, zischt Steve.
„Hör zu! Wir können bis an unser Lebensende darüber
reden, aber richtig wird es nie werden!“
„Ich hoffe, das war es wert“, entgegnet Steve.
„Was war es wert?“ fragt Jane.
„Draußen zu sein. Zu reden und im Freien zu schlafen..“
„Das hat nichts damit zu tun“, sagt Jane.
„Doch“, sagt Steve. „Es hat alles damit zu tun.“
„Steve“, sagt Jane.
„Was?“ fragt er.
„Wenn du mich schon nicht leiden kannst, dann versuche wenigstens mit
mir klarzukommen.“ Steve sieht Jane an.
„Wieso sollte ich das tun?“ fragt er.
„Weil wir ein Act sind. Weil Ich vielleicht als deine Zielscheibe
fungiere und ich keine Lust habe, eine Kugel in der Stirn zu
bekommen.“
„Keine Angst, ich erschieße dich schon nicht“, sagt Steve.
„Ich will es trotzdem“, beharrt Jane auf ihren Wunsch und reicht
ihn die Hand. Steve zögert. „Bitte“, sagt Jane. Steve
ergreift ihre Hand.
„Das macht uns aber nicht zu Freunden“, sagt Steve.
„Ich weiß“, antwortet Jane. „Das erwarte ich auch
nicht.“
Als Jane am späten Nachmittag zur Tür reinkommt, sitzt Mel mit
Timothy auf dem Sessel.
„Wie war’s?“ fragt Mel.
„Gut“, sagt sie. „Ich habe einen Partner, der mich nicht
leiden kann.“
„Autsch!“ Mel sieht wieder zu Timothy.
„Ja. Hoffentlich verschießt er sich auf der Bühne
nicht“, sagt Jane, woraufhin Mel lachen muss.
„Ich habe Timothy erzählt, dass wir nicht nur Freunde sind. Ich
hoffe, das stört dich nicht“, sagt Mel.
„Nein“, erwidert Jane und setzt sich Mel gegenüber.
„Muss ich dich jetzt Mom nennen?“ fragt Timothy.
„Nein. Musst du nicht,“ erwidert Jane.
„Gut“, sagt Timothy.
„Du wirkst glücklich“, stellt Mel fest.
„Mir geht’s auch besser“, sagt Jane.
“Ich möchte, dass du dich hier wohl fühlst“, sagt Mel.
„Es ist immer noch alles so neu“, gibt Jane zurück.
„Du gewöhnst dich daran.“ Mel lächelt sie an.
Es dauert noch etwas, bis Jane und Steve gemeinsam auftreten können. Bis
dahin arbeitet sie jeden Abend im Heaven’s Gate hinter den Tresen. Fran,
betrunken wie immer, wenn er flüssig ist, sitzt auf dem Barhocker und
starrt Jane mit glasigen Augen an.
„Ich habe einen Dollar. Zwei. sogar drei, wenn’s sein muss“,
brabbelt er.
„Nicht mal, wenn du tausend Dollar hättest, Fran. Ich hab mich an
Regeln zu halten“, sagt Jane.
„Du?“ lacht er. „Ohne mich wären deine Memoiren niemals
veröffentlicht worden, Shotgun Jane!“ Ein paar Leute schauen zu
ihnen rüber.
„Jane?“ Floyd kommt in diesem Moment herein.
„Floyd“, sagt sie.
„Haben wir alles im Griff?“ fragt Floyd.
„Wie man’s nimmt“, antwortet Jane. Fran hat es inzwischen
aufgegeben zu verhandeln.
„Was?“ fragt er seinen Nebenan. „Was ist!?“
„Fran!“ sagt Floyd.
“Keinen Whiskey? Hat Mutti es dir verboten?“ neckt er seinen
Freund.„Hä?“
„Na schön, das reicht.“ Floyd packt Fran am Kragen und zerrt
ihn nach draußen.
„Tja“, sagt Janes Kollege. „So ist das.“ Nach ihrer
Schicht geht Jane, ein wenig erschöpft, zurück zu Mel.
„Eigentlich brauchst du das Theater gar nicht, um etwas anderes zu
machen.“ Mel und Jane sitzen sich in den Sesseln gegenüber,
während der Mond durchs Fenster scheint.
„Eigentlich nicht“, sagt Jane.
„Bleibst du trotzdem bei deinem Entschluss?“ fragt er.
„Ja, wenigstens für eine Weile“, sagt Jane.
„Ich weiß jetzt, warum es dir so schwer gefallen ist, dich hier
anzupassen“, sagt Mel. „Aber wir können jederzeit nach West
Virginia. Wann immer du willst.“
„Leider ist es zu weit, um dort so oft hinzufahren“, bemerkt Jane.
„Hast du schon eine Idee, was du nach dem Theater machen willst?“
lenkt Mel ab.
„Nein“, sagt Jane.
„Ich könnte mir vorstellen, dass du gut die Geschichten des Westens
erzählen kannst“, sagt Mel.
„Im Theater?“ fragt Jane.
„Was hältst du davon, wenn wir gemeinsam so etwas machen?“
fragt Mel.
„Und wie?“
„Von Theater verstehe ich auch ein wenig. Ich meine unsere eigene
Produktion“, sagt Mel.
Jane gähnt „Ich bin müde, Mel. Lass uns das morgen
besprechen.“
„Gut, gehen wir zu Bett.“
50
Jim, Bill und Jeff sind an diesen Tag auf den Weg in die Stadt, weil sie eine
Herde Vieh abliefern wollen. Wilson, John, Carl und zehn andere Männer
begleiten den Treck.
„Da hinten ist die Stadt“, sagt Bill.
„Los Männer, legen wir mal ein Zahn zu!“ ruft Jeff.
„Was haltet ihr von Janes Memoiren?“ fragt Jim in die Runde.
„Haben mir gefallen“, sagt Wilson, der neben Jim reitet. Nach
fünfzehn Minuten erreichen sie die Stadt. Sie treiben ihr Vieh durch die
Hauptstraße, als plötzlich ein Schuss fällt.
„Was war das!?“ ruft Jeff, doch da fällt schon der
nächste Schuss. Jim und Jeff springen von ihren Pferden und ziehen ihre
Revolver. Auch die anderen springen ab. Sofort kommen Leute angelaufen und
drei Gestalten springen auf Pferde und flüchten. Wie sich später
herausstellen sollte, handelte es sich bei der Tat um einen Racheakt. Der
Bruder von einem der Schützen, ist bei einem der Clarence-
Überfälle ums Leben gekommen.
„Bill!“ ruft einer der Männer. „Nein!“ Jim rennt
sofort auf die andere Seite, wo Bill am Boden liegt. Er beugt sich über
ihn.
„Bill!“ ruft er. Bill sieht ihn an. Er würgt und Jim
drückt ihm die Hand. Ihm ist, als wollte sein Bruder etwas sagen, doch
einen Augenblick später stirbt Bill. Jim lässt den Kopf hängen
und fängt zu weinen an. Inzwischen ist auch Jeff an seiner Seite.
„Gut dass Sie kommen, Sheriff“, hören sie Wilson sagen.
Fünf Minuten später stehen Jim und Jeff mit dem Sheriff zusammen.
„Nein, keine Ahnung wer das war, Sir“, sagt Jeff niedergeschlagen.
„Bitte“, sagt Jim, „hat das nicht Zeit bis morgen? Wir
können im Moment nicht klar denken, bitte.“
„Gut“, sagt der Sheriff. „Meinetwegen. Aber Sie lassen sich
morgen hier blicken.“
„Natürlich“, sagt Jeff. „Danke.“ Nachdem sie das
Vieh weggebracht haben und noch einmal bei ihrem toten Bruder waren, sitzen
sie alle im Saloon der Stadt, wo Jeff bei einem Glas Whiskey seinen Kopf auf
die Hand gestützt hat und schluchzt. Jim steht neben ihm und drückt
ihm die Schulter.
„Wenigstens sorgen wir diesmal dafür, dass er bei der Ranch
begraben wird“, sagt Jim.
„Ja. direkt davor. Mit Blick auf … auf die Prärie“,
sagt Jeff.
„Er war ein feiner Kerl“, sagt Wilson. „Mein Beileid. Wollt
ihr es Jane sagen?“
„Sie wird kommen wollen. Das ist eine sehr lange Fahrt bis hier
hin“, sagt Jim, der sich etwas beruhigt hat.
„Ihr müsst es ihr sagen“, sagt Wilson.
„Wir müssen erst mal selber damit fertig werden“, sagt Jim.
Nach ein paar Drinks und nachdem sie ein weiteres mal bei Bill waren, befinden
sich Jim, Jeff und die anderen auf den Weg zurück in die Ranch. Jeff muss
den ganzen Weg um Fassung ringen und Jim, der sich ebenfalls kaum noch im
Griff hat, reitet neben ihn. Auf einmal zügelt Jeff sein Pferd, steigt
ab, entfernt sich und fängt an, aus vollem Hals zu schreien. Jim hat
ebenfalls angehalten und geht zu ihm.
„Jeff“, sagt er. Er tritt an ihm heran. „Jeff, bitte“,
sagt er nun unter Tränen. Es folgt ein weiterer Schrei.
Nach einer Pause, in der Jeff mit den Händen auf den Knie gestützt
dasteht, sagt er mit zitternder Stimme: „Alles klar. Wir hatten nur nie
die Gelegenheit, als Brüder wieder zueinander zu finden.“
„Ich weiß“, sagt Jim. Jeff und lässt sich von ihm
in den Arm nehmen.
„Komm, wir reiten weiter.“
„Gut“, Jeff laufen Tränen übers Gesicht. Auch Jim weint.
Doch sie gehen zu ihren Tieren zurück und reiten weiter in Richtung
Ranch. Dort erzählen sie den übrigen Männern was passiert ist
und dass sie heute frei haben. Dann gehen sie ins Haus und setzen sich um den
Tisch herum.
„Nein, wir sollten jetzt klar bleiben. Für Bill“, sagt Jeff
auf Jims Frage hin, ob er noch einen Whiskey wolle.
„Du kannst gehen“, sagt Jim zu Wilson, der an der Tür steht.
„Ich bleibe“, sagt er und setzt sich.
„Wieder besser?“ fragt Jim an Jeff gerichtet.
„Geht so“, antwortet er und sieht seinen Bruder an. Nach einer
Weile steht er auf und geht in sein Zimmer.
„Den hat es echt erwischt“, sagt Wilson. Jim gießt zwei
Gläser Whiskey ein und geht in Jeffs Zimmer. Dieser sieht ihn an und
scheint nichts um sich wahrzunehmen. Doch er nimmt den Whiskey entgegen und
sie setzen sich nebeneinander aufs Bett.
„Komm mit“, sagt Jim nach einer Weile und geht, gefolgt von seinem
Bruder, vor das Haus. Er zeigt auf den Boden. „Was hältst du von
dieser Stelle?“
„Ein bisschen näher an Eingang vielleicht“, erwidert Jeff.
Drei Tage später setzen sie Bill in privatem Kreis bei. Nur wenige aus
der Stadt waren anwesend und Jim bestand darauf den Sarg zusammen mit Jeff in
die Erde zu lassen.
51
Zuerst denkt Jane, die Übelkeit käme daher, weil sie krank werden
würde. Dann, nach ein paar Wochen ahnt sie bereits, dass dem nicht so ist
und nach zwei weiteren Monaten weiß sie sicher, dass sie schwanger ist.
Jetzt sitzt sie mit Mel bei einem Kaffee im Heaven’s Gate. Ihr ist nicht
wohl bei dem Gedanken Mutter zu werden, aber sie ist auch aufgeregt und freut
sich auf das Baby.
„Hast du schon einen Namen?“ fragt Mel.
„Jane“, sagt sie.
„Und wenn’s ein Junge wird?“ Mel lächelt.
„Dann bist du dran“, erwidert Jane. und trinkt ihren Kaffee.
„Geht’s dir gut?“ fragt Mel.
„Das waren alles sehr viele, sehr heftige Neuigkeiten
nacheinander“, sagt Jane. „Das mit Bill, das mit dem Baby. Das
muss ich erst alles in meinem Kopf reinkriegen.“
„Aber du freust dich doch, oder?“ fragt Mel.
„Ja, schon. Aber ich habe es nicht kommen sehen. Ja, ich freue mich auf
das Kind“, sagt sie.
„Du musst dich nur dran gewöhnen“, sagt Mel.
„Das werde ich irgendwann“, Jane lächelt ihn an.
„Ich kann dich verstehen“, sagt Mel. „Wäre ich in
deiner Situation, käme ich auch nicht damit klar.“ Während der
Schwangerschaft ist Jane viel im Haus. Die erste Zeit ist sie noch mit Mel zu
den Proben gegangen, aber während die Wochen und Monate verstreichen,
hält sie sich immer mehr zuhause auf. Mel kümmert sich um sie und
ist auch bemüht, für seinen Sohn da zu sein. Ab und zu gehen sie
noch aus dem Haus, doch sie sind mehr mit der Kutsche unterwegs als zu
Fuß. Als der Entbindungstag immer näher rückt, wirkt Mel zwar
besorgt, doch Jane sagt ihm, dass er auf das, was auch immer passieren wird,
keinen Einfluss hat.
„Ich habe auch Angst“, sagt Jane. „Und ich bin die Letzte,
die will, dass dir sowas noch einmal widerfährt, aber wenn du hier sitzt
und dich verrückt machst, ist das auch nicht gut.“
Dann ist es soweit. Jane bekommt ihr Kind im März, 1871. Trotz ihrer
Bedenken bemüht sich Jane eine gute Mutter zu sein. Sie wiegt ihre Kleine
im Arm und flüstert ständig, wie lieb sie sie hat. Mel bewundert
Janes Ausdauer, weil er weiß, dass er niemals etwas machen würde,
von dem er nicht richtig überzeugt ist. Doch Jane hat sich eigentlich nie
mit solchen Gedanken aufgehalten; wenn es etwas gibt, was unumgänglich
ist, macht sie es einfach. Ausserdem liebt sie Mel, sie liebt die
Aufmerksamkeit und sobald es ihr möglich ist, wird sie Jim und Jeff
besuchen. Jane sitzt auf einen der Sessel und ist gerade dabei das Baby zu
stillen, als Mel mit Timothy hereinkommt.
„Das ist ja ein ganz neuer Anblick. Damit werde ich dich
aufziehen“, sagt Mel.
„Das ist zu grausam“, antwortet Jane. „Aber ich bin
glücklich, doch.“
„Ich hab eine Überraschung für dich“, sagt Mel.
„Erzähl“, sagt Jane.
„Ich war vor vier Tagen im Telegrafenamt und habe ein Telegramm nach
Virginia geschickt und die Nachricht vom Baby verkündet.“ Mel macht
eine Pause. „Jim und Jeff wollten es sich nicht nehmen lassen, die
Kleine zu sehen. Sie haben sich sofort auf den Weg gemacht.“ Jane sieht
ihn mit großen Augen an.
„Hierhin?“ fragt sie ungläubig.
„Hierhin. Nach New York“, Mel lächelt.
„Wann sind sie los?“ fragt Jane.
„Noch am selben Tag“, antwortet Mel und ein paar Wochen
später sind es Jane, Mel, Timothy und die Kleine, die Jim und Jeff am
Bahnsteig abholen. Jane nimmt Jeff in den Arm.
„Jeff, es ist so furchtbar, was passiert ist.“ Jane bemüht
sich, die Fassung zu bewahren.
„He, nicht“, er sieht sie an. Jane wischt sich ein paar
Tränen aus den Augenwinkeln.
„Jane?“, sagt Jim. „Baby?“ Er beugt sich zu der
Kleinen runter.
„Jane, stimmt’s?“ fragt Jeff.
„Ja“, sagt Jane.
„Hallo, Jim.“ Mel reicht ihm die Hand.
„Hallo, Mel“, sagt Jim und schüttelt die Hand, die ihm
hingehalten wird. Nach fünf Minuten sind sie auf den Weg in Mels und
Janes Wohnung, doch nach diesem Besuch sollten achtunddreißig Jahre
verstreichen, bis sie die Chance haben, sich wiederzusehen.
52
1907. Der Himmel über New York ist wolkenverhangen. Jane, inzwischen fast
achtzig, sitzt in ihrem Sessel. Vierzig Jahre sind vergangen, seit sie ihre
Memoiren niedergeschrieben und veröffentlicht hat, und Jane staunt, wie
viel Zeit vergangen ist. Sie hatten geheiratet. Sie hatte mit Mel eine eigene
Theaterproduktion gehabt. Sie feierte ihren vierzigsten, fünfzigsten und
ihren sechzigsten Geburtstag. Ihre Tochter lebt inzwischen in Boston,
Massachusetts.
Jetzt sitzt sie in der Bar, die einst Heaven’s Gate hieß, und
lässt sich einen Kaffe schmecken. Sie hat ihren Stock an den Tisch
gelehnt, und redet mit einem der wenigen verbliebenen Freunde, die sie noch
von früher her kennt. Floyd ist Ende siebzig, erfreut sich aber noch
immer an dem ein oder anderen kühlen Bier.
„Nach so langer Zeit, kann man ja erwarten, dass es dir hier
gefällt“, sagt Floyd und trinkt einen Schluck.
„Ja, aber ich träume davon zurückzukehren“, sagt Jane.
„Die Zeit drängt.“
„Deine Kinder arbeiten noch?“ fragt er.
„Ja. Timothy müsste aber bald Schluss haben“, erwidert Jane.
Plötzlich gesellt ein Mann zu ihnen an den Tisch.
„Ein Telegramm aus West Virginia“, sagt er. Jane streckt die Hand
aus und der Fremde übergibt ihr das Papier.
„Und?“ fragt Floyd, nachdem Jane es sich durchgelesen hat.
„Jim und Jeff wollen, dass ich komme“, sagt sie. „Sie und
ihre Familien würden mich alle am Bahnsteig erwarten. Wir hatten das
schon länger besprochen, weißt du?“ Als Jane nach Hause geht,
atmet sie die Luft ein, die sie schon seit über vierzig Jahren kennt. Ja,
sie mag sich mit New York angefreundet haben. Sie mag diese Stadt inzwischen
sogar lieb gewonnen haben, aber was spricht dagegen, die letzten Jahre auf dem
Land zu verbringen? Ein Telefon hat Jane nie besessen und soweit sie
weiß, haben auch Jim und Jeff nie eins gehabt. Ihre Kinder haben immer
wieder versucht, sie zu einem Kauf eines Telefons zu bewegen. Doch nachdem es
zwei Wochen lang unberührt bei ihr im Haus herumgestanden hatte, gaben
sie schließlich auf. Zuhause wartet Timothy bereits auf Jane.
„Was ist los, Tim? Ich dachte, du bist noch bei der Arbeit“, sagt
Jane.
„Seth ist tot, Jane. Wir haben es während der Proben
erfahren“, sagt Timothy. Jane setzt sich zu ihn. „Wie ist das denn
passiert?“
„Er hat doch leidenschaftlich gerne elektrische Geräte
zusammengebastelt“, sagt er, „und dabei hat er einen Stromschlag
abbekommen.“
Nach einer Pause sagt Jane: „Ich habe heute ein Telegramm von Jim und
Jeff erhalten. Sie wollen mich sehen und wenn ihr Lust habt, könnt ihr
mitkommen. Ich meine, du würdest sowieso drauf bestehen, mich zu
begleiten.“
„Ja, nur gerade sieht es zeitlich ziemlich schlecht aus“, sagt
Timothy.
„Und was ist mit Jane?“
„Sie könnte sich frei nehmen, aber es ist ein weiter Weg von
Massachusetts bis hierher und dann noch nach West Virginia.“, erwidert
Timothy. „Ich kann ja mal Tracy fragen, ob sie kann.“
„Wie geht es ihr eigentlich?“ fragt Jane.
„Gut. Ich soll dir liebe Grüße ausrichten“, sagt
Timothy.
„Wie lange seit ihr jetzt schon zusammen?“
„Zwei Jahre, Jane“, sagt Timothy.
„Tut mir leid, dich werde langsam etwas vergeßlich“, sagt
Jane.
Das einzige, was Jane manchmal macht, um größere Strecken
zurückzulegen, ist, sich von Timothy mit seinem neuen Automobil durch die
Gegend fahren zu lassen. An diesem frühen Abend ist sie auf dem Weg ins
Telegrafenamt, um Jim und Jeff Bescheid zu geben, dass sie in etwa einer Woche
kommen würden. Timothy hatte seine Freundin Tracy gebeten Jane und Mel
zum Bahnhof zu bringen, da er die ganze Zeit am Theater sein müsse. Im
Telegrafenamt warten auch ein paar Leute, um Nachrichten zu verschicken. Mel
ist mitgekommen und sieht sie an.
“Sicher, dass du das willst?“ fragt er.
„Nein. Aber ich will bei ihnen sein. Jim ist krank und ich möchte
für ihn da sein. Es ist keine einfache Entscheidung, Mel. Timothy“,
sagt Jane. Als Jane an der Reihe ist, gibt sie den Zettel mit der darin
enthaltenen Nachricht dem Ticker, der diese weiterleitet. Auf dem
Rückweg bemerkt Jane, dass Timothy etwas loswerden will.
„Raus damit“, fordert sie ihn auf.
„Ich werde sofort meinen Mund halten, wenn du das wünscht. Aber
jedesmal, wenn man dich erreichen will, muss man hierher rennen“, sagt
er.
„Das ist wohl das einzige, was ich nicht hinter mir lassen kann“,
sagt Jane.
„Es gibt viele Dinge die du nicht hinter dir lassen kannst“,
bemerkt Timothy.
„Komm erst mal in mein Alter“, verteidigt Jane sich.
„Es gibt manche, die den Übergang schaffen“, antwortet der
Stiefsohn.
„Ich kam einst her“, sagt Jane, „weil ich wusste, dass es
irgendwann an der Zeit ist, dem Fortschritt ins Auge zu sehen. Aber es gibt
Dinge, die ich bis heute noch nicht verstanden habe und die ich auch sicher
niemals verstehen werde.“ sagt sie. Den Rest der Fahrt schweigen sie und
als sie in ihrer Wohnung angekommen sind, hilft Timothy, der für den
Fall, dass ihnen etwas passieren sollte, bei seinen Eltern eingezogen ist,
Jane aus dem Automobil.
Bis sie Anfang sechzig war, pendelte sie noch zwischen der Bar und ihrer
Wohnung hin und her. Mittlerweile ist sie seltener dort und wenn Jane nicht in
der Bar ist, sitzt sie in dem Sessel und gönnt sich noch ab und zu ein
Glas Whiskey, wenn auch nicht mehr so oft wie früher. Timothy leistet ihr
oft Gesellschaft und manchmal trinkt er sogar ein Glas mit. Und Mel, der Jane
versprochen hatte, mit ihr nach Virginia zu gehen, leistet ihr ständig
Gesellschaft. Er übernimmt die Aufgaben, die sie nicht mehr schafft und
umgekehrt.
An diesen Morgen scheint die Sonne. Jane und Mel sitzen wie gewohnt am
Frühstückstisch und trinken ihren Kaffe. Timothy hat sich ein Ei
gekocht und sitzt mit ihnen am Tisch. Nach dem Frühstück räumt
er ab und etwa eine halbe Stunde später kommt Tracy.
“Hast du alles, Jane?“ fragt sie.
„Ja. Kann ich euch alleine lassen?“ lächelt Jane und sieht zu
Timothy.
„Als erstes kaufen wir uns ein Telefon“, sagt er.
„Ich will euch dabei nicht im Wege stehen“, lacht Jane.
„Keine Sorge, das hast du nie gemacht“, lacht Timothy zurück
und zusammen verlassen sie, nachdem Jane sich herzlichst von ihren Stiefsohn
verabschiedet hat, das Haus. Jane, heute in einem Rock, einer Brille und
breitkrempigen Hut, und Tracy, im Kleid und einen kleinen Hut.
„Ihr seid bestimmt froh, dass ihr meine penetrante Verweigerung nicht
mehr ertragen müsst“, sagt Jane auf dem Weg zum Bahnhof.
„Nein“, sagt Tracy. „Du bist nicht einfach, das stimmt. Aber
du wirst uns trotzdem fehlen.“
„Ich werde euch auch vermissen“, sagt sie. Am Bahnhof steigen sie
aus, wobei Jane sich einerseits auf ihren Stock stützt und sich
anderseits bei Mel unterhakt. Tracy hilft Jane und Mel noch ihre Koffer in das
Abteil zu bringen, danach verabschieden sie sich für immer.
„Vergesst uns nicht ganz“, sagt Tracy.
„Niemals“, sagt Mel und Jane drückt ihr noch einen Kuss auf
die Wange. Und am Ende einer langen Zugfahrt wird sie die Männer
wiedersehen, die sie ihrer Zeit zu ‚Shotgun Jane‘ machten.
Die zwei Gentlemen, die am Bahnsteig auf sie warten, hätte Jane
übersehen, wenn einer von ihnen sie nicht wiedererkannt hätte.
„Jane!“ ruft Jeff, ebenfalls auf einen Stock gestützt. Sie
dreht sich zu der Stimme um.
„Ja?“ sagt sie.
„Ich bin’s, Jeff.“
„Jeff!“ ruft Jane aus und kommt auf die beiden zu. „Dann ist
das da Jim.“
„Ja“, sagt Jim und hustet. Sie sind zwar in Janes Alter, aber
Jane findet, dass ihnen diesen Alter steht.
„Mel“, sagt Jeff.
„Ja, richtig. Es ist lange her“, sagt er.
„Das ist mein Sohn Melvin“, sagt Jeff und der Mann, der neben ihn
steht, reicht ihnen die Hand.
„Freut mich“, sagt er.
„Mich auch“, antwortet Jane.
„Jim hier hat sich auch zähmen lassen“, sagt Jeff.
„Das ist …“, er hustet erneut, „meine bessere
Hälfte, meine Frau Mary und meine Tochter Clara“, sagt Jim.
„Was sagt eigentlich deine Verwandtschaft dazu, dass du sie verlassen
hast?“
„Die haben jetzt ihre Ruhe, schätze ich“, lacht Jane und
wieder vereint verlassen sie den Bahnhof.
Nachdem Melvin die Koffer ins Automobil geladen hat, sind sie ein paar
Augenblicke später auf den Weg zur Clarence-Ranch, die jetzt von den
Kinder geführt wird. Da Jim und Jeff über die Jahre Schreiben
lernten sie sich immer mal wieder Telegramme geschrieben haben, gibt es nicht
viele Neuigkeiten zu berichten, während sie auf den Weg zur Ranch sind.
Als sie an der Ranch angekommen und alle ausgestiegen sind, geht Jane sofort
ans Grab von Bill.
„Hallo, Bill“, sagt Jane. Sie hält sich an Mels Arm fest und
ringt nach Fassung.
„Jedesmal wenn wir hier vorbeikommen, legen wir etwas hier
nieder“, lächelt Jeff. Mel holt ein Stofftuch raus und beugt sich
runter.
„Nicht gerade das, was man einem Verstorbenen aufs Grab legen
würde, aber immerhin“, sagt er.
„Hat er mir jemals verziehen?“ fragt Jane.
„Ja. Auch wenn es ihm anfangs schwergefallen ist“, sagt Jeff und
Jim hustet wieder.
„Das hört sich nicht gut an“, meint Jane.
„Niemand kann etwas dagegen tun“, erwidert Jim und nach einer
Weile des Innehaltens gehen sie ins Haus.
„Trinkst du noch?“ fragt Jeff.
„Ein wenig“, sagt Jane. Jim holt die Flasche und sie stoßen
an. Bis an ihr Lebensende wird Jane sich fragen, wer sie ist. Doch die Jahre
vergehen und für Jane scheint sich der Kreis endlich geschlossen zu
haben. Sie ist froh, die Zeit, die ihr noch bleibt nicht in der Stadt, sondern
mit Mel bei Jim und Jeff zu verbringen.
Eines Abends verabschiedet sie sich von den anderen und geht zu Bett. Sie wird
nicht wieder aufwachen. Zu diesem Zeitpunkt war Mel bei ihr und folgte Jane
ein halbes Jahr später. Jim stirbt nach einem kurzem Kampf im Beisein
seiner Familie. Jeff war in diesem Moment nicht auf der Ranch. Er lebt am
längsten, doch Jahre später stirbt auch er und mit ihm eine
Generation, die längst der Vergangenheit angehört.
53
Zehn Jahre darauf, macht sich eine achtköpfige Gruppe auf den Weg zur
ehemaligen Clarence-Ranch. Sie kommen aus Kentucky und haben den ganzen Weg zu
Pferd zurückgelegt. Sie schliefen, genau wie die Clarence vor ihnen,
unter den Sternen. Sie aßen dort. Sie jagten dort, aber sie waren,
anders als ihre Vorbilder, nie auf der Flucht. Sie hörten die alten
Geschichten und waren sofort wie elektrisiert davon. Die letzte Station vor
ihrem Ziel ist die Stadt, die in der Nähe der Ranch liegt. Weit vor der
Stadt, mitten im Nirgendwo machen sie zum Schlafen halt und entzünden ein
Feuer; es ist ein vertrauter Anblick, die Männer so um ihr Feuer sitzen
zu sehen und Whiskey rumgehen zu lassen.
Dann sind sie da. Die Ranch ist verlassen aber nicht verwildert. Junge
Menschen, wie diese acht Reisenden, sorgen dafür, dass die Ranch immer
bewohnt bleibt und die Gräber immer gepflegt. Manchmal entstehen aus
solchen zufälligen Begegnungen Freundschaften, die ein Leben lang
anhalten, manchmal aber ach nur nette Abende mit Gesang, Gelächter und
Unterhaltungen. Einige sind still, andere laut. Einige trinken, andere beten,
aber alle hinterlassen etwas, das anderen Reisenden zeigen soll, dass jemand
schon hier war. Die Kinder von Jim und Jeff hatten die Ranch verkaufen oder
abreißen wollen, hatten sich dann aber dagegen entschieden und den
Dingen ihren Lauf gelassen. Die acht Reisenden bleiben eine Nacht. Sie
hinterlassen nichts ausser einem Eindruck davon, das es Dinge gibt, die
über den Tod hinaus bestehen bleiben und als die Sonne am Himmel steht,
packen die Reisenden ihre Sachen.
Meine Gedanken galten stets Calamity Jane, ohne die ich niemals angefangen
hätte, diese Geschichte zu schreiben.
Texte: © Copyright by Romy Krug
Umschlaggestaltung: © Copyright by Romy Krug
Verlag:
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40215 Düsseldorf
romykrug@hotmail.de
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Veröffentlicht auf e-Stories.de am 14.07.2020.
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